- Gastarbeiterroute
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Gastarbeiterroute ist die in den 1970er Jahren entstandene umgangssprachliche Bezeichnung für die ehemalige Europastraße 5 (E5) zwischen München und Istanbul beziehungsweise Thessaloniki. Es handelte sich dabei um die bevorzugte Autoreiseroute von südosteuropäischen Gastarbeitern in deren Heimatländer zu Urlaubszeiten.
Auf dieser Route sorgten ab etwa 1970 Gastarbeiterströme hauptsächlich zu Beginn der Sommerferien, zu Weihnachten und zu Ostern für Chaos besonders auf den österreichischen und jugoslawischen Straßen, die damals nicht für den Transit von jeweils rund 2 Millionen Personen innerhalb weniger Tage ausgelegt waren. Die Gastarbeiterroute führte vielfach durch enge Dörfer und Städte; Ortsumfahrungen und Autobahnausbau befanden sich zumeist noch im Planungsstadium. Über viele Jahre verzeichnete die Strecke enorme Staus und hohe Verkehrsopferzahlen.
Inhaltsverzeichnis
Verlauf
Die Gastarbeiterroute führte von München nach Salzburg, von dort über Bischofshofen – Radstadt – Liezen – Leoben – Bruck an der Mur und Graz nach Spielfeld an die damals jugoslawische Grenze, somit vielfach durch enge Alpentäler, aber als einzige Alpentransitstrecke über keinen nennenswerten Pass. In Jugoslawien verlief die Gastarbeiterroute von der Grenze nach Maribor und weiter über Zagreb nach Niš. Dort teilte sich die Route und führte einerseits südwärts über Skopje und Evzoni nach Thessaloniki in Griechenland und andererseits ostwärts entlang der antiken Via Militari über Bulgarien in die Türkei nach Istanbul. Der gesamte Verlauf entspricht den heutigen Europastraßen E 52 – 55 – 651 – 57 – 59 – 70 – 75 bzw. 80.
Der südlich von Österreich verlaufende Streckenabschnitt wurde und wird teils noch heute als „Autoput“ bezeichnet.
Geschichte und regionale Problematiken
Nachdem die erste Generation von Fremdarbeitern in den späteren Nachkriegsjahren, dem Übergang der Wiederaufbauzeit zum Wirtschaftswunder, vorrangig aus Italien und der Iberischen Halbinsel gekommen war, wurden ab den 1960ern besonders die Länder im Südosten Europas und zunehmend auch die Türkei beworben. Im Transitverkehr von dort in die nordwesteuropäischen Industriezentren in Deutschland, den Benelux-Ländern, dem Norden Frankreichs (der sich entwickelnden EWG), bis nach England und Skandinavien, bildeteten die blockfreien Länder Österreich und Jugoslawien das Nadelöhr entlang des eisernen Vorhangs. Fernstraßenzüge waren durch den Zerfall der Habsburgermonarchie, die beiden Kriege mit der Besatzungszeit und die Teilung Europas im kalten Krieg nicht auf diesen Nordwest–Südost-Transit ausgelegt.
Erstmals trat das Phänomen der Überlastung zu Weihnachten 1969 auf, als ein Massenverkehrsaufkommen, mit Eis und Schnee, die Behörden unvorbereitet traf. Am österreichisch-jugoslawischen Grenzübergang Spielfeld/Šentilj brachen im Stau Unruhen aus, sodass das österreichische Bundesheer mit 120 Mann ausrücken musste, um für Ordnung zu sorgen.[1] In den folgenden Jahren wurde die Überlastung der Strecke kontinuierlich stärker. An Spitzentagen wurden bis zu 40.000 Fahrzeuge gezählt. Mangelhaft verkehrstaugliche, schwer überladene Fahrzeuge und übermüdete Fahrer führten zu nie da gewesenen Unfallzahlen. Um 1975 waren Österreich und Jugoslawien europaweit die Länder mit den meisten Unfalltoten,[1] auf der Gastarbeiterroute starben zu den Urlaubszeiten jährlich mehr Menschen als auf allen deutschen Autobahnen zusammen.[1]
Die Lage begann sich erst in den späteren 1980er Jahren zu entspannen, als zum einen der Urlauberpendelverkehr durch die zunehmende Integration der Gastarbeiter und die mangelhafte technische Ausrüstung durch den höheren Lebensstandard abnahm und zum anderen dann mit dem Ende des Ostblocks ab 1989 der gemeinschaftliche Ausbau der europäischen Straßen- und Schienen-Fernverbindungen im Rahmen der Europäischen Union forciert wurde. Der Ausbruch der Jugoslawienkriege 1991 brachte das Ende der klassischen Gastarbeiterroute, als eine Ausweichstrecke über Wien, Ungarn und Rumänien beziehungsweise über Italien und Fähre nach Griechenland entstand. Nach Ende der Jugoslawienkriege und mit dem Beitritt Ungarns, Rumäniens und Bulgariens in die EU hat sich die wirtschaftliche und soziale Situation in Europa so grundlegend verändert, dass die typischen Verkehrsprobleme der Gastarbeiterroute seither nicht mehr auftreten.[2]
Deutschland
„Nadelöhr“ der Strecke war die Ortsdurchfahrt von München, wo sich, da es noch keinen Autobahnring um die Stadt herum gab, der gesamte Verkehr durch die Innenstadt über den Stachus "quälen" musste. Dieser galt zur damaligen Zeit als verkehrsreichster Platz Europas. Hier trafen sich die Verkehrsströme aus Hamburg, Berlin, Frankfurt mit denen aus Karlsruhe und Stuttgart und somit der gesamte Reiseverkehr aus Deutschland, Nordfrankreich, den Beneluxländern, England und Skandinavien. Die Folge davon waren oft kilometer- und stundenlange Staus. Von hier bis zum Inntal-Dreieck Richtung Brennerpass mischte sich auch der Südosteuropa-Transit mit dem zeitgleichen Urlaubsverkehr Richtung Italien. Zwar war die Strecke bis an die österreichische Grenze am Walserberg als Autobahn (Autobahn A 8) ausgebaut, aber – streckenweise bis heute – nur im zweispurigen Originalausbau der 1930er Jahre und ohne Pannenstreifen. Mit dem Irschenberg und der Zollkontrolle am Walserberg befanden sich auch hier Problemzonen.
Heutige Situation
Heute wird der Fernverkehr großzügig über den Autobahnring um die Münchner Innenstadt herumgeleitet. Der Südosteuropa-Transit hat sich aber insgesamt mehr auf die Bundesautobahn 3 Fürth/Erlangen–Passau und dann weiter über Wels und Graz verlagert.
Österreich
In Österreich bestand diese Fernstraße bis in die beginnenden 1980er Jahre nahezu ausschließlich aus Bundesstraßen. Der steirische Abschnitt war als der gefährlichste Teil dieser Strecke zu sehen: Auf 330 Kilometern ereigneten sich durchschnittlich mehr als 5000 Verkehrsunfälle pro Jahr. Die Österreichische Gesellschaft für Straßenwesen stellte fest, dass „ein Drittel aller Gefahrenstellen der österreichischen Straßen auf der Gastarbeiterstrecke lag“.[1] Als der unfallträchtigste Abschnitt galt dabei die 1965 erbaute Leobener Umfahrung, wo beispielsweise zwischen 1965 und 1975 auf einer Länge von 12 Kilometern 62 Tote und 178 Schwerverletzte zu verzeichnen waren. Die Zeitschrift Der Spiegel bezeichnete die Leobener Umfahrung in einem Artikel aus dem Jahr 1975 daher als „Massengrab für Autofahrer“.[1] Das nahegelegene Unfallkrankenhaus in Kalwang war mit 70 Betten durch die Unfälle auf der Gastarbeiterroute ausgelastet. Ein Teil des Friedhofs in Kalwang war für die ausländischen Unfallopfer der B113 bestimmt, es finden sich dort heute noch einige Gräber von verunglückten Gastarbeitern. 1974 wurden 36 verunglückte türkische Gastarbeiter auf diesem Friedhof begraben.
Ein weiteres, damals sehr gefährlich zu befahrenes Teilstück war die damalige Schoberpass-Bundesstraße. Diese Gefahrenstelle wurde bereits 1973 vom Kuratorium für Verkehrssicherheit in einer Expertise hervorgehoben. Die leichte Steigung führte bei den meist überladenen Fahrzeugen zu weit gedehnten Überholwegen, die sich in schwersten Frontalzusammenstößen auswirkten. Am 9. September 1974 starben an dieser Stelle bei einem einzigen Unfall durch rücksichtsloses Überholen 10 Personen. Dieser war der 154. Unfall auf der Schoberpass-Bundesstraße – 108 Unfälle wurden von ausländischen Lenkern auf der Durchreise verursacht.
Die damalige Streckenführung enthielt im Ennstal und von Leoben südwärts zahllose Ortsdurchfahrten. Für die Anrainer war ein gefahrloses Überqueren der Straße in Spitzenzeiten nur mit Hilfe der Gendarmerie möglich, viele Fußgänger wurden Opfer des Transitverkehrs. Bei 70 % Ausländeranteil am Verkehrsgeschehen an Spitzen-Wochenenden wurden nur maximal 54 % an Ausländer-Unfallbeteiligungen registriert.[1]
Für Österreich, das gerade begann, sich als Tourismusdestination zu etablieren, war der Transit ein enormes wirtschaftliches Problem. Die Treibstoffpreise waren höher als in Deutschland und wesentlich höher als in Jugoslawien. Die Durchreisenden waren wenig motiviert, auch nur Zwischenstopps für Essen oder gar Nächtigung einzulegen, sodass für Österreich nur Kosten entstanden. Aufgrund noch nicht vorhandener entsprechender internationaler Abkommen konnten Verkehrsübertretungen kaum geahndet werden, sodass zeitweise an der Strecke mobile Schnellgerichte eingesetzt wurden.[1] 1975 erregte ein Fall Aufsehen, in dem ein Gendarm angefahren und schwer verletzt wurde; der Unfalllenker hatte im Schnellverfahren 700 Mark (ca. 350 €; Umrechnung ohne Zeitwert) zu hinterlegen. Der Verkehrsbeamte verstarb eine Woche später, ohne dass der Fahrer nachträglich belangt werden konnte.[1] Auch konnten die zahlreichen nicht verkehrssicheren Fahrzeuge kaum aus dem Verkehr gezogen werden, da andernfalls mit dem Gebrauch noch schlechterer Fahrzeuge gerechnet werden musste. Ein Weitertransport oder eine Unterbringung der Personen seitens der Behörden hätte zudem jegliche Infrastruktur überfordert.
Übermüdung und die mangelnde Verkehrsdisziplin der durchreisenden Gastarbeiter sowie deren technisch zumeist mangelhaften Fahrzeuge führten nahezu täglich zu schwersten Frontalzusammenstößen. Das österreichische Kuratorium für Verkehrssicherheit startete deshalb im Jahr 1972 eine Verkehrserziehungskampagne unter dem Titel Helfen wir Kolaric![3], um den Gastarbeitern ein verbessertes Verkehrsbewusstsein nahebringen zu können, denn die Fahrausbildung war in den Herkunftsländern zur damaligen Zeit äußerst mangelhaft. Weiters wurden im Laufe der Zeit zahlreiche Risikostellen wie Steigungen und Kurven, aber auch Rastmöglichkeiten im ländlichen Österreich in serbokroatisch, griechisch und türkisch ausgeschildert[4] sowie Flugblätter in neun Sprachen (bis zu Persisch) verteilt, was jedoch ohne sonderlichen Erfolg blieb.[1]
Zudem hinterließen die Gastarbeiter auf ihrem Weg enorme Müll- und auch Fäkalienmengen, ein Umstand, der das tolerante Verhältnis der Fortschrittsjahre seitens der Einheimischen zu den – noch dazu „deutschen“ – „Tschuschen“ zunehmend in Fremdenfeindlichkeit umschlagen ließ.[1]
In den 1960ern und 1970ern hatte Österreich sich auf den Ausbau der Strecken nach Italien, also besonders der Brennerautobahn, der Tauernautobahn und der Südautobahn, konzentriert, um auf den Italientourismus zu reagieren. Der Ausbau der Südostdiagonale war lange als nachrangig eingestuft worden. Sitzstreiks mit Straßenblockaden (1974 in Wildon und 1977 in Peggau) sollten den Ausbau der projektierten Umfahrungsstraßen beschleunigen. Die A9 Pyhrn Autobahn wurde auf steirischer Seite bis in die späten 1980er Jahre weitgehend fertiggestellt. Da es aber nördlich des Pyhrnpasses auf der oberösterreichischen Seite bis in die 1990er Jahre zu Anrainerprotesten kam, konnten sich die Verkehrsströme der Gastarbeiter nicht von der Salzach-Enns-Achse auf die Westautobahn verlagern. Das obere Ennstal zwischen Flachau und Liezen, die Ennstal Bundesstraße, blieb bis zum Ende der Gastarbeiterroute der Engpass schlechthin. Auch Umleitungsversuche über den Pötschenpass im Salzkammergut oder über die Bundesstraße über den Pyhrnpass führten spätestens bei Liezen wieder zusammen.
Letzte Problemstelle in Österreich war der Grenzübergang in Spielfeld: Die Abfertigungsgeschwindigkeit der Zöllner der damaligen Ostblockstaaten war äußerst gering und lag auch bei den jugoslawischen Behörden bei durchschnittlich etwa 20 Fahrzeugen pro Minute und damit deutlich unter dem Verkehrsaufkommen. Um Weihnachten 1974 waren 70 Kilometer Stau – von der Grenze bis zurück in die steirische Hauptstadt Graz – mit 30 Stunden Wartezeit zu verzeichnen.[1]
Heutige Situation
Der Transit nach Südosteuropa führt heute nicht mehr über die Autobahn München – Salzburg, Tauernautobahn und Ennstal, sondern vorrangig über Passau, Innkreisautobahn A8 mit Welser Westspange und die Pyhrn Autobahn nach Spielfeld. Somit ist die Strecke zur Gänze als Autobahn ausgebaut. Eine Routenvariante führt über Wien und die mittlerweile auch in Ungarn gut ausgebauten Weiterverbindungen (etwa Europastraße 60 und 65).[5] Mit dem Vollausbau hat dieses als schicksalsträchtig empfundene Kapitel der österreichischen Verkehrsgeschichte in den 1990er Jahren sein Ende gefunden. Nur die Ennstal Straße gilt auch heute noch als unfallträchtig und gefährlich. Eine politische Lösung für einen Vollausbau dieses Abschnitts wurde noch nicht erreicht.
Die Gastarbeiterroute ist nur mehr zum Teil in seiner ursprünglichen Form befahrbar. Von Radstadt bis St. Michael bei Leoben kann man die Strecke zum größten Teil noch so befahren, wie sie sich zu der Zeit, umgangssprachlich als „Todesstrecke“ bezeichnet, dargeboten hat. Es handelt sich heute um die teilweise zu den Fernwegen parallel geführten, rückgebauten Lokalverbindungen. Reste von Infrastruktur und Beschilderung sind entlang der Strecke aber noch zu finden.
Siehe auch
- Österreichische Grenzübergänge in die Nachbarstaaten, zur Geschichte des Transits in Österreich
Literatur
- E 5: Terror von Blech und Blut. In: DER SPIEGEL. Nr. 35/1975, SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein, 25. August 1975, S. 92 ff (Webtext).
Weblinks
- www.gastarbeiterroute.com, Webseite zum steirischen Teil der Gastarbeiterroute von 1965–1985
- Peter Payer: Grenzübergang Spielfeld-Straß 1972 – Gastarbeiterroute. Station in: Initiative Minderheiten, Wien Museum: Gastarbajteri. Virtuelle Ausstellung zur Ausstellung 40 Jahre Arbeitsmigration. Wien Museum Karlsplatz 2004
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f g h i j k Lit. DER SPIEGEL 35/1975
- ↑ Weblink Payer: Grenzübergang/Gastarbajteri
- ↑ Verkehrserziehung. Inserat zur Bestellung von Flugblättern und Plakaten. In: Auto-Touring. Nr. Juni/Juli 1972 (Die österreichische Kraftfahrzeitung. Offizielles Organ des ÖAMTC, Webrepro, in: Weblink Gastarbajteri, abgerufen am 19. Januar 2010).
- ↑ mehrsprachige Warntafeln entlang der „Gastarbeiterroute“. In: Weblink Gastarbajteri
- ↑ Die A8 hatte mit 2009 das erste Mal ein höheres Verkehrsaufkommen als die A1 im Abschnitt Salzburg–Wels.
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