Gewöhnliche Differentialgleichung

Gewöhnliche Differentialgleichung

Eine gewöhnliche Differentialgleichung (oft abgekürzt mit ODE, englisch ordinary differential equation) ist eine Differentialgleichung, bei der zu einer gesuchten Funktion nur Ableitungen nach genau einer Variablen auftreten.

Viele naturwissenschaftliche Modelle nutzen gewöhnliche Differentialgleichungen, um Vorhersagen zu ermöglichen.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft

Differentialgleichungen werden oft benötigt, um Vorgänge in der Natur zu beschreiben, bei denen das Änderungsverhalten von Größen verglichen wird.

Die ersten Differentialgleichungen waren die der gleichmäßigen und gleichmäßig beschleunigten Bewegung. Im Jahr 1590 erkannte Galileo Galilei den Zusammenhang zwischen der Fallzeit eines Körpers und seiner Fallgeschwindigkeit sowie dem Fallweg und formulierte (noch) mit geometrischen Mitteln das Gesetz des freien Falles.

Als Isaac Newton auch Bewegungen unter zum Betrag oder Quadrat der Geschwindigkeit proportionaler Reibung betrachtete, war er genötigt, die Differentialrechnung und den heute geläufigen Formalismus der Differentialgleichungen einzuführen.

Durch die exakte Formulierung des Grenzwertbegriffes, der Ableitung und des Integrals stellte schließlich Augustin Louis Cauchy im 19. Jahrhundert die Theorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen auf ein festes Fundament und machte sie somit vielen Wissenschaften zugänglich.

Das wissenschaftliche Interesse an Differentialgleichungen ist im Wesentlichen darin begründet, dass mit ihnen auf Grund vergleichsweise einfacher Beobachtungen und Experimente vollständige Modelle geschaffen werden können.

Nur wenige Typen von Differentialgleichungen lassen sich analytisch lösen. Trotzdem lassen sich qualitative Aussagen wie Stabilität, Periodizität oder Bifurkation auch dann treffen, wenn die Differentialgleichung nicht explizit gelöst werden kann. Eines der wichtigsten Hilfsmittel für skalare Differentialgleichungen sind Argumente mittels eines Vergleichssatzes.

Allgemeine Definition

Seien \Omega \subseteq \mathbb{R} \times (\mathbb{R}^m)^{n+1}, n\in\N und f:\Omega\rightarrow\mathbb R^m eine stetige Funktion. Dann heißt

f\left(x,y,y',y'',\ldots,y^{(n)}\right)=0

ein gewöhnliches Differentialgleichungssystem n-ter Ordnung von m Gleichungen. Im Fall m = 1 nennt man dies eine gewöhnliche Differentialgleichung n-ter Ordnung.

Ihre Lösungen sind n-mal differenzierbare Funktionen y:I\rightarrow\R^m, welche die Differentialgleichung auf einem zu bestimmenden Intervall I\subset\mathbb{R} erfüllen. Sucht man eine spezielle Lösung, welche zu gegebenen x_0 \in I und y_0, \ldots, y_{n-1} \in \mathbb{R}^m zusätzlich

y(x_0) = y_0,\;y'(x_0) = y_1, \ldots, y^{(n-1)}(x_0) = y_{n-1}

erfüllt, so bezeichnet man dies als Anfangswertproblem.

Kann die Differentialgleichung nach der höchsten vorkommenden Ableitung aufgelöst werden und hat somit die Form

y^{(n)} = f\left(x,y,y',y'',\ldots,y^{(n-1)}\right)\ ,

so heißt sie explizit, andernfalls implizit; siehe auch Satz von der impliziten Funktion.

Existenz und Eindeutigkeit

Ob überhaupt eine Lösung existiert, lässt sich anhand einiger Kriterien erkennen. Die Differentialgleichung selbst reicht im Allgemeinen nicht aus, um die Lösung eindeutig zu bestimmen.

Beispielsweise ist der grundsätzliche Bewegungsablauf aller schwingenden Pendel gleich und kann durch eine einzige Differentialgleichung beschrieben werden. Der konkrete Bewegungsablauf ist jedoch durch die Rand- oder Anfangsbedingung(en) (wann wurde das Pendel angestoßen, und wie groß ist die Anfangsauslenkung) bestimmt.

Die lokale Lösbarkeit von Anfangswertproblemen bei gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung wird durch den Satz von Picard-Lindelöf und den Satz von Peano beschrieben. Aus der Existenz einer lokalen Lösung kann man in einem zweiten Schritt auf die Existenz einer nicht-fortsetzbaren Lösung schließen. Mit Hilfe des Satzes vom maximalen Existenzintervall kann man darauf aufbauend von dieser nicht-fortsetzbaren Lösung dann gelegentlich Globalität nachweisen. Die Eindeutigkeit bekommt man als Anwendung der grönwallschen Ungleichung.

Reduktion von Gleichungen höherer Ordnung auf Systeme erster Ordnung

Gewöhnliche Differentialgleichungen beliebiger Ordnung lassen sich immer auf ein System von gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung zurückführen. Hat eine gewöhnliche Differentialgleichung die Ordnung n, so führt man dazu die folgenden Hilfsfunktionen ein

\begin{align}
    y'_1 & = y_2\\
    y'_2 & = y_3\\
         & \ \,\vdots\\
y'_{n-1} & = y_n\\
y'_n     & = f(x,y_1,y_2,\ldots,y_n)\ .
\end{align}

Dadurch erhält man ein System von n gewöhnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung. Umgekehrt kann man aus manchen Differentialgleichungssystemen eine einzige Differentialgleichung höherer Ordnung ableiten.

Beispiele

\dot N \sim N
Dieses besagt, dass bei einer Menge instabiler Atome die Anzahl der zerfallenden Atome von der gesamten Anzahl N der vorhandenen Atome proportional abhängt.
  • Eine wichtige Klasse weiterer Differentialgleichungen bilden die newtonschen Bewegungsgleichungen:
m \cdot \ddot{\vec{r}}(t) = \vec{F} \left(\vec{r}(t),t\right)
Durch die Kenntnis der von der Zeit t und der Position r eines Teilchens abhängenden Kraft F, treffen diese Gleichungen Aussagen über die Bewegung des Teilchens selbst.
  • Neben einfachen Zusammenhängen der Änderungen einer einzelnen Größe lassen sich aber auch Vorhersagen über mehrere Größen in einem System treffen. In etwa die Lotka-Volterra-Gleichungen der Ökologie:
\dot r = Z_r r b - M_r r
\dot b = Z_b b - M_b r b
Dieses System beschreibt die zeitliche Veränderung der Räuberpopulation r und der Beutepopulation b bei konstanten natürlichen Geburtenraten Z und Sterberaten M. Einige wichtige Eigenschaften dieses Modells lassen sich in Form der sogenannten Lotka-Volterra-Regeln zusammenfassen. Dieses und ähnliche Systeme finden in der theoretischen Biologie auch zur Beschreibung von Ausbreitungsprozessen und in Epidemiemodellen breite Anwendung.

Spezielle Typen von Differentialgleichungen

Den bekanntesten Typ der gewöhnlichen Differentialgleichungen bildet die Lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung mit:

\sum_{i=0}^n a_i(x) y^{(i)}(x) = b(x) für stetige a_i: \mathbb{R} \rightarrow \mathbb{R}.

Weitere wichtige Typen von gewöhnlichen Differentialgleichungen sind die folgenden:

y(x) = x g(y'(x)) + f(y'(x)) \,.
y'(x)=f(x)y(x) + g(x)y^\alpha(x) \, mit \alpha\neq 1.
p(x,y(x))+q(x,y(x))y'(x)=0 \,, worin das Vektorfeld (p,q) eine Potentialfunktion besitzt.
y'(x)= f\left(\frac{ax + by(x) + c}{\alpha x + \beta y(x) + \gamma}\right).
\ y'(x) = A(x)y(x) + b(x) für stetige A: \mathbb{R} \rightarrow \mathbb{R}^{m \times m} und b: \mathbb{R} \rightarrow \mathbb{R}^m \,.
y'(x) = f(x)y^2(x)+ g(x)y(x) + h(x) \,.
y'(x) = f(y(x))g(x) \,.

Autonome Systeme

Ein Differentialgleichungssystem heißt autonom, falls es von der Form

f\left(y,y',y'',\ldots,y^{(n)}\right)=0

ist.

Sei f:\mathbb{R}^m\rightarrow\mathbb{R}^m linear beschränkt und Lipschitz-stetig. Es bezeichne \varphi(\cdot,y_0) die (eindeutig bestimmte globale) Lösung von

y'=f(y)\ ,\ y(0) = y_0 \in \mathbb{R}^m\ .

Dann nennt man φ den Fluss der Differentialgleichung y' = f(y), und (\mathbb{R}, \mathbb{R}^m, \varphi) bildet dann ein dynamisches System.

Von besonderem Interesse ist der Fall n=1,\ m=2 der ebenen autonomen Systeme. Mit Hilfe des Satzes von Poincaré-Bendixson kann man oft die Existenz periodischer Lösungen nachweisen. Ein wichtiges ebenes autonomes System bildet das Lotka-Volterra-Modell.

Da die Poincaré-Bendixson-Theorie zentral auf den jordanschen Kurvensatz aufbaut, sind höherdimensionale Analoga falsch. Insbesondere ist es sehr schwierig, periodische Lösungen höherdimensionaler autonomer Systeme zu finden.

Numerische Verfahren

Da sich gewöhnliche Differentialgleichungen höherer Ordnung immer auf Systeme erster Ordnung reduzieren lassen, geht man bei der Konstruktion von numerischen Lösungsverfahren im Normalfall von einem System erster Ordnung aus:

\dot{x}(t)=f(t,x(t))    mit   x:\R \to \R^n   und   f:\R^{n+1} \to \R^n.

Es gibt zwei wichtige Klassen von numerischen Verfahren zur Lösung gewöhnlicher Differentialgleichungen, die Einschrittverfahren (insbesondere die Runge-Kutta-Verfahren) und die linearen Mehrschrittverfahren. Eine Verallgemeinerung von beiden Klassen stellen die allgemeinen linearen Verfahren (general linear Methods, abgekürzt: GLM) dar.

Literatur

  • Herbert Amann: Gewöhnliche Differentialgleichungen, 2. Auflage, Gruyter - de Gruyter Lehrbücher, Berlin New York, 1995, ISBN 3-11-014582-0
  • Bernd Aulbach: Gewöhnliche Differenzialgleichungen, Elsevier Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2004, ISBN 3-8274-1492-X
  • Martin Hermann: Numerik gewöhnlicher Differentialgleichungen, Anfangs- und Randwertprobleme, Oldenbourg Verlag, München und Wien, 2004, ISBN 3-486-27606-9
  • Harro Heuser: Gewöhnliche Differentialgleichungen, Teubner, März 2004, ISBN 3519322277
  • Edward Lincey Ince: Die Integration gewöhnlicher Differentialgleichungen, Dover Publications, 1956, ISBN 0486603490
  • Wolfgang Walter: Gewöhnliche Differentialgleichungen, Springer, 2000, ISBN 3540676422

Siehe auch


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