Investigativer Journalismus

Investigativer Journalismus

Investigativer Journalismus (von lat.: „investigare“; zu dt.: „aufspüren, genauestens untersuchen“) bezeichnet eine Form des Journalismus. Der Veröffentlichung von journalistischen Beiträgen geht dabei eine langwierige, genaue und umfassende Recherche voraus. Themen sind meistens als skandalös empfundene Verhältnisse aus Politik oder Wirtschaft. Im Englischen heißt er „investigative journalism“ oder „investigative reporting“, in den USA auch „Muckraking“.

Viele dieser Reporter erfüllen als sogenannte Vierte Gewalt im Staat eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Staatsorgane und Wirtschaftskonzerne in Demokratien (siehe auch Checks and Balances). Eine Spielart des investigativen Journalismus wird im Deutschen als Enthüllungsjournalismus bezeichnet. Darunter versteht man das Aufdecken privater Skandalgeschichten von Prominenten. Diese Form ist weniger dem klassischen investigativen Journalismus, sondern eher dem Bereich des Boulevardjournalismus zuzuordnen.

Inhaltsverzeichnis

Einordnung

Gegenstand dieser aufwändigen und hohe Ansprüche an das Können und Durchhaltevermögen stellenden Form der Berichterstattung sind meist skandalöse Vorfälle oder demokratiegefährdendes Fehlverhalten leitender Personen aus Politik und Wirtschaft. Eine Hochphase erlebte der investigative Journalismus in den 1970er Jahren in den USA, als Reporter großer Zeitungen eine Reihe von politischen Skandalen aufdeckten. Mit der Frage, ob die klassische Funktion der Besten unter den Journalisten in den USA noch bestehe und Zukunft habe, befasste sich ein umfangreicher Essay des New York Review of Books vom August 2007 unter Berücksichtigung der Plame-Affäre.[1]

Beispiele

Deutschland

Zu den frühen Vorläufern eines investigativen Journalismus in Deutschland kann man Maximilian Harden rechnen, der im Kaiserreich im Jahr 1906 die so genannte Harden-Eulenburg-Affäre aufdeckte. In der Bundesrepublik Deutschland deckte Hans Leyendecker, Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, später der Süddeutschen Zeitung, die Flick-Affäre und die CDU-Schwarzgeldaffäre auf. Weitere Beispiele sind die Kießling-Affäre, aufgedeckt von Udo Röbel, und die Barschel-Affäre, aufgedeckt vom Spiegel. Die beiden Journalisten Cerstin Gammelin und Götz Hamann legten mit Die Strippenzieher: Manager, Minister, Medien - wie Deutschland regiert wird ein aufwendig recherchiertes Buch über den Filz zwischen deutschen Ministerien, Wirtschaftskonzernlobbyismus und der interessengeleiteten Ausformulierung konkreter Gesetze vor. Mit dem Berliner "Filz" beschäftigte sich Mathew D. Rose (Berlin, Hauptstadt von Filz und Korruption, 1997, und Eine ehrenwerte Gesellschaft, 2003). Von dem Frankfurter Publizisten und Organisierte Kriminalität-Sachkundigen Jürgen Roth kam 2004 mit Ermitteln verboten! ein Reportage-Buch über die Grenzen polizeilicher Ermittlungsbemühungen heraus. Im Jahr 2006 nahm sein Buch Der Deutschland-Clan die Abhängigkeiten zwischen hochrangigen Politikern, führenden Managern und Justizbeamten ins Visier.

Sonderformen des recherchierenden Undercover-Journalismus sind die Veröffentlichungen von Leo Lania, Gerhard Kromschröder und Günter Wallraff. Leo Lania verschaffte sich 1923 in der Tarnung eines italienischen Faschisten Zugang zu Adolf Hitler und dem Völkischen Beobachter und dokumentierte seine Erfahrungen mit der frühen Nazi-Bewegung in dem Buch Die Totengräber Deutschlands (1924). Wallraff nahm pseudonyme Identitäten an, um skandalöse Verhältnisse aufzuklären. Seine Reportagen über das Innenleben der Bild-Zeitung und die Arbeitssituation von Arbeitern mit Migrationshintergrund (Gastarbeiter) in Deutschland lösten breite gesellschaftliche Debatten aus.

Weitere deutschsprachige Recherche-Journalisten:

  • Jürgen Bertram: mit seinem politischen Buch Mattscheibe - Das Ende der Fernsehkultur über Schleichwerbung;
  • Ulrike Holler Frankfurter Hörfunk-Journalistin, die jahrzehntelang Sozialberichterstattung (Kinder, Arme, Asyl, Abschiebung) recherchierte und im Hessischen Rundfunk publizierte;
  • Ernst Klee wies seit den 1980er Jahren in aufwändigen Recherchen mehrfach nach, wie NS-vorbelastete Persönlichkeiten nach Kriegsende mit Hilfe von Persilscheinen und beschönigenden Lebensläufen in der BRD wieder zu Ehren kamen;
  • Sabine Rückert, Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen, Verlag Hoffmann und Campe, erschienen im Januar 2007
  • Udo Ludwig
  • Richard Rickelmann

Österreich

Ein bekannter wie erfolgreicher Investigativ-Journalist im frühen 20. Jahrhundert war der Wiener Max Winter, der mit seinen Reportagen unter anderem eine Reform der Militärgerichtsbarkeit in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erzwang und zahlreiche soziale Missstände aufdeckte, um Verbesserungen zu fordern. Der Prager Journalist Egon Erwin Kisch machte 1913 die Spionageaffäre um Oberst Redl publik.

Aus der jüngeren Geschichte ist etwa Alfred Worm zu nennen, der unter anderem den AKH-Skandal, eine Schmiergeldaffäre im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, Ende der 1970er-Jahre aufdeckte.

Ab den 70er Jahren entwickelte sich in Österreich eine intensive Medienlandschaft im Bereich des investigativen Journalismus. Besonders das von Günther Nenning und Gerhard Oberschlick herausgegebene FORVM Magazin ließ international aufhorchen. Hans Pretterebner, der Aufklärer des Fall Lucona, brachte mit seinem TOP Magazin ebenso einige Jahre ein investigatives Magazin auf den Markt, wie Wolfgang Purtscheller mit investigativen Büchern aufhorchen ließ.

Schweiz

Ein schweizerischer Investigativ-Journalist war Niklaus Meienberg, der mit seinen Veröffentlichungen maßgeblich zur öffentlichen Diskussion nicht nur über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg beitrug.

USA

Das bekannteste Beispiel ist die Aufdeckung der Watergate-Affäre durch die amerikanischen Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein von der Washington Post. Ein weiterer bedeutender Fall war der Bericht von Seymour Hersh über das Massaker von My Lai 1968, bei dem amerikanische Soldaten über 500 Bewohner eines vietnamesischen Dorfes umgebracht hatten. Im Jahr 2004 brachte Hersh den Folterskandal um das Abu-Ghuraib-Gefängnis im Irak in die US-amerikanischen Medien.

Weitere bekannte Muckraker in den USA:

  • Nellie Bly (Elizabeth Cochrane): Ten Days in a Madhouse. - Bly ließ sich in ein psychiatrisches Krankenhaus einweisen um die skandalöse Behandlung der Insassinnen aufzudecken. In der Folge führten ihre Enthüllungen zu dramatischen Veränderungen in der finanziellen Ausstattung der Anstalten und der Überprüfung der Einweisungen, der Betreuung etc.
  • Jack Anderson (Watergate-Affäre)
  • Barbara Ehrenreich: Nickel and dimed. Undercover in low-wage USA. (deutsch: Arbeit poor) Granta Books (London), 2002
  • Helen Hunt Jackson (Indianer-Politik)
  • Michael Moore (US-Entindustrialisierung in Roger & Me, US-Schusswaffen-Amok in Bowling for Columbine, die Politik der US-Regierung in Fahrenheit 9/11 und US-Gesundheitssystem in Sicko)
  • Ralph Nader (Verbraucherschutz)
  • Upton Sinclair (u. a. Kritik an den Arbeitsbedingungen in den Chicagoer Schlachthöfen in den 1920er Jahren, dort auch eine historische Erklärung des Begriffs)
  • Gary Webb schrieb in der Artikelserie „Dark Alliance“ über die Verwicklung der CIA in den Kokainhandel
  • Alfred W. McCoy wirft der CIA in seinem Buch "The Politics of Heroin" die stille Duldung des Handels und der Komplizenschaft mit Drogenhändlern vor
  • Robert Ezra Park berichtete über die sozialen Verhältnisse in Chicago und bekam später einen Ruf an die soziologische Fakultät der University of Chicago.

Literatur

Zur Praxis des IJ

  • Johannes Ludwig: Investigativer Journalismus, Recherchestrategien - Quellen - Informanten. UVK 2002, 2. verb. u. erw. Auflage 2007, ISBN 978-3-89669-348-8
  • Ele Schöfthaler: Die Recherche – Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, Econ, Journalistische Praxis (Hg. Walther von La Roche), Berlin 2006, ISBN 3-430-20009-1. Mit umfangreichem Webangebot zu Recherche und Online-Recherche[2]
  • Klaus Stute: Investigativer Journalismus im öffentlich-rechtlichen Rundfunk: dargestellt am Selbstverständnis von Moderatoren des Bayerischen Rundfunks. Diplomarbeit der Universität Eichstätt 1987. 138 Bl.

Kritische Publikationen und Ländervergleiche

  • Kristina Boriesson (Hg.): Zensor USA. Wie die amerikanische Presse zum Schweigen gebracht wird. Pendo, 2004, ISBN 3-85842-577-X
  • Wolfgang Janisch: Investigativer Journalismus und Pressefreiheit : ein Vergleich des deutschen und amerikanischen Rechts. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998. 167 S. (Zugl.: Dissertation Rechts- und Wirtschaftswiss. Univ. Mainz, 1997) ISBN 3-7890-5316-3
  • Manfred Redelfs: Recherche mit Hindernissen: Investigativer Journalismus in Deutschland und den USA. in: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft (2003), S. [208] - 238
  • Alan Taylor: We, the media... Peter Lang, Frankfurt & New York, 2005, pp. 418 ISBN 3631518528

Siehe auch

Weblinks

Quellen

  1. Russell Baker: Goodbye to Newspapers in New York Review of Book 18. August 2007
  2. Siehe die Online-Seiten zum Buch

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