- Jerusalemer Urgemeinde
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Die Jerusalemer Urgemeinde gilt als die erste Gemeinschaft des Urchristentums. Sie bildete sich nach der Kreuzigung des Jesus von Nazaret in Jerusalem. Sie verkündete den Israeliten und allen übrigen Völkern die Auferstehung Jesu Christi, Vergebung der Sünden und Jesu Gebote, sich auf seine Wiederkunft (Parusie) und das damit verbundene Weltende vorzubereiten.
Inhaltsverzeichnis
Quellen
Das Wissen um Entstehung, Geschichte, Glauben und Gottesdienstformen der Urgemeinde stammt im Wesentlichen aus der Apostelgeschichte des Lukas, die um 100 verfasst wurde. Hinzu kommen Eigentraditionen, die Paulus von Tarsus in seine Paulusbriefe aufgenommen hat. Auch der in das Markusevangelium integrierte älteste Passionsbericht (Mk 14ff EU) wurde wahrscheinlich im Kern von Jerusalemer Urchristen verfasst.
Lukas gehörte dem Schülerkreis des Paulus an, vertrat aber schon ein stark stilisiertes, von seinen eigenen theologischen Aussageabsichten bestimmtes Geschichtsbild der zweiten Christengeneration. Er idealisierte die Urgemeinde als weitgehend harmonisch gelenkte Einheit des „apostolischen Zeitalters“ (etwa 30 bis 70), um sie als Vorbild für alle späteren christlichen Gemeinden hervorzuheben. Historische Kritik hat dieses Bild in vieler Hinsicht in Frage gestellt. Die ältere paulinische und markinische Überlieferung bestätigt die Apostelgeschichte in den Grundaussagen des christlichen Glaubens, ergänzt und korrigiert sie aber auch in wichtigen Details.
Keines der vier kanonischen Evangelien stammt aus der Urgemeinde. Sie erlauben aber Rückschlüsse auf deren Besonderheiten, wenn man ihre Angaben zur Verkündigung Jesu mit denen der Apostelgeschichte vergleicht. Indirekte Informationen zu Jerusalemer Gottesdienstformen und Ämterregeln ergeben auch nichtkanonische christliche Schriften wie die Didache, eine Art Katechismus von Judenchristen, die der Urgemeinde theologisch und ethisch nahestanden. Wichtige Einzeldaten zu ihrer späteren Geschichte stammen ferner aus außerbiblischen Quellen wie dem Testimonium Flavianum (um 90) des jüdischen Historikers Flavius Josephus sowie aus Notizen von Hegesippus (um 180), den der erste Kirchenhistoriker Eusebius von Caesarea zitierte.
Ursprung
Jesu Anhängerschaft aus Galiläa, die ihm in die Tempelstadt Jerusalem gefolgt war, zerstreute sich wohl schon nach seiner Festnahme (Mk 14,50 EU). Die meisten Jünger kehrten spätestens nach seiner Grablegung in ihre Heimatdörfer zurück, da seine Hinrichtung am Kreuz auch seine Predigt vom nahen Reich Gottes widerlegt zu haben schien (Lk 24,21 EU).
Dennoch bildeten sich im damaligen religiösen Zentrum des Judentums bald darauf erste Gemeinden – neben Jerusalem wohl annähernd zeitgleich in Galiläa und wenig später in Damaskus (Gal 1,17 EU) –, die Jesus als den Messias Israels und aller Völker verkündeten. Was die Jesusanhänger dazu bewog, liegt historisch im Dunkeln, hängt aber mit ihren Auferstehungserfahrungen zusammen.
Die Urgemeinde entstand nach der biblischen Erzählung in Apg 2 EU durch ein Wunder, die Ausschüttung des Heiligen Geistes an Pfingsten. Dieses erfüllte für die Urchristen jene Geistverheißung, die der jüdische Prophet Joel 3 EU für die Endzeit verheißen hatte. Denn mit Jesu Auferstehung begann für sie die von Israels Propheten verheißene Endzeit. Daher verkündeten sie das Pfingstwunder als Vorwegnahme der Ankunft des Gottesreichs, das alle Sprachbarrieren überwindet und alle Nationalitäten in das Lob Gottes aufgrund der durch Jesus erwirkten Sündenvergebung einstimmen lässt (Dan 7,14 EU). Demnach verstand die Urgemeinde sich als eschatologische Heilsgemeinschaft, in der die Völkerverständigung schon Realität ist und auf den verheißenen Völkerfrieden (Jes 2,2ff EU par. Mi 4,1–5 EU) vorausweist.
Mitglieder und Organisation
Die Urgemeinde bestand im Wesentlichen aus „Jüngern“ – Männern und Frauen –, die Jesus von Nazaret schon in Galiläa zu seinen Nachfolgern berufen hatte und die ihn auf seinem Weg nach Jerusalem begleitet hatten. Hinzu kamen Juden, griechischsprachige Proselyten und später auch „gottesfürchtige Heiden“ (mit dem Judentum sympathisierende Nichtjuden), die sich durch die Predigten der Urchristen gewinnen und taufen ließen (Apg 11,20 EU).
Zwölf der von Jesus berufenen männlichen Nachfolger hebt die Evangelienüberlieferung als Erstberufene und Abbild der Zwölf Stämme Israels namentlich hervor. Judas Iskariot, der zu diesem Kreis gehörte, soll sich nach seinem Verrat Jesu an den Hohen Rat das Leben genommen haben; an seine Stelle trat nach Apg 1,21f EU Matthias.
Seinen Jüngern zeigte sich Jesus nach dem NT als der Auferstandene und berief sie dabei zur Mission: Dies begründete ihre Autorität als Apostel. Dazu gehörte jeder, der nach Jesu Tod eine Erscheinung des Auferstandenen hatte und von ihm zur Mission beauftragt worden war. Dieser Kreis ging über die Zwölf hinaus: Erst Lukas identifizierte ihn mit den Leitern und Gründern der Urgemeinde. Bis wann der Zwölferkreis deren Leitung innehatte, ist ungewiss. Paulus nennt in seinem Galaterbrief (verfasst 50–57) bereits nur noch die „drei Säulen“ Jakobus, Simon Petrus und Johannes (Gal 2,9 EU).
Nach der Zeugenliste der Urgemeinde (1 Kor 15,3–8 EU) hatte Jakobus, der älteste Bruder Jesu, eine eigene Vision des Auferstandenen erhalten. Er war zu Jesu Lebzeiten nicht sein Nachfolger gewesen, gewann aber nach Ostern die Leitung der Urgemeinde. Er vertrat in ihr die Gruppe der „Judaisten“, die von allen neugetauften Heidenchristen die Einhaltung wichtiger Toragebote, eventuell auch der Beschneidung, also den Übertritt zum Judentum verlangten. Daher nannte Paulus ihn auch gegenüber Petrus, der sonst in allen Apostellisten an erster Stelle steht, als Hauptpartner seiner Verhandlungen über die Heidenmission. Sein Begleiter Barnabas spielte dabei eine wichtige Rolle.
Nach der Wahl von sieben Diakonen für die Armenversorgung (Apg 6 EU) traten neben die Apostel später auch noch sogenannte „Älteste“ bzw. Presbyter (Apg 11,30 EU; 15,6 EU; 16,4 EU). Deren genaue Aufgaben waren ursprünglich nicht fest umrissen; die wachsende Urgemeinde existierte zunächst ohne „Vorstand“. Doch mit der Arbeitsteilung begann auch eine gewisse Ämterhierarchie, die sehr viel später in das monarchische Episkopat mündete.
Wesentliches Element der Urgemeinde waren wohl auch Propheten, die wie ihre Kollegen in Korinth direkte Offenbarungen Gottes empfingen, in „Zungen“ redeten und verschiedene „Charismen“ (Gnadengaben) mitzuteilen hatten (vgl. 1 Kor 12,12ff EU).
Ihre Mitgliederzahl lässt sich nur schätzen. Apg 2,41 EU nennt 3.000 Erstgetaufte schon nach der ersten Petruspredigt, 4,4 EU bald darauf 5.000: Diese Zahlen erscheinen angesichts der vom Sanhedrin geduldeten Treffen im Jerusalemer Tempel weit überhöht. Andererseits weist die frühe Arbeitsteilung zwischen Aposteln, Diakonen und Ältesten auf eine nicht mehr von einem Dutzend Leitern zu verwaltende Größe hin: Sie wird demnach anfangs irgendwo zwischen 500 (vgl. 1 Kor 15,6 EU) und einigen Tausend gelegen haben.
Theologie und Gottesdienst
Das Idealbild der Urgemeinde ist vor allem durch die Darstellung in Apg 2,37–47 EU bestimmt: Auf die urchristliche Missionspredigt, die ganz auf die Verkündigung der Auferstehung Jesu und seine Erhöhung zum „Kyrios“ ausgerichtet ist, folgt hier die Bekehrung und Taufe neuer Jünger. Diese bedeutete Vergebung der Sünde und damit Aufnahme in die endzeitliche Heilsgemeinschaft, Rettung aus dem erwarteten Endgericht und Empfang des Heiligen Geistes, der zum Halten der Gebote Jesu und zur Ausbreitung seiner „Lehre“ befähigt.
Folgende Kriterien verbinden die Urchristen nach Lukas zu einer Gemeinschaft:
- Sie blieben beständig in der Apostel Lehre, also im Glauben an die ihnen verkündete Auferstehung Jesu.
- … und in der Gemeinschaft: Die Urchristen trafen regelmäßig zusammen.
- … und im Brotbrechen: Sie feierten das Brotbrechen als Fortführung der Mahlgemeinschaft Jesu und/oder im Gedenken an das letzte Mahl ihres Herrn.
- … und im Gebet: Dies beinhaltete wahrscheinlich das von Jesus selbst gelehrte Vaterunser.
- … und geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel: Sie setzten den Heilauftrag, den sie als Nachfolger Jesu erhalten hatten (Mt 10), innerhalb der Urgemeinde durch Zuwendung zu den Kranken fort.
- Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Lukas hob die Gütergemeinschaft als wesentliches Kennzeichen der Urgemeinde hervor, die als Folge der Geistausgießung zugleich die Heiligkeit der Kirche als „Ecclesia“ (Herausgerufene) begründete.
- Auch verkauften sie Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem einer in Not war: Die Versorgung der bedürftigen Christen aus dem Gemeinschaftsbesitz war eine Aufgabe der später hinzugewählten „Diakone“.
- Und sie waren täglich und stets einmütig beieinander im Tempel …: Das Jerusalemer Zentralheiligtum blieb auch der Versammlungsort der Christen, so dass diese anfangs dessen kultische Gebräuche einhielten und als Teil des Judentums akzeptiert wurden.
- … und brachen das Brot abwechselnd in den Häusern …: Die Eucharistiefeier war anfangs nicht von einer gewöhnlichen Mahlzeit getrennt und als Agapefeier mit der Lebensmittelverteilung an bedürftige Christen verbunden. Diese fand nicht im Tempel, sondern im Kreis der Familie und in Hausgemeinden statt.
- … nahmen die Speise mit Freuden und lauterem Herzen, lobten Gott und hatten Gnade beim ganzen Volk: Auch dies hebt die Harmonie zwischen Urchristen und der jüdischen Umgebung hervor. Das Lob Gottes einte sie miteinander.
Taufe, Befolgen der Lehre des Auferstandenen (Mt 28,20 EU) und Besitzaufgabe bildeten also für Lukas die gleichrangigen „Aufnahmebedingungen“ der Urgemeinde. Zwar lassen die Formeln aus Apg 2 EU auf eine übliche Praxis schließen, aber nach 5,4 EU; 12,12 EU war die Besitzaufgabe eher freiwillig. Gebet, Agapefeier mit Abendmahl, Gotteslob, Glaubensbekenntnis, Heiltätigkeit, Armenfürsorge, öffentliche Missionspredigt, Bereitschaft zum Martyrium – „Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29 EU) – waren wesentliche Grundelemente des urchristlichen Gottesdienstes.
Von einer Schriftlesung erfährt man in diesem Rahmen nichts; anzunehmen ist jedoch, dass diese den öffentlichen Missionspredigten wie in den Synagogen vorausging, weil sie zur Verkündigung des auferstandenen Jesus notwendig dazu gehörte (Lk 24,27 EU). Die Wortverkündigung war nicht den Aposteln vorbehalten: Vermutlich konnte auch jedes Gemeindeglied seine Gedanken zu den überlieferten Lehren und Schriften vortragen, solange die Versammelten dies nachzuvollziehen bereit waren.
Die ersten Petruspredigten, die Lukas redaktionell gestaltete, spiegeln die Grundgedanken der urchristlichen Mission: Jesus war für sie der durch Israels ganze biblische Geschichte angekündete Heilsbringer des Gottesvolkes, dessen Kreuzestod als Übernahme des Endgerichts die Segensverheißungen an die Erzväter erfüllt, dessen Auferweckung Gottes Versöhnung mit Israel in Kraft setzt, das Heil den Völkern eröffnet und die Hörer der Predigt zur umfassenden Buße ruft.
Auch die von Paulus aufgenommenen Credoformeln stellen Jesu Selbsthingabe und seine Auferweckung durch Gott ins Zentrum der urchristlichen Glaubenslehre. Die frühe Dogmatisierung des Zwölferkreises in allen Evangelien zeigt zudem: Die Urgemeinde verstand sich als vom zu Gott erhöhten Messias Jesus Christus auserwählte endzeitliche Vorausdarstellung des gesamten Gottesvolks. Ihre Israelmission hatte daher für sie Vorrang.
Gütergemeinschaft
Hauptartikel: Urchristliche Gütergemeinschaft
Ob die Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde tatsächlich ohne Eigentum lebten und ihren ganzen Eigenbesitz teilten, ist umstritten. Manche Exegeten halten dies für ein Motiv des ahistorischen lukanischen Idealbilds, das auf analoge Überlieferung in der hellenistischen Umwelt – etwa die Gütergemeinschaft des Pythagoras – zurückgreift.
Jedoch formulieren schon sehr frühe Redestoffe der Logienquelle die Besitzlosigkeit als Bedingung der Nachfolge Jesu (Mt 10,9f EU). Denn die Jünger gehörten zu den Bettelarmen (griech. ptochoi), die damals die Masse der galiläischen und judäischen Bevölkerung (ochlos) stellten. Sie galten aufgrund der Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu als das wahre erwählte Gottesvolk (Mt 4,1–11 EU). So wurden auch Reiche zur Besitzaufgabe eingeladen, um Jesu Jünger werden zu können (Mk 10,21 EU). Dies war für ehemals wohlhabende Jesusnachfolger nicht bloß allgemeine Wohltätigkeit, sondern ein verpflichtender Bestandteil der Nächstenliebe gegenüber Armen (vgl. Lk 6,27–35 EU).
Das Teilen von Besitz und Nahrung, Gütergemeinschaft und Armenspeisung wurde auch in anderen jüdischen Endzeitgemeinschaften wie der vermuteten Qumran-Gruppe geübt, die sich dabei jedoch nicht an die Mehrheit des Volkes wandten, sondern als „heiliger Rest“ in die Wüste zurückzogen. Bei Jesus dagegen zielte die Besitzaufgabe nicht auf das Erlangen des eigenen Seelenheils durch asketische Vollkommenheit, sondern auf die reale irdische Vorwegnahme der himmlischen Gerechtigkeit, die Gott den Armen mit dem Kommen des Messias verheißen hatte (Lk 4,16–21 EU). So galt etwa der Besitz von Steuereintreibern („Zöllnern“) als Raubgut, das auf Kosten ihrer verarmten und verschuldeten Landsleute erworben wurde. Die Jesusnachfolger sollten durch alle Gebiete Israels ziehen, um das nahe Reich Gottes und damit das baldige Ende dieser Ausbeutungsverhältnisse zu verkünden (Mt 10,5–15 EU), ohne sich dabei wie Reiche um Anhäufen von Besitz und Auskommen zu sorgen (Mt 6,24–33 EU).
Erst zur Zeit des Lukas, als die urchristliche Mission die wohlhabenden Küstenstädte Kleinasiens erreicht hatte, wurde aus der für die Jesusjünger selbstverständlichen Besitzaufgabe ein moralischer Appell, der offenbar nur noch ausnahmsweise befolgt und daher besonders hervorgehoben wurde (Apg 4,36f EU). Daher hob Lukas in seinem Evangelium Beispiele hervor, wo Jesus relativ Reiche wie Zachäus zur Rückgabe ihres Besitzes an die Beraubten bewegte (Lk 19,1–11 EU). Manche verkauften ihren ganzen Besitz und brachten das Geld den Aposteln, die davon die gesamte Gemeinschaft versorgten (Apg 5,32–37 EU). Diese Armenfürsorge war nun nicht mehr gesamtisraelitisch ausgerichtet, sondern diente dem innergemeindlichen Besitzausgleich zwischen ärmeren und reicheren Christen. Dieser blieb freilich innerhalb der antiken Gesellschaft ungewöhnlich und für ärmere Schichten attraktiv. Gewisse Parallelen bestehen lediglich zu Unterstützungen in hellenistischen Vereinen.
Nach Apg 5,1–11 EU verlor ein Ehepaar (Ananias und Saphira) analog zu alttestamentlichen Verwerfungserzählungen sein Leben, nachdem es den Erlös seines verkauften Ackers nur zum Teil der Urgemeinde übereignete. Nach einer Deutung wurde hier das Für-sich-Behalten von Besitz, der allen gehörte, mit einem Tabu belegt: Wer etwas von seinem Eigentum zurückhielt, „hinterging“ den Heiligen Geist selbst und verlor damit sein Lebensrecht. Nach einer anderen Deutung log Ananias nur hinsichtlich der Summe des Verkaufserlöses (Apg 5,3 EU), um mehr Ehre zu bekommen, als ihm zustand. Dann bestätigt der Text, dass es keine Verpflichtung zur völligen Besitzaufgabe gab. Auch Apg 12,12f EU legt nahe, dass Jerusalemer Christen um 44 eigene Häuser und Sklaven besaßen; Besitzaufgabe war also nicht rechtlich institutionalisiert, sondern ein Zur-Verfügung-stellen für alle Mitchristen und ein anderer Umgang untereinander als in der Umwelt.
Die lukanische Darstellung der urchristlichen Gütergemeinschaft wurde gelegentlich als frühe Form eines Kommunismus aufgefasst. Dieser Begriff umfasst jedoch auch die Umwälzung der Produktionsverhältnisse, von der die Apostelgeschichte nichts berichtet. Da die Urgemeinde sich als Vorwegnahme des endzeitlichen Gottesvolks verstand, beinhalteten ihre Heilserwartungen wie die des Judentums jedoch indirekt auch die zukünftige radikale Veränderung der Besitz- und Machtverhältnisse (vgl. Lk 1,46–55 EU). Das Ideal der Gütergemeinschaft, das diese Erwartung vorwegnahm, hat in der Kirchengeschichte vielfältig weitergewirkt, etwa in manchen Mönchsorden, Klostergemeinschaften und Basisgemeinden.
Gruppen und Konflikte
Nach der Apostelgeschichte lebten die Mitglieder der Urgemeinde zunächst harmonisch miteinander. Aber das Anwachsen der Gemeinde brachte bald Probleme mit sich. Laut Apg 6,1–7 EU wurden die Witwen aus dem griechischsprachigen Gemeindeteil bei der täglichen Armenversorgung übersehen. Dies deutet auf räumliche Distanz zu dieser Teilgruppe hin. Daraufhin habe die Vollversammlung der Urgemeinde sieben „Diakone“ (Helfer, Diener) ausgewählt, um die gerechte Versorgung aller sicherzustellen. Genannt werden Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus: Ihre griechischen Namen verweisen ebenfalls auf eine eigene Gruppe, die die Forschung „Hellenisten“ nennt.
Ihre Aufgabe ist unklar: Diakonische Dienste werden von ihnen nicht berichtet, aber Stephanus (Apg 6,8 EU) und Philippus (Apg 8,4–13 EU; Apg 8,26–40 EU) traten als Missionare auf. Daher gilt ihre Wahl nicht nur als Lösung eines Verwaltungsproblems, sondern als Indiz für Konflikte zwischen judäischen und hellenistischen Judenchristen in Jerusalem. Offenbar war die Führungsrolle der Apostel dort schon früh umstritten. Dies kann auch mit materiellen Problemen zusammenhängen: Die Urgemeinde erhielt eine Armenkollekte aus den übrigen neuen christlichen Gemeinden (Gal 2,10 EU; Apg 11,29 EU). Mit ihrer Wahl erhielten die Hellenisten in der Urgemeinde offenbar das Recht zu deren Verteilung und damit eine gewisse Eigenständigkeit.
Diesen inneren Konflikt begleitete das Misstrauen der obersten jüdischen Behörde in Jerusalem, des Sanhedrin: Ihm oblag die Wahrung der religiösen Einheit des Judentums. Nach Apg 4 verhörte er Petrus und Johannes und versuchte, ihre Missionspredigt zu unterbinden. Doch die Sympathien der Bevölkerung hätten die Leiter der Urgemeinde bewahrt (Apg 4,21 EU). Nach ihrer erneuten Festnahme war es der Rat des Pharisäers Gamaliel, der ihre Freilassung erwirkte (Apg 5,34–40 EU). Hier spiegelt sich die Machtverschiebung im Judentum von Sadduzäern zu Rabbinern zur Zeit des Lukas.
Die Anfänge der Heidenmission gingen wohl von den Hellenisten aus: Denn ihr Führer Stephanus übte Kritik am mosaischen Gesetz und am Tempelkult (Apg 6,13f EU). Er warf dem Sanhedrin öffentlich Rechtsbruch und Justizmord an Jesus vor. Dem folgte ein Religionsprozess, der mit seiner Steinigung endete (Apg 7,56 EU). Darauf wurde ein Teil der Urgemeinde aus der Tempelstadt vertrieben und zerstreute sich in die Nachbarregionen. Der Zwölferkreis blieb als Keimzelle eines Neuaufbaus der Urgemeinde in Jerusalem bestehen (Apg 8,1 EU). Von ihm berichtet Lukas jedoch fortan nichts mehr.
Hellenistische Missionare wie Philippus gründeten neue Gemeinden (Apg 8,40 EU), so dass sich das Christentum in Samaria, Syrien und Kleinasien ausdehnte. So entstand in der kleinasischen Metropole Antiochia die erste große, aus Juden und Heiden gemischte Gemeinde neben Jerusalem. Diesen neuen Christen wurde die Einhaltung der jüdischen Gebote offenbar erleichtert oder erlassen: Deshalb wurden sie von toratreuen Juden wie dem Pharisäer Paulus im Auftrag des Sanhedrins heftig verfolgt (Apg 8,1 EU). Doch nach seiner unerwarteten Bekehrung trat er für die torafreie Völkermission ein und missionierte zunächst unabhängig von den Aposteln der Urgemeinde im Mittelmeerraum (Apg 8–10).
Das Apostelkonzil
Hauptartikel: Apostelkonzil
Nach der Vertreibung der Hellenisten intensivierten diese ihre Missionstätigkeit auch unter Griechen, die keine jüdische Vorprägung hatten. Damit wuchs der Anteil der sogenannten Heidenchristen – Neugetauften nichtjüdischer Abstammung – im Urchristentum. Ihnen wurden in vielen Gemeinden jüdische Vorschriften erlassen. Dies duldeten anfangs wohl auch die „Judaisten“ unter den Aposteln der Urgemeinde; Paulus berichtet von keinerlei Auflagen nach seinem ersten Jerusalembesuch, bei dem er Jesu Bruder Jakobus traf (Gal 1,18f EU). Doch zwischen diesem und Petrus, den Lukas als ersten Heidenmissionar darstellt (Apg 10 EU), kam es später zu Spannungen um die Frage der Reinheitsgesetze (11 EU). Offenbar waren sich die Leiter der Urgemeinde uneins, ob den Heidenchristen Auflagen gemacht werden sollten und wenn ja, welche.
Die unterschiedlichen Vorgehensweisen der Missionare stellten die Führungsrolle und Identität der Urgemeinde in Frage und bedrohten die Einheit des Urchristentums insgesamt. Vor allem die Frage der Beschneidung führte in eine Zerreißprobe: Sollten Heiden bei der Taufe auch beschnitten und damit zum Einhalten der ganzen jüdischen Tora verpflichtet werden? Wenn sie deren Speise- und Reinheitsgesetze nicht einhielten, wurde auch das gemeinsame Mahl zwischen Christen jüdischer und heidnischer Herkunft in den Gemeinden zum Problem. Damit stellte sich die theologische Grundsatzfrage, ob Christsein nur als Teil des Judentums möglich sei oder diesen Rahmen aufhebe.
Dies betraf fundamental das Selbstverständnis der Urgemeinde: Diese verstand sich primär als vom Messias aus Sünde und göttlichem Zorngericht gerettete „Vorhut“ des noch zu rettenden Gottesvolks Israel. Demnach waren Heidenchristen „Hinzuberufene“, die ihre Rettung ganz und gar dem „Gnadenüberschuss“ des Heilsmittlers Jesus Christus verdankten. Die Unklarheit, was das in Bezug auf den „Berit“ und die jüdische Tora bedeute, drängte auf eine verbindliche Lösung.
Das Beharren einiger Jerusalemer Apostel, die jüdischen Gebote auch für Heidenchristen verbindlich einzufordern, sorgte für Unverständnis bei den hellenistischen Aposteln. Es drohte die Spaltung in Gemeinden von Judenchristen und Heidenchristen. Um diese zu verhindern, machten beide Seiten alle Autorität geltend. Die Jerusalemer Apostel beriefen eine Zusammenkunft der Missionare zur Klärung der Streitfrage ein; Barnabas und Paulus wurden auf dem Weg dorthin zu Sprechern der heidenchristlichen Gemeinden (Apg 15,1–3 EU).
Das sogenannte Apostelkonzil (auch: Apostelkonvent) war eine entscheidende Zäsur in der Geschichte des Urchristentums. Verlauf und Ergebnisse stellen Paulus und Lukas verschieden dar. Nach Apg 15 gab es eine Vollversammlung der Urgemeinde, bei der zunächst die Judaisten ihren Standpunkt vertraten, dass die Beschneidung der Heidenchristen notwendig sei. Danach kam es zu einer internen Aussprache zwischen Petrus, Barnabas, Paulus, Jakobus und wohl noch anderen. Dabei wurde die gesetzesfreie Heidenmission nach Gal 2,1–14 EU im Kern bestätigt. Damit konnte die Spaltung des Urchristentums verhindert werden. Aber die Geltung der jüdischen Ritualgesetze blieb auch danach ein Streitthema.
Weitere Geschichte
Die Urgemeinde hatte die Verfolgung nach der Hinrichtung des Stephanus (um 36) (Apg 7,59 EU) ebenso wie die Hinrichtung von Jakobus dem Älteren unter Herodes Agrippa I. (44) (Apg 12,2 EU) überstanden, wurde also weiterhin von den Führungsgruppen des Judentums geduldet. So konnte sie von Jerusalem aus ihre Juden- und Heidenmissionare in die umgebenden Regionen aussenden.
Aus Notizen der Evangelien lässt sich erschließen, in welchen Gegenden neue christliche Gemeinden gegründet wurden: So listet Mk 3,7 EU neben Galiläa, Judäa und Jerusalem auch Idumäa (im Süden Judäas), Peräa (im Osten) und Phönizien (Küstenregion im Westen) auf. Mt 4,24 EU nennt stattdessen die Dekapolis, einen hellenistischen Städtebund im Ostjordanland, und Syrien, Lk 6,17 EU neben Phönizien auch Samaria. Paulus besuchte nach seiner Bekehrung nicht nur Damaskus, sondern auch „Arabien“ (Gal 1,17 EU): Damit war damals das Reich der Nabatäer östlich von Judäa gemeint. Addiert man die Angaben, erhält man ein grobes Bild der Streuung der christlichen Gemeinden in und um Palästina bis etwa 100.
Nach dem Apostelkonzil stellt die Apostelgeschichte fast nur die Missionsreisen des Paulus dar und bietet kaum noch Nachrichten über die Urgemeinde. Den Jerusalemer Zwölferkreis hatte wohl schon ein Dreiergremium unter Führung des ältesten Bruders Jesu (Mk 6,3 EU), Jakobus, abgelöst (Gal 2,9 EU); die übrigen Apostel treten nicht mehr in Erscheinung. Petrus hatte Jerusalem nach dem Konzil verlassen und reiste als Missionar in Kleinasien umher (Gal 2,11–14 EU; 1 Kor 9 EU).
Nur Jakobus und die „Ältesten“ werden später nochmals als Empfänger der Armenkollekte, die Paulus beim Konzil aufgetragen worden war, genannt (Apg 21,15ff EU). Deshalb wird angenommen, dass er nunmehr alleiniger Leiter der Urgemeinde geworden war. Er setzte nach Gal 2,12 offenbar die Beschlüsse des Apostelkonzils außerhalb Jerusalems durch und befürwortete nach Apg 21,21–25 EU auch nach den Missionserfolgen des Paulus die Abgrenzung der Judenchristen von den Heidenchristen. Bis zu seinem Tod behielt die Urgemeinde ihre Vorrangstellung im Urchristentum.
Obwohl Paulus in seinen Gemeinden gegen Gruppen zu kämpfen hatte, die seine gesetzesfreie Heidenmission ablehnten oder verfälschten, setzte er deren Missionare nicht mit seinen Feinden gleich (u. a. den „Überaposteln“ in 2 Kor 11,5 EU;12,11 EU), sondern erkannte stets den Vorrang der Urgemeinde an: Dies bestätigt seine Kollektensammlung für sie noch in seinem Römerbrief um 60 (Röm 15,25–28 EU).
Dennoch wurde das immer stärkere Übergewicht der Heidenmission der Urgemeinde zuletzt zum Verhängnis: Dies zeigt schon der Erste Thessalonicherbrief (um 50 entstanden), in dem Paulus heftig gegen die jüdischen Autoritäten polemisiert, die seine Mission verfolgen (2 Thess 2,14f EU). So wurde er nach seiner Kollektenübergabe in Jerusalem inhaftiert (Apg 21,27ff EU). Ob dies auch die Urgemeinde selbst betraf, ist ungewiss. Angenommen wird, dass sich ihre Gefährdung in den Jahren vor dem großen Jüdischen Aufstand gegen die Römer immer mehr zuspitzte.
Den außerbiblischen Berichten des Flavius Josephus zufolge nutzten die Sadduzäer unter dem Hohenpriester Ananias II. (Hannas) das Machtvakuum nach dem Tod des Statthalters Festus bis zum Eintreffen seines Nachfolgers aus, um Jakobus mit anderen Judenchristen Jerusalems hinzurichten. Sein Tod wird auf das Jahr 62 datiert. Danach flohen die meisten Mitglieder der Urgemeinde in das heutige Jordanien und wurden dort von einer judenchristlichen Gemeinde in Pella aufgenommen. Mit dem Beginn des Aufstands im Jahr 68 mussten die verbliebenen Mitglieder in das Umland fliehen, da sie sich weigerten, am Aufstand teilzunehmen.
Doch nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 wurde eine Restgemeinde in Jerusalem neu gegründet; Söhne des Jakobus und andere Verwandte Jesu hatten ihre Leitung inne und sorgten für die Kontinuität ihrer Traditionen. Ihre Führungsrolle in der übrigen Christenheit war jedoch nicht mehr zu erneuern. Sie verlor nun immer mehr an Bedeutung für die Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich, für seine organisatorische und theologische Konsolidierung. Im Zuge des Bar-Kochba-Aufstands (132–135) musste der Rest der Urgemeinde 135 erneut aus Jerusalem fliehen. Damit endete ihre Existenz.
Siehe auch
Literatur
- Hans Conzelmann: Geschichte des Urchristentums. Grundrisse zum Neuen Testament 5. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 61989. ISBN 3-525-51354-2
- Leonard Goppelt: Theologie des Neuen Testaments. UTB 850. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 31978. ISBN 3-525-03252-8
- Ludger Schenke: Die Urgemeinde. Kohlhammer, Stuttgart 1990. ISBN 3-17-011076-4
Weblinks
Dieser Artikel wurde am 9. Januar 2006 in dieser Version in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen. Kategorien:- Wikipedia:Exzellent
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