Anatolien-Hypothese

Anatolien-Hypothese
Neolitische Expansion

Die Anatolien-Hypothese ist eine Theorie zur Ausbreitung der indogermanischen Sprachen in Übereinstimmung mit der Befundlage archäologischer Kulturen des Neolithikums. Nach dieser in den späten 1980er Jahren erstmals entwickelten Hypothese des britischen Archäologen Colin Renfrew hätte die Entwicklung des Indogermanischen bereits vor 8.000 Jahren in Anatolien ihren Anfang genommen und sich im Zuge der Neolithisierung nach Europa verbreitet.[1] Die Indogermanische Ursprache hätte sich mit den ersten Ackernbauern und Viehzüchtern ausgebreitet.

Inhaltsverzeichnis

Archäologischer Hintergrund

Hauptartikel Neolithisierung, Neolithikum, Kurgan-Hypothese

Die Aufspaltung der europäischen Sprachen lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit in die Zeit des Neolithikums legen. Über die zeitliche Dimension bestehen unterschiedliche Ansichten. Fest steht jedoch, dass im 3. Jahrtausend v. Chr. bereits Aufspaltungen indogermanischer Sprachen im archäologischen Kontext fassbar werden. Der Anatolien-Hypothese ging die in den 1950er Jahren von Marija Gimbutas entwickelte und später ausgebaute Kurgan-Hypothese voraus[2], die von Renfrew kritisiert wird.

Renfrew betont im Gegensatz zu Gimbutas, dass erfolgreiche Neuankömmlinge (Immigranten) im Zuge der Kolonisierung Europas eine Technologie mitgebracht haben müssen, die der bisherigen überlegen war. Es habe in der Ur- und Frühgeschichte nur ein Ereignis gegeben, das eine radikale Verbesserung der Lebensbedingungen erbracht habe: die Entwicklung der Landwirtschaft, genauer von Ackerbau und Viehzucht im Zuge der Neolithisierung. Anbau von Einkorn, Emmer und Gerste sowie die Domestizierung von Schaf und Ziege lassen sich mit Beginn des präkeramischen Neolithikums zuerst im Nahen Osten, speziell im Süden Anatoliens belegen.

In einer neuen Darstellung von 2003 geht Renfrew von einer graduellen Einwanderung der indoeuropäischen Sprachen aus, auch „Indo-Hethitisches Modell“ genannt.[3] Das modifizierte Szenario ist vor allem mit neuen Erkenntnissen zur Genetik europäischer Populationen (Ausbreitung von Haplogruppen) zu erklären:

  1. ab 6.500 v. Chr. erfolgt die neolithische Expansion aus Anatolien über die Balkanhalbinsel (Starčevo-Kultur, Körös-Cris-Kultur) bis zur mitteleuropäischen Bandkeramik;
  2. gegen 5.000 v. Chr. erfolgt mit der Ausbreitung kupferzeitlicher Kulturen eine Dreiteilung Proto-Indoeuropäischer Sprachen auf dem Balkan mit Aufspaltung in einen nordwesteuropäischen Zweig (Donauraum) und einen östlichen Steppenzweig (Vorfahren der Tocharer).
  3. erst nach 3000 v. Chr. erfolgt die Aufspaltung der Sprachfamilien vom Proto-Indoeuropäischen (Griechisch, Armenisch, Albanisch, Indo-Iranisch, Baltisch-Slavisch).

Sprachwissenschaftliche Belege

Hauptartikel Indogermanische Ursprache, Indogermanische Sprachen

Von drei Regionen im Nahen Osten mit Landwirtschaft hätten sich drei große Sprachfamilien verbreitet:

Die Sprachwissenschaftler Gray und Atkinson haben 2003 einen Aufsehen erregenden Artikel veröffentlicht, in dem sie mit Methoden der evolutionären Biologie auf der Basis von knapp 2.500 allen indo-europäischen Sprachen gemeinsamen Wörtern nachgewiesen haben, daß der erste Trennungspunkt (vermutlich die Abspaltung des Hethitischen) zwischen 7.800 und 9.800 Jahre zurückliegen muß, was mit der Anatolien-Theorie übereinstimmen würde. Mit Untersuchungen des gemeinsamen Wortschatzes sowie verschiedener Annahmen über die zuerst abgespaltene Sprache und auch des theoretischen Modells ergaben sich ähnliche Ergebnisse. Die den Sprachen gemeinsamen Wörter wurden hauptsächlich auf der Grundlage der Swadesh-Liste identifiziert.[4] Nach der zum Zeitpunkt der Untersuchung besten Modellrechung wurde ermittelt, dass das Hethitische 8.700 Jahre alt ist, daß Tocharische 7.900 Jahre, das Griechische-Armenische 7.300 Jahre und das Albanisch-Persisch-Indische 6.900 Jahre alt. Allenfalls danach beginnt die Möglichkeit einer eigenständigen Kurgan-Periode, mit einer Abspaltung des Baltisch-Slavischen vor errechneten 6.500 Jahren, des Keltischen vor 6.100 Jahren und schließlich eine Aufspaltung in das Italische und Germanische vor etwa 5.500 Jahren.[5]

Zu ähnlichen Ergebnissen kamen die Sprachwissenschaftler Gamkrelidse und Iwanow, nach denen sich das Proto-Indogermanische von Ost-Anatolien aus verbreitet hätte.[6] Sie stützen sich dabei außer auf Untersuchungen des indogermanischen Konsonantensystems auf die Annahme, dass die vermutete Heimat des Indogermanischen eines der Gebiete sein müsse, in denen im 4. Jahrtausend v. Chr. das Pferd domestiziert und als Zugtier verwendet wurde. Petroglyphen (in Stein gehauene Symbole), die im Gebiet des Transkaukasus und Obermesopotamien (zwischen Van- und Urmia-See) gefunden wurden, seien die frühesten Bilder von Wagen, die von Pferden gezogen wurden.

Genetische Forschungen

Archäogenetik, Haplogruppen

Eine Unterstützung der tatsächlich belegbaren Auswanderung von Bevölkerungsgruppen von Anatolien ins westliche Mittelmeergebiet bieten die genetischen Untersuchungen von Robert R. Sokal.[7]

Der Populationsgenetiker Luigi Cavalli-Sforza sieht in der Verbindung von Anatolien- und Kurgan-Hypothese keinen Widerspruch.[8] Seiner Ansicht nach hätten Bauern ein altertümliches Indogermanisch aus Anatolien mitgebracht und in Europa verbreitet; in einer zweiten Welle hätten sich die restlichen indogermanischen Sprachen aus dem Kurgan-Gebiet verbreitet. Cavalli-Sforza spricht von drei Hauptkomponenten des „genetischen Tableaus von Europa“:

  1. der ersten, die mit der Ausbreitung des Ackerbaus aus dem Nahen Osten zusammenhängt
  2. einer zweiten, die eine Variation von Norden nach Süden zeigt (also in Korrelation zum Klima steht) und möglicherweise mit der Ausbreitung der uralischen Sprachfamilie zu verbinden ist
  3. einer dritten, die eine Expansion zeigt, die von der Kurgan-Region ausgeht

und bringt sowohl Komponente 1) als auch 3) mit der Ausbreitung der indogermanischen Sprachen in Verbindung.

Wie Luigi Cavalli-Sforza anhand einer Vielzahl an humangenetischen Untersuchungen zeigt, handelt es sich um keine singuläre Hypothese. Die Einführung von Ackerbau und Viehzucht ermöglicht eine wesentlich höhere (Faktor 10-50) Bevölkerungsdichte und führt zu einer Bevölkerungsexplosion. Auf der menschlichen Genkarte lassen sich diese Folgen an unterschiedlichen Stellen nachweisen – etwa in Nordchina als Folge des Hirseanbaus und in Südchina für Reis. Die Identifikation der genannten ersten Hauptkomponente mit der Ausbreitung der Ackerbaukultur liegt auf der Hand. Und die Gegenthese, die Ackerbaukultur sei nicht auch Träger einer spezifischen Sprachfamilie gewesen, wird wenig plausibel.

Argumente gegen die Anatolien-Hypothese

Der These Renfrews stehen bis heute einige gewichtige Argumente entgegen:

  • In der Frühgeschichte sind Immigrationen mit Auswirkung auf die Bevölkerungszusammensetzung belegt, bei denen das Eroberervolk seine Sprache durchsetzen konnte, zivilisatorisch aber weitgehend das Vorhandene der Eroberten übernahm und höchstens weiterentwickelte. Beispiele sind insbesondere der deutschsprachige Bereich des Römischen Reiches sowie im Gebiet des heutigen Ungarn und in Nordafrika (die Römer übernahmen die punische Landwirtschaft und die Araber die byzantinische). Im Gegensatz dazu konnten Eroberungen großer Gebiete auch mit relativ kleinen Heeren erfolgen, wie die Beispiele der Westgoten in Spanien, der Vandalen in Afrika oder der Langobarden in Italien zeigen.
  • Nach archäologischen Erkenntnissen setzt sich im Nahen Osten ab etwa 7000 v. Chr. und verzögert in Mitteleuropa die Landwirtschaft durch. In früh neolithisierten Regionen in Spanien (Tartessos), Italien (bereits etablierte Proto-Tyrhener) und Griechenland (vor Einwanderung der Griechen in minoischer und pelasgischer Zeit) stoßen Träger der indogermanischen Sprache auf seit längerem dort ansässige nicht-indoeuropäische Völker mit entwickelter Landwirtschaft. Renfrews Theorie erklärt darüber hinaus nicht die nichtindogermanischen Sprachinseln (auf der Iberischen Halbinsel, der Apenninen-Halbinsel, besonders aber nicht die in der Ägäis, auf den Inseln Kreta und Zypern, Pelasger, Leleger in Griechenland unter anderem), die teilweise erst im Neolithikum besiedelt wurden.
  • In Kleinasien war die von den indoeuropäischen Hethitern übernommene Kultur in Form der Hattier im Zentrum, im Osten der Hurriter und im Süden der Semiten bereits ansässig und betreibt Landwirtschaft. Wenn um 1500 bis 2000 v. Chr. höchstens kleine Teile Kleinasiens indoeuropäisch waren, wie soll sich dann von dort angesichts der rundum seit langem dort ansässigen nicht-indoeuropäischen Völker das Indoeuropäische nach Persien, Indien und West-Turkestan (Tocharisch) ausgebreitet haben? Das dem Indoeuropäischen zeitlich vorangehende (wahrscheinlich dravidische) Harappa und Mohenjo-Daro hatten damals ebenfalls bereits Landwirtschaft.

Literatur

  • Colin Renfrew: Die Indoeuropäer – aus archäologischer Sicht, in: Spektrum der Wissenschaft. Dossier: Die Evolution der Sprachen, 1/2000, ISSN 09477934, S. 40-48.
  • Colin Renfrew: Archaeology and Language: The Puzzle of Indo-European Origins. Cambridge 1990 ISBN 0521386756
  • Luigi Luca Cavalli-Sforza: Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation, Darmstadt: WBG 1999
  • Harald Wiese: Eine Zeitreise zu den Ursprüngen unserer Sprache. Wie die Indogermanistik unsere Wörter erklärt, Logos Verlag Berlin, 2007, ISBN 978-3832516017.

Quellenangaben

  1. Colin Renfrew: Archaeology and Language: The Puzzle of Indo-European Origins. Cambridge 1990 ISBN 0521386756
  2. Marija Gimbutas: The Kurgan Culture and the Indo-Europeanization of Europe. Selected Articles from 1952 to 1993. Institute for the Study of Man, Washington 1997, ISBN 0-941694-56-9
  3. Colin Renfrew: Time Depth, Convergence Theory, and Innovation in Proto-Indo-European. Languages in Prehistoric Europe. 2003. ISBN 3-8253-1449-9
  4. Swadesh, M., Lexico-statistic dating of prehistoric ethnic contacts. Proc. Am. Phil. Soc. 96, 1952. S. 453-463.
  5. Gray, Russell D. & Quentin D. Atkinson, Language-tree divergence times support the Anatolian theory of Indo-European origin. Nature 426 (27. Nov. 2003), S. 435-438.
  6. Thomas W. Gamkrelidse und Wjatscheslaw Iwanow: Die Frühgeschichte der indoeuropäischen Sprachen, in: Spektrum der Wissenschaft. Heft 1 (2000), S. 50-57.
  7. Sokal RR, Oden NL, Wilson C., Genetic evidence for the spread of agriculture in Europe by demic diffusion. Nature 351(1991). S. 143-145.
  8. Luigi Luca Cavalli-Sforza: Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation. 1999

Weblinks


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