- Hans Winterstein
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Hans Winterstein (* 31. Juli 1879 in Prag; † 18. August 1963 in München) war ein deutscher Physiologe jüdischer Abstammung. Er wirkte von 1911 bis 1927 als Professor für Physiologie an der Universität Rostock, von 1927 bis 1933 an der Universität Breslau sowie nach Machtergreifung der Nationalsozialisten und seiner Emigration in die Türkei von 1934 bis 1953 an der Universität Istanbul. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1956 war er bis kurz vor seinem Tod als Gastprofessor an der Universität München wissenschaftlich tätig. Wichtigster Schwerpunkt seiner Forschung war die Regulation der Atmung, zu der er 1910 erstmals die sogenannte „Wintersteinsche Reaktionstheorie“ formulierte, die er in späteren Veröffentlichungen mehrfach überarbeitete. Er wurde 1922 in die Leopoldina aufgenommen sowie später von mehreren Universitäten zum Ehrendoktor ernannt, und erhielt 1955 das Große Bundesverdienstkreuz.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Hans Winterstein wurde 1879 in Prag geboren, wo er auch das dortige deutsche humanistische Gymnasium absolvierte.[1] Er studierte anschließend von 1897 bis 1903 Medizin an der Prager Karl-Ferdinands-Universität, an der Universität Jena und an der Universität Göttingen, unter anderem bei dem in Jena und später in Göttingen tätigem Physiologen Max Verworn, und promovierte 1903 in seiner Heimatstadt. Danach wirkte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Verworn in Göttingen. 1906 erlangte er unter Oscar Langendorff die Habilitation an der Universität Rostock, an der er fünf Jahre später im Alter von 31 Jahren zum ordentlichen Professor für Physiologie und zum Direktor des Physiologischen Instituts berufen wurde. Während seiner Zeit in Rostock absolvierte er außerdem mehrere Aufenthalte in der Zoologischen Station Neapel. Er betätigte sich darüber hinaus politisch und gehörte für die Deutsche Demokratische Partei der Rostocker Bürgervertretung sowie von Januar 1919 bis Juni 1920 dem verfassungsgebenden Landtag des Freistaates Mecklenburg-Schwerin an, in welchem er sich für die bürgerlich-parlamentarische Demokratie einsetzte.
1927 folgte Hans Winterstein einer Berufung an die Universität Breslau auf den dortigen Lehrstuhl für Physiologie, den zuvor unter anderem Jan Evangelista Purkyně und Rudolf Heidenhain innegehabt hatten. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er aufgrund seines jüdischstämmigen Vaters 1933 vom Vorlesungsbetrieb suspendiert, obwohl er selbst seine Religion als römisch-katholisch angegeben hatte.[2] Im gleichen Jahr übernahm er eine Gaststelle an der Universität Istanbul, an die er nach seiner Entlassung in Breslau im folgenden Jahr endgültig wechselte. Seine Frau, die ihn zunächst in die Türkei begleitete, folgte später den gemeinsamen zwei Söhnen, die in England studierten, und ließ sich 1938 scheiden. Hans Winterstein wurde an der Istanbuler Universität Gründungsdirektor des Physiologischen Instituts und fungierte bis 1953 als Professor für Physiologie. Seine Vorlesungen hielt er zunächst mit Hilfe eines Dolmetschers und später selbst in türkischer Sprache, in der er in der Folgezeit auch Lehrbücher verfasste. Im Exil lernte er darüber hinaus seine zweite Frau kennen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung fühlte er sich später wohl in seinem Gastland, in welchem er Anerkennung fand und 1941 die Staatsbürgerschaft erhielt.[3]
Unter den deutschen Wissenschaftlern, die in die Türkei emigriert waren und dort an der von Mustafa Kemal Atatürk initiierten Modernisierung der Hochschulen und des Bildungswesens mitwirkten, erhielt Hans Winterstein neben dem Astronomen Wolfgang Gleißberg, der bis 1958 im Land blieb, die meisten Vertragsverlängerungen.[3] Drei Jahre nach seiner Emeritierung an der Universität Istanbul kehrte er 1956 im Alter von 77 Jahren nach Deutschland zurück, wo er am Institut für Physiologie der Universität München eine Gastprofessur übernahm und bis wenige Wochen vor seinem Tod wissenschaftlich tätig war. In autobiografischen Erinnerungen bezeichnete er seine Zeit in München als „happy end“ seines Lebens.[4] Er starb 1963 an einer Herzerkrankung.
Wissenschaftliches Wirken
Hans Winterstein beschäftigte sich anfangs insbesondere mit der Physiologie des Zentralnervensystems und mit Untersuchungen zur Ermüdung und zur Muskelstarre sowie, bis zu seinem Wechsel nach Breslau, zur Narkose.[1] Hinzu kamen Studien zu Blutgasen bei Seetieren, zur Regulation der Atmung und zur Herzphysiologie. Verbindender Aspekt dieser thematisch breit gefächerten Arbeiten war die Rolle des Sauerstoffs und die Frage nach den Auswirkungen eines Sauerstoffmangels. Er konnte dabei zeigen, dass die Organe von höheren Lebewesen auch bei Abwesenheit von Sauerstoff noch einige Zeit lang funktionieren, und dass dies nicht, wie unter anderem von Verworn vermutet, auf Sauerstoffreserven in den Zellen beruhen würde. Damit waren seine Ergebnisse grundlegend für die Unterscheidung zwischen aeroben und anaeroben Prozessen des Energiestoffwechsels in den Geweben höherer Tiere.
In der Folgezeit entwickelte er eine Theorie der Atmungsregulation bei Säugetieren, die er erstmals 1910 vorstellte und die in der Fachwelt in der Folgezeit als „Wintersteinsche Reaktionstheorie“ bezeichnet wurde. In späteren Arbeiten zu diesem Thema, das ihn während seines gesamten wissenschaftlichen Schaffens begleitete, berücksichtigte er Erkenntnisse anderer Forscher wie die des belgischen Pharmakologen und späteren Nobelpreisträgers Corneille Heymans. Noch 1955 veröffentlichte er in der Reihe „Ergebnisse der Physiologie, biologischen Chemie und Experimentellen Pharmakologie“ eine monografische Abhandlung zur chemischen Steuerung der Atmung. Aus seiner Forschung ergaben sich darüber hinaus methodische Arbeiten, die er unter anderem in verschiedenen Handbüchern veröffentlichte. So beschäftigte er sich bereits früh, während seiner Zeit in Rostock, mit Möglichkeiten zur Messung des Sauerstoffverbrauchs in Nervengewebe, wodurch er als Experte auf diesem Gebiet galt und außerdem wichtige Grundlagen für die neurologische Forschung legte.[5]
Auszeichnungen
Zu den Ehrungen,[1] die Hans Winterstein für seine Forschung erhielt, zählten unter anderem Ehrendoktorate der Medizinischen Fakultäten der Universitäten Heidelberg und Köln sowie der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität München. Bereits 1922, im Alter von 43 Jahren, wurde er in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina aufgenommen; von den 35 Leopoldina-Mitgliedern jüdischer Abstammung, die nach 1933 Deutschland verließen, war er neben dem Botaniker Ernst Pringsheim der einzige, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder zurückkehrte.[6] Hans Winterstein wurde außerdem zum korrespondierenden Mitglied der Reale Accademia Medica di Roma und 1951 zum Ehrenmitglied der Deutschen Physiologischen Gesellschaft ernannt. Der deutsche Botschafter in der Türkei verlieh ihm 1955 das Große Bundesverdienstkreuz. Im gleichen Jahr hielt Hans Winterstein an der Harvard University die Edward Kellogg Dunham Lectures for the Promotion of the Medical Sciences.[7]
Werke (Auswahl)
- Physiologie des Menschen. Vier Bände. Jena 1905–1911 (Übersetzung aus dem Italienischen und deutsche Bearbeitung)
- Handbuch der vergleichenden Physiologie. Vier Bände (gebunden in acht Büchern). Jena 1910–1925 (als Herausgeber)
- Die Narkose in ihrer Bedeutung für die allgemeine Physiologie. Berlin 1919 (zweite Auflage 1926)
- Schlaf und Traum. Berlin 1932 (zweite Auflage 1953)
- Animal fiziyoloji dersleri. Istanbul 1939 (zweite Auflage 1943)
- Fiziyloji dersleri. Istanbul 1946
Einzelnachweise
- ↑ a b c Alle Angaben zum Leben, zum Wirken und zu den Ehrungen basieren, wenn nicht anders vermerkt, auf dem 1964 von Hans H. Weber und Hans H. Loeschcke veröffentlichtem Nachruf (siehe Literatur)
- ↑ Albrecht Scholz, Caris-Petra Heidel: Emigrantenschicksale: Einfluss der jüdischen Emigranten auf Sozialpolitik und Wissenschaft in den Aufnahmeländern. Reihe: Medizin und Judentum. Band 7. Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-93-596438-2, S. 84
- ↑ a b Arnold Reisman, Washington 2006, S. 206/207 (siehe Literatur)
- ↑ Michael Goerig, Alwin Eduard Goetz: Mitarbeiter und Herausgeber mit jüdischer Herkunft der ersten deutschen Anästhesiezeitschriften: Ihr Schicksal im Nationalsozialismus und der Versuch einer biografischen Würdigung. In: Der Anaesthesist. 59(9)/2010. Springer-Verlag, S. 818–841, ISSN 0003-2417 (Angaben zu Hans Winterstein S. 837/838)
- ↑ Donald B. Tower, Springfield IL 1970, S. 307–311 (siehe Literatur)
- ↑ Benno Parthier, Dietrich von Engelhardt: 350 Jahre Leopoldina - Anspruch und Wirklichkeit: Festschrift der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina: 1652–2002. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle 2002, ISBN 3-92-846645-3, S. 243
- ↑ Scientists in the News. In: Science. Jahrgang 122. Ausgabe 3173 vom 21. Oktober 1955, S. 756
Literatur
- Hans H. Weber und Hans H. Loeschcke: In Memoriam Hans Winterstein. In: Ergebnisse der Physiologie, biologischen Chemie und experimentellen Pharmakologie. Band 55. Springer-Verlag, Berlin, Göttingen, Heidelberg und New York 1964, S. 1–27 (mit Bibliografie)
- Heidrun Kiwull-Schöne: The "Reaction Theory" of Hans Winterstein (1879–1963) in the Light of Today’s Research on the Ventrolateral Medulla. In: C. Ovid Trouth, Richard Millis, Heidrun Kiwull-Schöne, Marianne Schläfke: Ventral Brainstem Mechanisms and Control of Respiration and Blood Pressure. Reihe: Lung Biology in Health and Disease. Band 82. Marcel Dekker, New York 1995, ISBN 0-82-479514-8, S. 1–39
- Hans Winterstein: Skizzen aus meinem Leben. In: Rubrik „Ärzte unserer Zeit in Selbstdarstellungen“ der Zeitschrift Hippokrates – Wissenschaftliche Medizin und praktische Heilkunde im Fortschritt der Zeit. 33(2)/1962. Hippokrates-Verlag, S. 79–83, ISSN 0018-2001
- Donald B. Tower: Hans Winterstein. In: Webb Haymaker, Francis Schiller: The Founders of Neurology: One hundred and forty-six Biographical Sketches by eighty-eight Authors. Zweite Auflage. Thomas, Springfield IL 1970, S. 307–311
- Winterstein, Hans. In: Walther Killy, Rudolf Vierhaus: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Saur, München 1999, ISBN 3-59-823186-5, Band 10, S. 535
- Physiology is a Must-Have in a Modern Medical School. In: Arnold Reisman: Turkey’s Modernization: Refugees from Nazism and Atatürk’s Vision. New Academia Publishing, Washington 2006, ISBN 0-97-779088-6, S. 206/207
Weblinks
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