Europäischer Gerichtshof

Europäischer Gerichtshof
Hochhäuser des EuGH auf dem Luxemburger Kirchberg-Plateau


Der Europäische Gerichtshof (EuGH), amtlich nur Gerichtshof genannt, mit Sitz in Luxemburg ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen Union (EU). Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV sichert er „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Zusammen mit dem Gericht der Europäischen Union und dem Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union bildet er das Gerichtssystem der Europäischen Union, das im politischen System der Europäischen Union die Rolle der Judikative einnimmt. Der Gerichtshof ist nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) des Europarates.

Inhaltsverzeichnis

Zuständigkeit und Verfahren

Aufgaben und Zuständigkeit

Sitzungssaal des EuGH

Die Aufgaben des EuGH sind in Art. 19 EU-Vertrag, den Art. 251 bis 281 AEU-Vertrag sowie der Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union festgeschrieben. Dazu zählt insbesondere die einheitliche Auslegung des Rechts der Europäischen Union sowie der Europäischen Atomgemeinschaft zu gewährleisten. Im Jahr 1989 wurde zur Entlastung des EuGH das Gericht erster Instanz (seit dem Vertrag von Lissabon nur mehr Europäisches Gericht genannt) geschaffen. Seit dem Jahr 2005 besteht darüber hinaus das Gericht für den öffentlichen Dienst als Fachgericht, das vom Europäischen Gericht die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten zwischen der Europäischen Union (bzw. ursprünglich der Europäischen Gemeinschaften) und ihren Beamten oder sonstigen Bediensteten übernommen hat. Der EuGH selbst ist bei direkten Klagen natürlicher und juristischer Personen nunmehr als Rechtsmittelinstanz für Entscheidungen des Europäischen Gerichts zuständig. Das Europäische Gericht ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch für Klagen der Mitgliedstaaten gegen die Europäische Kommission im dritten Rechtszug zuständig.

Verfahren

Für Klagen der Europäischen Kommission (v. a. Vertragsverletzungsverfahren), Klagen anderer Organe der Europäischen Union oder der Mitgliedstaaten, die nicht gegen die Kommission gerichtet sind, sowie für die Entscheidungen im Vorabentscheidungsverfahren ist der EuGH allein zuständig.

  • Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEU-Vertrag): Die Europäische Kommission kann einen Mitgliedstaat − nach einem Vorverfahren − vor dem EuGH verklagen. Der EuGH prüft dann, ob ein Mitgliedstaat seinen sich aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ergebenden Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Dem EuGH wird eine Klageschrift zugestellt, die teilweise im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und dem Beklagten zugestellt wird. Je nach Fall kommt es zu einer Beweisaufnahme und einer mündlichen Verhandlung. Im Anschluss daran gibt der Generalanwalt seine Schlussanträge ab. Darin macht er einen Urteilsvorschlag, an den der EuGH jedoch nicht gebunden ist. Gemäß Art. 259 AEU-Vertrag kann auch ein Mitgliedstaat gegen einen anderen vor dem EuGH (nach einem Vorverfahren durch Einschaltung der Kommission, Art. 259 Abs. 2 bis 4 AEU-Vertrag) vorgehen.
  • Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEU-Vertrag): Die nationalen Gerichte können bzw. müssen, soweit es sich um die letzte Instanz (zum Beispiel Bundesfinanzhof, Bundesgerichtshof) handelt, dem EuGH Fragen hinsichtlich der Auslegung des Rechts der Europäischen Union vorlegen. Außerdem können sie überprüfen lassen, ob ein europäischer Gesetzgebungsakt gültig ist. Dies soll in besonderem Maße die einheitliche Anwendung des Rechts der Europäischen Union durch die nationalen Gerichte, die für dessen Durchsetzung zu sorgen haben, sicherstellen. Das nationale Gericht muss in seiner Verhandlung auf die Auslegung bzw. Gültigkeit des Rechts der Europäischen Union angewiesen sein (sie muss entscheidungserheblich sein und die Auslegung darf nicht bereits geklärt sein), um eine Frage vorlegen zu dürfen. Es unterbricht dabei sein Verfahren bis zur Antwort des EuGH. Die vorgelegte Frage wird zunächst in alle Amtssprachen übersetzt und im Amtsblatt bekanntgegeben. Dies gibt den beteiligten Parteien, sämtlichen Mitgliedstaaten und den Organen der Europäischen Union die Möglichkeit, Stellungnahmen abzugeben. Wiederum folgen i. d. R. eine mündliche Verhandlung sowie Schlussanträge des Generalanwalts, bevor es zu einem Urteilsspruch kommt. Das vorlegende Gericht (und andere Gerichte in ähnlichen Fällen) sind an das Urteil des EuGH gebunden.

Eine Besonderheit des EuGH ist die Institution des Generalanwalts (Art. 252 AEU-Vertrag). Die Generalanwälte haben die Aufgabe, nach der mündlichen Verhandlung einen Vorschlag für ein Urteil zu unterbreiten („Schlussanträge“). Dazu fassen sie insbesondere die bisherige Rechtsprechung des EuGH in ähnlichen Fällen zusammen und nutzen diese, um ihre Vorstellungen hinsichtlich der Beurteilung des vorliegenden Falls zu begründen. Der Generalanwalt ist dabei nicht Vertreter einer der beiden Parteien, sondern soll seinen Vorschlag unabhängig und neutral entwickeln. Der EuGH ist an diese Vorschläge nicht gebunden, in der Praxis folgt er jedoch in etwa dreiviertel aller Fälle den Vorschlägen des Generalanwalts. Da die Entscheidungen des EuGH selbst in den rechtlichen Ausführungen meist äußerst knapp gehalten sind, geben oft erst die erheblich analytischeren Ausführungen in den Schlussanträgen Aufschluss über die Erwägungen, die der Spruchpraxis des EuGH zugrunde liegen.

Sprachliche Aspekte

Verfahrenssprache kann jede Amtssprache der Europäischen Union sein. Die Auswahl fällt der Klage erhebenden Partei zu, beim Vorabentscheidungsverfahren ist es die Sprache im Mitgliedsland des anfragenden Gerichts, bei Klagen gegen einen Mitgliedstaat wird dessen Amtssprache (ggf. auch mehrere) Verfahrenssprache. Diese Regelung soll sicherstellen, dass jeder Angehörige der Europäischen Union in seiner Sprache Rechtshandlungen vornehmen kann. Alle Verfahrensdokumente werden in die Verfahrenssprache sowie ins Französische – traditionell die interne Arbeitssprache des EuGH, was allerdings zunehmend, vor allem auch von osteuropäischen Staaten, kritisiert wird – übersetzt, Vorabentscheidungsersuchen und die Urteile des EuGH in alle Amtssprachen. Äußerungen des Generalanwalts, der sich in seiner eigenen Sprache äußern kann, werden in die Verfahrenssprache(n) und alle Amtssprachen übersetzt.

EuGH und das Europäische Gericht unterhalten einen gemeinsamen Übersetzungsdienst, der eine eigene Direktion (mit 20 Sprachabteilungen und einer Abteilung Allgemeine Dienste) bildet. Die Übersetzer beim EuGH verfügen alle über eine abgeschlossene juristische Ausbildung und werden auch als „Sprach- und Rechtssachverständige“ („Lawyer-Linguists“) bezeichnet.

Mündliche Verhandlungen beim EuGH werden von Konferenzdolmetschern simultan übersetzt. Der EuGH unterhält dafür einen Dolmetscherdienst mit beamteten Dolmetschern und zieht bei Bedarf freiberuflich tätige Dolmetscher hinzu.

Auslegungsmethoden

Bei der Auslegung von Rechtsnormen des Rechts der Europäischen Union durch den EuGH ergeben sich einige Besonderheiten gegenüber den gewöhnlichen juristischen Auslegungsmethoden, die sich bereits bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts gebildet haben.

Die erste Besonderheit liegt darin, dass die Rechtsquellen des Rechts der Europäischen Union keine einheitliche, verbindliche sprachliche Fassung kennen, sondern derzeit in 23 verschiedenen Sprachen verbindlich sind, was sich aus Art. 55 EU-Vertrag ergibt. Bei abweichendem Sinn verschiedener Sprachfassungen stößt die reine Wortlautauslegung daher an ihre Grenzen, und die zusätzliche Verwendung rechtsvergleichender, systematischer oder teleologischer Argumente wird notwendig.

Des Weiteren ergeben sich Auslegungsprobleme aus der sprachlichen Ungenauigkeit des Primärrechts – sie ist Folge schwieriger politischer Willensbildungsprozesse, an denen eine Vielzahl von Organen bzw. Personen beteiligt ist. So beschränken sich viele Normen auf allgemeine Formulierungen, um den Organen der Europäischen Union einen Entscheidungsspielraum zu gewähren und eine dynamische Interpretation zu ermöglichen. Auch sind die in den Verträgen verwendeten Begriffe autonom, d. h. mit unionsrechtlichen Bedeutungen, zu verstehen und können nicht dem Sprachgebrauch einzelner Mitgliedstaaten entnommen werden. Der EuGH bedient sich hier bei der Suche nach systematischer Geschlossenheit oft der sog. „wertenden Rechtsvergleichung“, wobei er in den nationalen Regelungen nach der besten Lösung sucht.

Weitere Besonderheiten zeigen sich bei der Auslegung der Verträge nach Sinn und Zweck. So handelt es sich etwa bei dem Effektivitätsgrundsatz („effet utile“) um eine besondere Form der Auslegung nach Sinn und Zweck, nämlich die nach den Vertragszielen. Demnach sollen die einzelnen Bestimmungen der Verträge so ausgelegt werden, dass sie die größtmögliche Wirksamkeit entfalten. Insbesondere die Berufung auf den „effet utile“ benützt der EuGH häufig, um Normen des Primärrechts teilweise erheblich über den Wortlaut hinaus auszudehnen und der Gemeinschaft Kompetenzen und Befugnisse zukommen zu lassen, die ursprünglich so nicht vorgesehen waren.

Geschichte

Der EuGH wurde im Jahr 1952 durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet und nahm im Jahr 1953 seine Arbeit auf. Er war zunächst nur für Streitigkeiten innerhalb des EGKS-Vertrages zuständig. Nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG oder EURATOM) durch die Römischen Verträge 1957 war der EuGH als gemeinsames Organ der Gemeinschaften für sämtliche Streitigkeiten aufgrund der drei Verträge zuständig. Das Gericht erster Instanz wurde dem EuGH 1989 beigeordnet, das Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union 2005. Seit dem Vertrag von Lissabon trat die Europäische Union an Stelle der Europäischen Gemeinschaft. Damit ist der EuGH seit dem 1. Dezember 2009 eine gemeinsame Einrichtung der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und zur Auslegung des Rechts dieser beiden Organisationen zuständig.

Entscheidungen

EuGH: Großer Saal mit 13 Richtern
EuGH mit großem Saal

Urteile des EuGH, soweit sie im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEU-Vertrag (oder einer Vorgängerbestimmung, wie Art. 234 EG-Vertrag) ergangen sind, dienen zunächst dazu, dem vorlegenden nationalen Gericht die Entscheidung im Ausgangssachverhalt zu ermöglichen. Grundsätzlich bindet die EuGH-Entscheidung durch die Auslegung des Rechts der Europäischen Union nur das anfragende Gericht, dessen Urteil wiederum theoretisch nur für den entschiedenen Einzelfall gilt.

Die faktische Wirkung eines EuGH-Urteils ist jedoch ungleich größer, sie geht weit über den einzelnen Sachverhalt, der zur Vorlage geführt hat, hinaus. Da der EuGH für alle Mitgliedstaaten verbindlich das Recht der Europäischen Union[Anmerkung 1] auslegt, gilt die Norm des Recht der Europäischen Union, so wie sie durch die im Urteil verkündete Auslegung zu verstehen ist, für alle Mitgliedstaaten und − in der Regel − ex tunc, d. h. rückwirkend. Anders formuliert: Der EuGH stellt fest, wie eine Vorschrift des Recht der Europäischen Union immer schon und von allen hätte verstanden werden müssen.

Eine unbegrenzte Rückwirkung der Urteile wird jedoch gegebenenfalls durch die nationalen Verfahrensrechte verhindert, insoweit als sie regeln, dass ein bestandskräftiger Verwaltungsakt oder ein bestandkräftiges gerichtliches Urteil ohne gesonderte Vorschrift nicht mehr geändert werden kann.

Von 1953 bis Ende 2005 wurden 13.960 Rechtssachen beim EuGH anhängig gemacht; in 6.827 Fällen sind Urteile ergangen.

Eigenständige Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften

Eine der wichtigsten Entscheidungen des EuGH ist das Urteil in der Sache „Van Gend & Loos“ von 1963. In dieser Entscheidung begründete der EuGH die Doktrin, dass es sich beim europäischen Gemeinschaftsrecht[Anmerkung 2] um eine selbstständige Rechtsordnung sui generis handele, die von dem Recht der Mitgliedstaaten losgelöst sei. Dies bedeutete eine Abkehr von der bis dahin vorherrschenden Auffassung, es handle sich beim Recht der europäischen Gemeinschaften um gewöhnliches Völkerrecht. Die Entscheidung hat große Bedeutung und sorgte in der Fachwelt für Aufsehen, da der EuGH damit auch begründete, dass Subjekte des Europarechts nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger seien.

Aus der in Van Gend & Loos begründeten Doktrin von der Eigenständigkeit des Europarechts entwickelte der EuGH 1964 in der Entscheidung „Costa/ENEL“ die weitere Doktrin vom Vorrang des Europarechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten.[1]

In diesen und den darauf folgenden Entscheidungen betonte der EuGH immer wieder, dass sich die Mitgliedstaaten freiwillig einer Gemeinschaft mit eigenständiger Rechtsordnung unterworfen haben. Dass es sich hierbei um eine Rechtsordnung und nicht bloß um ein politisches Zweckbündnis handelt, zeigt sich vor allem in solchen Entscheidungen des EuGH immer wieder.

So wurde am 13. Juli 2004 aufgrund einer Klage der Kommission ein Beschluss des Rates der Finanzminister revidiert, der die Defizit-Strafverfahren gegen Deutschland und Frankreich ausgesetzt hatte. Diese Entscheidung der Minister sei nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.

Warenverkehrsfreiheit

Hauptartikel: Warenverkehrsfreiheit

Eine gleichermaßen wichtige Entscheidung des EuGH im Zusammenhang des freien Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten ist die Cassis-de-Dijon-Entscheidung von 1979. Darin untersagte der EuGH Deutschland, Anforderungen an ein Produkt zu stellen, die es in seinem Herkunftsland nicht erfüllen muss. Die Entscheidung führt zum Prinzip der „wechselseitigen Anerkennung“ der nationalstaatlichen Produktstandards, die jedoch durch sogenannte allgemein gültige Mindeststandards oder Schutzklauseln beschränkt sind. zum Beispiel Verbraucher- und Umweltschutz.

Steuerrecht

Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs

Die nationalen Steuervorschriften innerhalb der Europäischen Union sind vor allem im Bereich der direkten Steuern noch kaum harmonisiert (anders die indirekten Steuern, die über die Mehrwertsteuerrichtlinien stark vereinheitlicht wurden). Die Europäische Union hat in diesem Bereich nur dann die Befugnis, Rechtsvorschriften zu harmonisieren, wenn dies im Hinblick auf das Funktionieren des Europäischen Binnenmarktes erforderlich ist (Art. 113 AEU-Vertrag). Überdies ist eine Einstimmigkeit im Rat erforderlich. Daher ist es im Bereich der direkten Steuern nur in wenigen Bereichen zu einer Harmonisierung gekommen, beispielsweise im Rahmen der Mutter-Tochter-Richtlinie und der Fusionsrichtlinie.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH müssen die Mitgliedstaaten allerdings bei Ausübung der ihnen verbleibenden Kompetenz die Schranken, die Ihnen das Recht der Europäischen Union auferlegt, beachten. Das heißt, dass obwohl die Ausgestaltung des nationalen Steuerrechts Teil der Souveränität der Nationalstaaten ist und bleibt, das Ergebnis der Kompetenzausübung, also die nationalen Steuergesetze, nicht gegen Recht der Europäischen Union, insbesondere nicht gegen die Grundfreiheiten verstoßen dürfen.[2]

Wichtige steuerrechtliche Entscheidungen

  • Manninen-Entscheidung: Nach der Manninen-Entscheidung des EuGH ist die Beschränkung eines Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren auf die Anrechnung nur inländischer Körperschaftsteuer gemeinschaftsrechtswidrig. Auch ausländische Körperschaftsteuer muss angerechnet werden. Dieses Urteil (zusammen mit dem Urteil Fokus Bank ASA des EFTA-Gerichtshofs) ist das endgültige Ende für Körperschaftsteueranrechnungssysteme in Europa.
  • Lasteyrie du Saillant-Entscheidung: Die Besteuerung von stillen Reserven beim Wohnsitzwechsel von natürlichen Personen ins Ausland (nicht dagegen beim inländischen Wohnsitzwechsel) wie er auch in Deutschland durch § 6 Außensteuergesetz (AStG) vorgesehen ist, wurde in Frankreich für gemeinschaftsrechtswidrig angesehen (s. auch Wegzugsbesteuerung). Diesbezüglich steht ein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland im Raum.
  • Gerritse-Entscheidung: Nach dem Urteil Gerritse ist es unzulässig, dass beschränkt Steuerpflichtige ihre Werbungskosten nicht abziehen dürfen, wenn es unbeschränkt Steuerpflichtige dürfen.
  • Lankhorst-Hohorst-Entscheidung: Hier wurden die deutschen Regeln zur Gesellschafter-Fremdfinanzierung für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt.
  • Eurowings-Entscheidung: Die hälftige Hinzurechnung von Leasinggebühren, die an Ausländer gezahlt werden, bei der Gewerbesteuer wurde für gemeinschaftsrechtswidrig befunden.
  • Marks & Spencer-Entscheidung: Einem Konzern darf die Verrechnung eigener Gewinne mit den Verlusten einer ausländischen Tochter dann nicht untersagt werden, wenn im Sitzland der Tochter die Nutzung dieser Verluste unmöglich ist.
  • Cadbury-Schweppes-Entscheidung: Eine Hinzurechnungsbesteuerung der Gewinne von Tochtergesellschaften im niedrig besteuernden Ausland ist nur bei einer nach objektiven Kriterien zu beurteilenden missbräuchlichen Gestaltung zulässig.

Weitere wichtige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs

  • Francovich-Entscheidung: Dem einzelnen Bürger steht bei einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat ein Anspruch auf Ersatz zu, wenn dem Einzelnen durch den staatlichen Verstoß ein Schaden entstanden ist.
  • 1993: Keck-Entscheidung (Legitimationen der Einschränkung der Marktfreiheit)
  • IATA und ELFAA: Der Wortlaut von Art. 251 EG-Vertrag (vgl. Art. 294 AEU-Vertrag) schränkt somit die Maßnahmen des Vermittlungsausschusses, die eine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf (zwischen Rat und Europäischem Parlament) ermöglichen sollen, inhaltlich nicht ein. (C-344/04)
  • Kreil-Entscheidung: Das Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofes vom 22. Januar 2000 öffnete Frauen die Bundeswehr in allen Bereichen.

Richter

Der EuGH besteht aus je einem Richter je Mitgliedstaat. Die Richter müssen unabhängig sein und die in ihrem Land für eine Tätigkeit am höchsten Gericht erforderliche Qualifikation aufweisen oder von „anerkannt hervorragender Befähigung“ sein. Die Richter werden durch einen einstimmigen Beschluss der Regierungen der Mitgliedstaaten nach Anhörung des gemäß Art. 255 AEU-Vertrag gebildeten Expertenausschusses für eine sechsjährige Amtszeit ernannt, was de facto einem einstimmigen Beschluss des Rates der Europäischen Union entspricht. Dabei wird alle drei Jahre die Hälfte der Richter neu ernannt. Eine Wiederernennung ist möglich. (Art. 253 AEU-Vertrag).

Kritik

In einem Rechtsstaat besteht die Aufgabe des obersten Gerichts auch und gerade in einer verfassungsmäßigen Kontrolle des Gesetzgebers und der Regierung. Dies erfordert, dass verfassungswidrige Maßnahmen dieser Organe auch entsprechend gekennzeichnet werden. Der EuGH hat Derartiges nur selten getan (Beispiel: Aufgrund einer Nichtigkeitsklage des Bundesgerichtshofs und eines Vorabentscheidungsersuchens des High Court of Justice im Zusammenhang mit einer Klage mehrerer Tabakfirmen (Imperial Tobacco u. a.) erklärte der EuGH mit Urteil vom 5. Oktober 2000, Geschäftszahl C-376/98, die Richtlinie 98/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen für nichtig und hob sie – als der höchsten Norm, nämlich dem EG-Vertrag widersprechend – auf).

Darüber hinaus wird mitunter die Unabhängigkeit der Richter angezweifelt. Diese Einschätzung beruht auf dem Umstand, dass jedes Mitgliedsland den Richter, den es an den EuGH entsenden möchte, selbst bestimmt, während in der Bundesrepublik Deutschland die Unabhängigkeit der höchsten Richter unter anderem dadurch gestärkt wird, dass sie von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass sich daraus, selbst wenn dieser Vorwurf zuträfe, in der Praxis keine Nachteile ergeben dürften. Das Prozessrecht des EuGH verbietet es nämlich, einen EuGH-Richter zum Berichterstatter in einem Verfahren zu benennen, an dem der Mitgliedsstaat, der ihn entsandt hat, als Partei beteiligt ist. Der Berichterstatter hat in dem jeweiligen Verfahren die Federführung und bereitet die Verhandlungen und die Entscheidung inhaltlich vor. Über die Einhaltung dieser Regelung wacht der Präsident des EuGH.

Hauptkritikpunkt jedoch ist, dass dem EuGH in Teilen der Rechtswissenschaft vorgeworfen wird, dass er europäisches Gemeinschaftsrecht unzulässig auf nationale Rechtsfelder ausdehne und damit seine Kompetenzen überschreite.[3] Als weiterer Kritikpunkt wird von manchen die kurze Amtszeit genannt, von anderen die Möglichkeit zur Wiederwahl (die de facto zu einer Verlängerung der Amtszeit führt).

Präsident des Europäischen Gerichtshofs

Der Präsident des EuGH wird auf drei Jahre gewählt, und zwar indem die Richter für einen aus ihrer Mitte abstimmen. Er kann uneingeschränkt wiedergewählt werden.

Der Präsident leitet die Verwaltung des EuGH und die sonstigen richterlichen Aufgaben und führt den Vorsitz bei Anhörungen und Beratungen in den Kammern. Er teilt die Fälle den Kammern für jegliche vorbereitende Aufgaben zu und wählt außerdem einen Richter der Kammer aus, der in dem jeweiligen Verfahren als Berichterstatter fungiert. Des Weiteren legt er die Daten und den Zeitplan für die Sitzungen der „Großen Kammer“ und des gesamten Gerichtes, fest. Der Präsident nimmt auch persönlich Stellung, wenn es um Anfragen für einstweilige Verfügungen u. ä. geht.

Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs
Name Beginn der Amtszeit Ende der Amtszeit Nationalität
01 Massimo Pilotti (1879–1962) 1952 6. Oktober 1958 ItalienItalien Italien
02 André Donner (1918–1992) 7. Oktober 1958 7. Oktober 1964 NiederlandeNiederlande Niederlande
03 Charles Léon Hammes (1898–1967) 8. Oktober 1964 9. Oktober 1967 LuxemburgLuxemburg Luxemburg
04 Robert Lecourt (1908–2004) 10. Oktober 1967 25. Oktober 1976 FrankreichFrankreich Frankreich
05 Hans Kutscher (1911–1993) 7. Oktober 1976 31. Oktober 1980 DeutschlandDeutschland Deutschland
06 Josse J. Mertens de Wilmars (1912–2002) 30. Oktober 1980 10. April 1984 BelgienBelgien Belgien
07 Alexander J. Mackenzie Stuart (1924–2000) 10. April 1984 6. Oktober 1988 Vereinigtes KonigreichVereinigtes Königreich Vereinigtes Königreich
08 Ole Due (1931–2005) 7. Oktober 1988 6. Oktober 1994 DanemarkDänemark Dänemark
09 Gil Carlos Rodríguez Iglesias (* 1946) 7. Oktober 1994 6. Oktober 2003 SpanienSpanien Spanien
10 Vassilios Skouris (* 1948) 7. Oktober 2003 GriechenlandGriechenland Griechenland

Literatur

  • Mariele Dederichs: Die Methodik des EuGH. Baden-Baden 2004, ISBN 3-8329-0694-0.
  • Stephan Keiler / Christoph Grumböck (Hrsg): EuGH-Judikatur aktuell. Wien 2006, ISBN 3-7073-0606-2 (Inhaltsverzeichnis hier).
  • Matthias Pechstein: EU-/EG-Prozessrecht. Unter Mitarbeit von Matthias Köngeter und Philipp Kubicki. 3. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 978-3-16-149269-3.
  • Bernhard Schima: Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. München 2005, ISBN 3-406-51574-6.
  • Martina Schmid: Die Grenzen der Auslegungskompetenz des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG. Dargestellt am Beispiel der überschiessenden Richtlinienumsetzung. Bern 2005, ISBN 3-631-54341-7.
  • Alexander Thiele: Individualrechtsschutz vor dem Europäischen Gerichtshof durch die Nichtigkeitsklage. Nomos, Baden-Baden 2006, ISBN 978-3-8329-2376-1.
  • Alexander Thiele: Europäisches Prozessrecht. Verfahrensrecht vor dem EuGH. Ein Studienbuch. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55749-1.
  • Bertrand Wägenbaur: EuGH VerfO. Satzung und Verfahrensordnungen EuGH/EuG. Kommentar. C.H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-55200-7.

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Europäischer Gerichtshof – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
 Commons: Europäischer Gerichtshof – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. Vor dem Vertrag von Lissabon bezog sich diese Befugnis auf das Gemeinschaftsrecht.
  2. Auch wenn durch den Vertrag von Lissabon die Europäische Gemeinschaft durch die Europäische Union und das Gemeinschaftsrecht durch das Recht der Europäischen Union ersetzt wird, bezieht sich das Urteil von 1963 entsprechend der damaligen Rechtslage auf das Gemeinschaftsrecht.

Einzelnachweise

  1. EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6–64, EuGHE 1964, 1141 – „Costa/E.N.E.L.“
  2. vgl. etwa EuGH, Urteil vom 14. Februar 1995, Rs. C-279/93 – „Schumacker“, Rz. 21
  3. Roman Herzog: Stoppt den Europäischen Gerichtshof, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. September 2008

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