Ilse Aichinger

Ilse Aichinger

Ilse Aichinger (* 1. November 1921 in Wien) ist eine österreichische Schriftstellerin. Sie gilt als bedeutende Repräsentantin der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kindheit und Jugend

Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga Michie wurden als Töchter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien geboren. Die Familie lebte in Linz, bis der Vater die Scheidung einreichte, um seine berufliche Karriere nicht durch die Ehe mit einer Jüdin zu gefährden. Die Mutter zog mit den Kindern zurück nach Wien, wo Ilse Aichinger meist bei ihrer jüdischen Großmutter bzw. in Klosterschulen lebte.

Der Anschluss Österreichs bedeutete für die Familie Verfolgung und Lebensgefahr. Helga konnte am 4. Juli 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien fliehen, der Rest der Familie aber nicht mehr nachkommen, da der Krieg ausbrach. Ilse Aichinger blieb bei ihrer Mutter, um sie als Betreuerin einer noch unmündigen Halbarierin vor der Deportation zu bewahren.[1] Die Mutter verlor ihre Stellung, wurde aber tatsächlich bis 1942 nicht behelligt.

Ilse Aichinger lebte völlig isoliert von der Öffentlichkeit, ein Studienplatz wurde ihr verweigert. Sie und ihre Mutter wurden in den Kriegsjahren dienstverpflichtet; Ilse Aichinger ging die Gefahr ein, selbst deportiert und getötet zu werden, weil sie ihre Mutter nach Erreichen der eigenen Volljährigkeit versteckte – in einem der Tochter zugewiesenen Zimmer direkt gegenüber dem Gestapo-Hauptquartier im ehemaligen Hotel Metropol am Morzinplatz. Die Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 verschleppt und kamen im Vernichtungslager Maly Trostinez in der Nähe von Minsk um.

Studium und Schreiben

1945 begann Ilse Aichinger Medizin zu studieren, brach aber nach fünf Semestern ab, um ihren teils autobiografischen Roman Die größere Hoffnung zu schreiben. Der Kritiker Hans Weigel empfahl ihr, sich und ihre Texte beim S. Fischer Verlag vorzustellen, der schließlich ihre Werke veröffentlichte. 1949/50 arbeitete Ilse Aichinger als Verlagslektorin für S. Fischer, 1950/51 als Assistentin von Inge Aicher-Scholl an der Hochschule für Gestaltung in Ulm.

1951 wurde sie erstmals zur Gruppe 47 eingeladen, wo sie ihren späteren Mann Günter Eich kennenlernte. 1952 gewann sie mit ihrer Spiegelgeschichte den Preis der Gruppe. Im selben Jahr erschien die vielbeachtete Rede unter dem Galgen. 1953 heiratete sie Günter Eich. Das Ehepaar lebte mit den Kindern Clemens, der ebenfalls Schriftsteller wurde, und Mirjam zuerst in Lenggries, dann in Breitbrunn am Chiemsee und seit 1963 in Großgmain im Bundesland Salzburg. Im Jahr der Heirat mit Eich wurde Aichingers Debüt als Hörspiel Knöpfe, erstmals gesendet.

Späte Jahre

1972 starb Günter Eich. Neun Jahre später, nach dem Tod der Mutter, zog Ilse Aichinger nach Frankfurt am Main und 1988 nach Wien, wo sie nach einer längeren Schaffenspause Ende der 1990er Jahre wieder zu schreiben begann. Sie gewann regelmäßig renommierte Literaturpreise, obwohl ihre Veröffentlichungen immer weniger und kürzer wurden. 1996 unterzeichnete sie die Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform und untersagte 1997, ihre Texte in Schulbüchern den neuen Regeln anzupassen.

Nach dem Unfalltod ihres Sohnes Clemens im Februar 1998 zog sich die Autorin aus der literarischen Öffentlichkeit fast völlig zurück. Zwei Jahre später erschienen nach 14jähriger Schreibpause die teils autobiografischen Essays Film und Verhängnis. Es folgten noch zwei schmale Bände, die Texte für die Tageszeitung Die Presse versammelten. Ilse Aichinger lebt in Wien, wo sie immer noch fast täglich ihr Stammcafé aufsucht (Café Demel am Michaelerplatz) und häufig ins Kino geht, ihre große Leidenschaft.[2]

Werk

Frühe Werke

Von Anfang an rief Aichinger in ihren Werken zur Kritik an politischen und gesellschaftlichen Zuständen auf und sprach sich gegen falsche Harmonie und Geschichtsvergessenheit aus. Bereits 1945 schrieb sie einen Text über die Welt der Konzentrationslager (Das vierte Tor), der erste in der österreichischen Literatur.[3] Ein Jahr später schrieb sie in dem Essay Aufruf zum Misstrauen: „Wir müssen uns selbst misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen!“[3] Mit diesem Aufruf gegen die Verdrängung der Geschichte und für eine schonungslose Eigenanalyse wandte sich Ilse Aichinger gegen die deutsche Kahlschlagliteratur, deren Anhänger nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einen radikalen Neubeginn propagierten.

1948 schrieb sie ihren einzigen Roman Die größere Hoffnung, in dem sie autobiografisch das Schicksal einer jungen Halbjüdin im Nationalsozialismus schildert. Der Roman bietet keine konkret-realistische Darstellung von Demütigungen, Angst und verzweifelter Hoffnung, sondern eine allegorische Schilderung in zehn chronologisch angeordneten Bildern aus der subjektiven Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens. Es wird nicht chronologisch nachvollziehbar erzählt, der Text ist eher ein Geflecht aus Traum, Märchen, Mythos und Historie. Monologe wechseln ab mit Dialogen, auktoriales Erzählen mit personalem. Durch die symbolische Überhöhung wird das Grauen keineswegs verharmlost, sondern nur auf eine andere Ebene gehoben und mit zeitlosen Themen verknüpft.[4]

In ihren frühen Erzählungen, die den Einfluss Franz Kafkas zeigen, beschreibt Aichinger das existentielle Gefesseltsein des Menschen durch Ängste, Zwänge, Träume, Wahnvorstellungen und Fieberphantasien.[5] Das Thema der schwierigen Beziehung zwischen Traum und Realtität und zwischen Freiheit und Zwang kehrt immer wieder, etwa im Prosaband Wo ich wohne (1963). In der gleichnamigen Titelerzählung geht es aber auch um das Thema der Entfremdung und um die Frage von Autonomie und Verantwortung.

Sprachkritik

Von Anfang an zeigte Aichingers Werk eine ausgeprägte Tendenz zur Verknappung, feststellbar zum Beispiel an der Bearbeitung ihres ersten und einzigen Romans Die größere Hoffnung (1948 und 1960). Der Sammelband Schlechte Wörter (1976) zeigte dazu eine Themenveränderung bei Ilse Aichinger: Dominierte einst die Wahrheitssuche, gelangt sie jetzt zur subversiven Sprachkritik.[6] Sprache erschien der Autorin immer mehr als unbrauchbares Ausdrucksmittel. Zu dieser Auffassung passte das zunehmend seltener werdende Schreiben, zudem wurden die Texte immer kürzer, bis hin zum Aphorismus.

Ilse Aichinger selber erklärte das als Reaktion auf die fehlenden Zusammenhänge in der Welt der Gegenwart: Man kann nicht einfach drauflosschreiben und künstlich Zusammenhänge herstellen.[7] Ihre Poetik des Schweigens ist ihre Konsequenz aus der Ablehnung jeder Form von Konformismus: Gegen die sehr häufige Meinung des 'So ist es eben', die, was sie vorfindet, fraglos akzeptiert. Die Welt verlangt danach, gekontert zu werden.[8]

Zitate

Über die Kriegszeit

  • Der Krieg war meine glücklichste Zeit. Der Krieg war hilfreich für mich. Was ich da mitangesehen habe, war für mich das Wichtigste im Leben. Die Kriegszeit war voller Hoffnung. Man wußte sehr genau, wo Freunde sind und wo nicht, was man in Wien heute nicht mehr weiß. Der Krieg hat die Dinge geklärt.[7]
  • Ich hab einmal […] gesagt, dass der Zweite Weltkrieg meine glücklichste Zeit war. Obwohl ich gesehen hab, dass man meine Angehörigen weggeschleppt hat in Viehwägen, hab ich ganz sicher daran geglaubt, dass sie wiederkommen. Deshalb war auch die Zeit NACH dem Zweiten Weltkrieg für mich die schwierigste, weil kein Mensch zurückgekommen ist.[9]
  • [Der] Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben. Ich war sehr jung und hatte die Gewißheit, daß meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf der Welt war, zurückkommt. Dann war der Krieg zu Ende, der Wohlstand brach aus, und die Leute sind an einem vorbeigeschossen. Das war noch schlimmer als der Krieg.[7]

Über das Schreiben

  • Ich habe das [Schreiben] seit jeher für einen sehr schwierigen Beruf gehalten. Und ich wollte nie Schriftstellerin werden. Ich wollte Ärztin werden, das ist gescheitert an meiner Ungeschicklichkeit. Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch [Die größere Hoffnung] dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zuviel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig.[7]
  • Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müßte man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. Aber die meisten schreiben rasch chronologisch und unaufmerksam vor sich hin. Sich als Autor allein zu definieren, ist heute nicht mehr möglich. Egal ob man Installateur, Krankenpfleger oder im Büro ist. Das ist noch eine andere Welt, auch wenn sie einen anödet. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich „privat“.[7]
  • Das Schreiben spielt die Rolle, dass es mir vielleicht vorkommt, als hätte alles einen gewissen Sinn. Wenn mir zwei oder drei Sätze gelingen, dann habe ich das Gefühl, meine Existenz wäre nicht völlig absurd, als bliebe noch ein Funken Sinn übrig.[9]

Auszeichnungen

Werke

Prosa

  • Die größere Hoffnung. Roman. Bermann-Fischer, Amsterdam 1948.
  • Rede unter dem Galgen. Erzählungen. Jungbrunnenverlag, Wien 1952.
  • Der Gefesselte. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1953 (darin: Das Fenster-Theater)
  • Eliza Eliza. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1965.
  • Nachricht vom Tag. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1970.
  • Meine Sprache und ich. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 1978.
  • Kleist, Moos, Fasane. S. Fischer, Frankfurt am Main 1996.
  • Eiskristalle. Humphrey Bogart und die Titanic. S. Fischer, Frankfurt am Main 1997.
  • Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001.
  • Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. Edition Korrespondenzen, Wien 2004.
  • Unglaubwürdige Reisen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2005.
  • Subtexte. Edition Korrespondenzen, Wien 2006.

Lyrik

  • Verschenkter Rat. S. Fischer, Frankfurt am Main 1978.
  • Kurzschlüsse. Edition Korrespondenzen, Wien 2001.

Hörspiele

  • Knöpfe. 1953.
  • Zu keiner Stunde. S. Fischer, Frankfurt am Main 1957.
  • Französische Botschaft. 1960.
  • Weiße Chrysanthemen. 1961.
  • Besuch im Pfarrhaus. Ein Hörspiel. Drei Dialoge. S. Fischer, Frankfurt am Main 1961.
  • Nachmittag in Ostende. 1968.
  • Die Schwestern Jouet. 1969.
  • Auckland. Vier Hörspiele. S. Fischer, Frankfurt am Main 1969.
  • Gare Maritime. 1976.
  • Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. S. Fischer, Frankfurt am Main 1980.

Sammelbände

  • Wo ich wohne. Erzählungen, Gedichte, Dialoge. Fischer, Frankfurt am Main 1963.
  • Heinz F. Schafroth (Hrsg.): Dialoge, Erzählungen, Gedichte. Reclam, Stuttgart 1971.
  • Schlechte Wörter. S. Fischer, Frankfurt am Main 1976.
  • Gedichte und Prosa. Gymnasium Weilheim, Weilheim i. OB. 1980.
  • Werke in acht Bänden. S. Fischer, Frankfurt am Main 1991.
  • Aufzeichnungen 1950–1985. Reclam, Leipzig 1992.

Filmografie

  • 2001: Die Kinogängerin (Fernsehdokumentation)

Literatur

Weblinks

 Commons: Ilse Aichinger – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. teachsam.de
  2. literaturkritik.de
  3. a b Meike Fechner, Susanne Wirtz: Tabellarischer Lebenslauf von Ilse Aichinger im LeMO (DHM und HdG).
  4. dieterwunderlich.de
  5. buecher-wiki.de
  6. onlinekunst.de
  7. a b c d e Iris Radisch: Ilse Aichinger wird 75: Ein ZEIT-Gespräch mit der österreichischen Schriftstellerin. In: Die Zeit 45/1996.
  8. querelles-net.de
  9. a b dradio.de

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