Kiewer Reich

Kiewer Reich
Die ungefähre Ausdehnung der Kiewer Rus ca. 1000 n. Chr.

Die Kiewer Rus (ukrainisch Київська Русь, russisch Киевская Русь; früher selten auch Kiewer Russland) war ein mittelalterliches Großreich mit Zentrum in Kiew. Es wird als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland angesehen. Der Begriff selbst wurde erst in der Neuzeit vom russischen Historiker Nikolai Karamsin als zeitliche Abgrenzung gegenüber der späteren Wladimirer Rus und der Moskauer Rus geprägt. Die Zeitgenossen nannten das Land schlicht „Rus“ oder „russisches Land“ (русская земля).

Inhaltsverzeichnis

Geschichte der Kiewer Rus

Die Etymologie des Namens Rus hängt der wahrscheinlichsten Theorie zufolge mit dem Stamm der Rus zusammen. Die Kiewer Rus entstand im 9. Jahrhundert aus dem Zusammenschluss der slawisch-warägischen Herrschaftsgebiete in Osteuropa. Sie erstreckte sich von den großen Handelsstädten Alt-Ladoga und Nowgorod im Norden bis zu den Außenposten Beresan und Tmutorokan im Süden, von den alten Städten Galitsch und Isborsk im Westen bis zu den Neugründungen Jaroslawl und Murom im Osten.

Dieses frühmittelalterliche Großreich, dessen riesiges Gebiet von Ostslawen, Finnen und Balten, sowie (marginal) von iranischen und turkstämmigen Völkern bewohnt wurde,[1] wurde von den hauptsächlich aus Schweden stammenden Warägern oder Rus beherrscht, die den Großteil der Adels-, Händler- und Kriegerschicht bildeten. Die dominierende Kultur und Sprache war jedoch die Slawische, und die Waräger erfuhren bereits nach wenigen Generationen die vollständige Slawisierung.

Das 10. Jahrhundert kennzeichnete den Höhepunkt der Kiewer Macht, als Fürst Swjatoslaw das Chasaren-Reich zerstörte und vorübergehend weite Teile des Balkans (unter anderem das Bulgarische Zarenreich) eroberte.

Durch den hauptsächlich auf Konstantinopel ausgerichteten Handel kam es, trotz anfänglicher Eroberungsversuche seitens der Rus, zu engen Kontakten mit dem Byzantinischen Reich, die zur christlichen Missionierung und schließlich 988 zum Übertritt der Rus zum orthodoxen Glauben führten. So entstand zur ersten Jahrtausendwende aus der Verschmelzung von Skandinaviern und Slawen mit byzantinischer Kultur und Religion das Volk der Ostslawen, aus dem später Russen, Ukrainer und Weißrussen hervorgegangen sind.

Die Kiewer Fürsten waren hoch angesehen und heirateten in ganz Europa; so schlossen sie dynastische Verbindungen unter anderem mit Norwegen, Schweden, Frankreich, England, Polen, Ungarn, dem Byzantinischen und dem deutschen Reich. Eine Blütezeit erreichte die Kiewer Rus unter den Großfürsten Wladimir dem Heiligen (978–1015) und Jaroslaw dem Weisen (1019–1054). Letzterer ließ im ganzen Reich nach byzantinischem Vorbild viele Kirchen, Klöster, Schreibschulen und Festungsanlagen errichten, reformierte die ostslawische Gesetzgebung und hielt sie erstmals schriftlich fest (Russkaja Prawda) und gründete in Kiew die erste ostslawische Bibliothek.

Eine Belastung für die Kiewer Rus war die geographische Randlage in Europa an der Grenze zur asiatischen Steppe, aus der ständig neue Reitervölker wie Alanen, Petschenegen oder Kyptschaken kamen, die das Reich mit ihren Überfällen immer im Kriegszustand hielten. Das zweite große Problem war die Erbfolgeregelung nach dem Senioratsprinzip, die bei fast jedem Thronwechsel zu Bürgerkriegen und ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zu immer mehr Aufspaltungen des Reiches führte.

Nach dem Tod des mächtigen Großfürsten Wladimir Monomach (1125), der die zerstrittenen Fürsten noch einmal einen konnte, kam es zum endgültigen Zerfall des Kiewer Reiches. Die Teilfürstentümer wurden jedoch weiterhin alle von Fürsten aus dem Geschlecht der Rurikiden regiert. Den ab 1223 einfallenden Mongolen fiel es dadurch aber leicht, die ostslawischen Fürstentümer nacheinander zu unterwerfen.

Zeittafel der Geschichte der Kiewer Rus

Sophienkathdrale im Nowgoroder Kreml: das zweitälteste erhaltene Gebäude einer russisch-orthodoxen Kirche
  • ca. 750: Skandinavische Siedlung in Staraja Ladoga (Alt-Ladoga).
  • ca. 838: Entstehung eines Staates Rus am Dnepr/Dnipro.
  • 844: Ibn Chordadhbeh schreibt nieder, dass die Rus "Eunuchen, männliche Sklaven, weibliche Sklaven, Biber- und Marderfelle sowie andere Pelze" verkaufen.
  • 854–856: Wahrscheinliche Ankunft von 'Fürst' Rurik aus Skandinavien in Rurikowo Gorodischtsche.
  • ca. 858: Rurik erobert das Gebiet um Kiew, das zuvor unter magyarischer und chasarischer Oberherrschaft stand.
  • 859: Laut Nestorchronik erheben die Waräger Zins von den Slawen, Finnen und Esten.
  • 860: Erster Angriff der Rus auf Konstantinopel.
  • 862: Laut Nestorchronik kommt es zu Kämpfen zwischen Einheimischen und Warägern, die zur Vertreibung der Waräger führen. Danach reist eine Delegation der Slawen, Finnen und Esten nach Schweden und lädt die warägischen Rus dazu ein, über die zerstrittenen Stämme zu herrschen.
  • 864–883: Die Rus überfällt und plündert islamische Städte am Kaspischen Meer.
  • 865: Erneuter Angriff der Rus auf Konstantinopel.
  • ca. 868: Die Rus unter Askold und Dir übernimmt die Kontrolle über die slawische Stadt Kiew.
  • 882: Oleg/Helgi wird Fürst von Kiew: Gründung der Kiewer Rus durch die Vereinigung der Warägerherrschaften im Norden (um Nowgorod) mit denen im Süden (um Kiew).
  • 902: 700 Söldner aus der Rus sind in byzantinischen Diensten an einer Militäraktion auf Kreta beteiligt.
  • 907-913: Feldzüge der Rus gegen das Byzantinische Reich sowie gegen islamische Länder.
  • 907: Flottenangriff der Rus auf Konstantinopel, der byzantinische Kaiser zahlt Tribut und bietet Handelsprivilegien an.
  • 920: Der arabische Handelsreisende Ibn Fadlan trifft die Rus in Bolgar an der Wolga und schreibt seinen berühmten Bericht über die Wikinger der Rus.
  • ca. 930: Igor, Fürst der Wolga-Rus, übernimmt die Herrschaft in Kiew.
  • 944: Friedensvertrag zwischen der Kiewer Rus und dem Byzantinischen Reich.
  • ca. 945: Der aufständische Stamm der Drewljanen tötet Igor. Olga wird Fürstin von Kiew.
  • 955: Swjatoslaw, der Sohn von Igor/Ingvarr und Olga/Helga lässt sich taufen, bleibt aber nur oberflächlich christianisiert.
  • 957: ernst gemeinte Taufe von Fürstin Olga durch byzantinische Priester.
  • 965: Die Rus unter Swjatoslaw zerstört die Festung Sarkel und Itil, die Hauptstadt des Chasarenreichs, überfällt islamische Gebiete, erobert Küstengebiete an der Ostsee und führt Krieg gegen die Wolga-Bulgaren, um die östlichen Handelswege in den Orient unter ihre Kontrolle zu bekommen.
  • 967–969: Feldzug der Rus unter Swjatoslaw quer durch den ganzen Balkan. In Thrakien nimmt Swjatoslaw 80 Städte an der Donau ein und legt sich den Zarentitel des bulgarischen Herrschers zu, der zum Vasall des russischen Großfürsten degradiert wurde. Swjatoslaw verkündet die geplante Verlegung seiner Hauptstadt von Kiew nach Preslaw an der Donau, weil dort "der Mittelpunkt seines Reiches läge".
  • 969: Die Rus unterwirft die Chasaren.
  • 971: nach einer verheerenden Niederlage gegen die byzantinische Armee trifft Swjatoslaw an der Donau mit dem byzantinischen Kaiser Johannes Tsimiskes zusammen und schließt mit ihm einen Friedensvertrag, der ihn zum Verzicht auf Bulgarien und zur Rückkehr in die Kiewer Rus verpflichtet. Der byzantinische Chronist Leo Diaconus schreibt daraufhin sein berühmtes Portrait von Swjatoslaw nieder ('blond, blauäugig, Schnurrbart, rasiertes Haar bis auf zwei Haarlocken').
  • 972: Swjatoslaw wird auf dem Rückweg in sein Reich an den Dnjepr-Stromschnellen von Petschenegen getötet.
  • 972–980: Jaropolk I. ist Fürst von Kiew.
  • 980–982: Wladimir Swjatoslawitsch wird Großfürst von Kiew und schlägt Aufstände slawischer Stämme nieder.
  • 987: Wladimir Swjatoslawitsch lässt sich von byzantinischen Priestern in Kiew taufen. Daraufhin heiratet er die purpurgeborene byzantinische Prinzessin Anna. Damit wird dem Fürsten der Rus als bis dato einzigem europäischen Herrscher die Ehre zu Teil, eine Tochter eines Kaisers von Byzanz zu ehelichen. Dem deutschen Kaiser Otto III. ist diese Ehre kurz zuvor verwehrt worden.
  • 988: Großfürst Wladimir I. (der Heilige) bekehrt die Rus zum orthodoxen Glauben. In Kiew werden heidnische Tempel zerstört und slawische Götzenbilder in den Dnjepr geworfen (siehe auch Slawische Mythologie).
  • 990–1015: Krieg zwischen der Rus und den Petschenegen.
  • 1024: Schlacht von Listwen: Im Kampf der Söhne Wladimirs um die Nachfolge unterliegt Jaroslaws Warägertruppe unter Jakun den slawischen Kontingenten seines Bruders Mstislaw.
  • 1043: Letzter Flottenangriff der Kiewer Rus auf Konstantinopel, der erfolglos endet.
  • 1097: auf dem Fürstenrat von Ljubetsch wird das Senioratsprinzip durch die Primogenitur ersetzt
  • 1113–1125: Wiedererstarkung der zentralisierten Macht in Kiew durch Wladimir Monomach.
  • 1185: Feldzug des Fürsten Igor Swjatoslawitsch von Nowgorod-Sewersk, der im Igorlied beschrieben ist.
  • 1223: Zum ersten Mal erscheinen die Mongolen in der Rus; die Schlacht an der Kalka endet mit einer bitteren Niederlage für die Rus.
  • 1237–1239: Erster Zug der Mongolen unter Batu durch die nördliche Rus.
  • 1240–1242: Zweiter Zug der Mongolen unter Batu durch die südliche Rus und Zerstörung von Kiew am 6. Dezember 1240 nach 3 Monaten Belagerung. Dieses Ereignis betrachten manche als Ende der Kiewer Rus.

Das Erbe der Kiewer Rus

Das Erbe des Kiewer Reichs ist seit dem 19. Jahrhundert in der russischen, ukrainischen und weißrussischen Historiographie umstritten. Dabei handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung nicht um eine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage. Dies entspricht dem Paradigma der Nationalhistoriographien, welche multiethnische Großreiche des Mittelalters als Vorläufer des Nationalstaaten deuten. (So bewertet z. B. die weißrussische Nationalhistoriographie das Großfürstentum Litauen als weißrussisches Staatsgebilde, während die litauische Historiographie es als den ersten litauischen Staat ansieht.) Eine direkte Herrschaftsfolge zwischen dem Kiewer und Moskauer Reich ist seit dem 16. Jahrhundert in das russische Geschichtsverständnis eingegangen. Diese Herrschaftsfolge ist auch in andere Historiographien eingegangen, wobei die russische Geschichte in die Epochen des Kiewer, Moskauer, Russischen und des Sowjetischen Reichs gegliedert wird. In der sowjetischen Historiographie wurde das Kiewer Reich als ostslawisches Reich interpretiert, welche in einer Einheit existiert hätten. Das Kiewer Reich war aber kein Nationalstaat, sondern ein multiethnisches Reich, wobei auch die Slawen, welche die Bevölkerungsmehrheit stellten, noch nicht in die drei heutigen ostslawischen Völker aufgeteilt waren, sondern in eine Vielzahl unterschiedlicher Stämme. [2] Die Sowjetunion verstand sich seit der Zeit des Stalinismus als ein erneuter "gemeinsamer Staat der Ostslawen" in ihrer modernen Ausprägung und leitete daraus die Berechtigung ab, die als ostslawisch angesehen Gebiete (z.B. das damalige Ostpolen) in sich (teilweise gegen deren Widerstand) zu "vereinen".

Literaturangaben und Anmerkungen

  1. Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich, a. a. O., S.  19–21, nennt namentlich folgende Völker: Ischoren (Ingrier), Karelier, Lappen, Merja, Mordwinen, Muroma, Ostjaken, Permjaken, Samojeden, Syrjänen, Ves’, Wepsen, Wogulen und Woten.
  2. Vgl. Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, a. a. O., S. 37.

  • Ernst Kunik: Die Berufung der schwedischen Rodsen durch die Finnen und Slawen. Eine Vorarbeit zur Entstehungsgeschichte des russischen Staates. St. Petersburg 1845
  • Gottfried Schramm: Altrusslands Anfang Freiburg 2002 ISBN 3793092682
  • Simon Franklin und Jonathan Shepard: The Emergence of Rus 750-1200 London 1998 ISBN 058249091X (Engl.)
  • David Nicolle und Angus McBride: Armies of medieval Russia 750-1250. Oxford 2001 ISBN 1855328488 (Engl.)
  • Janet Martin: Medieval Russia 980-1584 Cambridge 1995 ISBN 0521368324 (Engl.)
  • Eva Verma: „Heiratspolitik in der Kiewer Rus“. In: "...wo du auch herkommst" Binationale Paare durch die Jahrtausende. Frankfurt 1993 ISBN 3763801960 (S. 35 - 40, Historische Karte)

Siehe auch


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