- Johannes von Müller
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Johannes von Müller (* als Johannes Müller am 3. Januar 1752 in Schaffhausen; † 29. Mai 1809 in Kassel), von Leopold II. am 6. Februar 1791 als Edler von Müller zu Sylvelden in den Adelsstand erhoben, war ein Schweizer Geschichtsschreiber, politischer Publizist und Staatsmann.
Inhaltsverzeichnis
Leben
Johannes Müller war der Sohn des Pfarrers und Lehrers Johann Georg Müller (1722–1779) und der Anna Maria Schoop (1724–1790) und der ältere Bruder des Schaffhauser Theologen, Pädagogen und Staatsmanns Johann Georg Müller (1759–1819).
Er studierte 1769–71 in Göttingen Theologie und begann dort, angeregt von August Ludwig von Schlözer, eine aufsehenerregende lateinische Abhandlung über den kimbrischen Krieg, die 1772 in Zürich erschien. Freundschaft u. a. mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Johann Georg Jacobi, Beginn der Korrespondenz mit Friedrich Nicolai und Mitarbeit an dessen Allgemeiner Deutscher Bibliothek (ADB).
Er legte 1772 das theologische Examen in Schaffhausen ab und wurde Professor der griechischen Sprache am dortigen Collegium Humanitatis. 1773 wurde er Mitglied der Helvetischen Gesellschaft und begründete seine Freundschaft mit Karl Viktor von Bonstetten. 1774–75 war er Hauslehrer der Söhne des wohlhabenden Staatsrates Jacob Tronchin (1717–1801) in Genf; in dieser Zeit hatte er Kontakt zu Voltaire. 1776–1780 lebte er am Genfersee als Hauslehrer, Gesellschafter und Privatgelehrter bei dem Amerikaner Francis Kinloch (1755–1826), dem Philosophen Charles Bonnet und dem ehemaligen Genfer Generalprokurator Jean-Robert Tronchin (1710–1793). Müller stand in regem Briefwechsel mit führenden europäischen Aufklärern und Staatsmännern (in der Schweiz z. B. mit Gottlieb Emanuel von Haller (1735–1786), Johann Heinrich Füssli (1745–1832), Beat Fidel Zurlauben etc.), die ihn ermunterten, seine Schweizer Geschichte zu vollenden, für die er umfangreiche Quellenbestände exzerpierte. 1775–1780 erkundete er jährlich die meisten Schweizer Gegenden, 1778–1780 hielt er universalgeschichtliche Vorlesungen.
1780 erschien der erste Band von Die Geschichten der Schweizer in Bern (mit dem fingierten, programmatischen Druckort Boston) und erregte im deutschen Sprachraum Aufsehen.
Nach einem Aufenthalt in Berlin im Winter 1780/81, wo er von Friedrich dem Großen empfangen, aber nicht beschäftigt wurde, wirkte er 1781–82 als Professor der Geschichte und Statistik am Collegium Carolinum in Kassel. Im November 1782 wurde er dort Subbibliothekar. In Kassel war Müller kurz Mitglied des Illuminatenordens, andererseits stand er dort auch, wie seine Freunde Georg Forster und Samuel Thomas Sömmerring, dem Rosenkreuzerorden nahe. 1782 veröffentlichte er anonym anlässlich des Deutschlandbesuches von Papst Pius VI. seine gegen Joseph II. gerichtete Schrift Reisen der Päpste.
Müllers Freundschaft mit Johann Gottfried Herder, der geschichtsphilosophisch stark auf ihn wirkte, wurde im März 1782 begründet, als Müller seinen Bruder Johann Georg in Weimar besuchte, der bei Herder als Privatschüler den Winter 1781/82 verbrachte (beide Brüder Müller waren ab 1805 an der ersten Herder-Werkausgabe als Mitherausgeber beteiligt). Dort kam es auch zur ersten Begegnung mit Johann Wolfgang Goethe.
Der Mainzer Kurfürst, Erzbischof und Reichserzkanzler Friedrich Karl Joseph von Erthal berief Müller, nachdem er die Jahre 1783–85 wieder als Privatgelehrter in Genf, Schaffhausen und Bern verbracht hatte, 1786 als Hofbibliothekar nach Mainz. Dort vollendete er die Bände I, II und III.1 seiner Schweizer Geschichte in einer Neufassung (die Bände III.2, IV und V.1 erschienen erst 1795, 1805 und 1808). Er veröffentlichte 1787 (in Leipzig) anonym die Schrift Darstellung des Fürstenbundes und sprach sich darin gegen eine habsburgische Übermacht im Reich und Europa und für ein Gleichgewicht der Mächte aus. In dieser Zeit begann die Freundschaft mit Friedrich Heinrich Jacobi. 1787 unternahm er diplomatische Reisen nach Rom (Koadjutorwahl Karl Theodor von Dalbergs) und in die Schweiz. 1788 wurde er als kurmainzischer wirklicher geheimer Legations- und Konferenzrat wichtiger politischer Berater des Kurfürsten, im selben Jahr auch Ratsherr in Schaffhausen. 1791 wurde er kurmainzischer Staatsrat. Müller war an der Berufung von Georg Forster und Wilhelm Heinse nach Mainz massgeblich beteiligt und war Mitarbeiter an der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung.
Kurz vor der Etablierung der Mainzer Republik wurde Müller 1792 von Kaiser Franz II. nach Wien berufen, wo er u. a. als Diplomat an der Geheimen Hof- und Staatskanzlei und ab 1800 als Kustos an der Hofbibliothek wirkte. In dieser Zeit ergab sich eine Freundschaft u. a. mit Joseph von Hammer-Purgstall und Erzherzog Johann von Österreich. Müller besuchte die Schweiz letztmals 1797 auf diplomatischer Mission und 1804 (Besuch u. a. bei Anne Louise Germaine de Staël und August Wilhelm Schlegel in Coppet).
1802 benützte der junge Schaffhauser Friedrich von Hartenberg (1780–1822) Müllers gleichgeschlechtliche Veranlagung, um ihn zur Herausgabe großer Summen zu bewegen, indem er einen ungarischen Grafen Louis Battyani Szent Ivany fingierte. Unter diesem Namen führte Hartenberg neun Monate lang mit Müller einen Briefwechsel, in dem er den Wunsch nach einer dauerhaften Lebensgemeinschaft suggerierte. Müller überwies seinem vermeintlichen Freund sein ganzes Vermögen und weitere ihm anvertraute Gelder. Als der Betrug entdeckt wurde, verklagte Müller Hartenberg, wobei sich letzterer verteidigte, er sei jahrelang von Müller sexuell missbraucht worden. Während Hartenberg zu elf Monaten Haft verurteilt wurde, gab sich das Gericht bei Müller mit der Erklärung zufrieden, dass er nie homosexuelle Handlungen begangen habe. Eine umfassende Studie zu dieser Affäre steht noch aus.[1][2]
Nach diesem Skandal, der sog. Hartenbergaffäre, begab sich Müller 1804 nach Berlin, wohin er als Hofhistoriograph des Hauses Brandenburg mit geheimem Ratscharakter berufen worden war. Er wurde auch ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. In Berlin pflegte er Bekanntschaften u. a. mit Alexander von Humboldt, Zacharias Werner und Prinz Louis Ferdinand.
Müllers skandalträchtige Berliner Rede im Januar 1807 auf Friedrich den Großen, De la gloire de Frédéric, die in ein Lob Napoleons einmündete, wurde von Goethe umgehend ins Deutsche übersetzt und publiziert.
Auf persönliche Veranlassung Napoleons wurde Müller 1807 Staatsminister im Königreich Westphalen unter König Jérôme. Müller sah sich dieser Aufgabe jedoch nicht gewachsen und bat um seine Entlassung. Jérôme entließ ihn am 26. Februar 1808 aus diesem Amt, das er seinem Günstling Pierre Alexandre le Camus, Graf von Fürstenstein, gab, und Müller wurde statt dessen Direktor des öffentlichen Unterrichts im Königreich Westphalen. Dabei setzte er sich für zahlreiche von der westfälischen Verwaltung bedrängte Bildungsstätten ein (etwa für die bedrohte Universität Göttingen, wo er seinen alten Freund Christian Gottlob Heyne unterstützte). Gegen die Landsmannschaften ging er unnachgiebig vor und hielt die Universitätsbehörden zu scharfer Aufsicht an.[3] Aus Göttingen berichtete ihm hierzu regelmäßig informell Christoph Meiners, [4] u.a. über den in studentischen Fragen gemässigten amtierenden Prorektor Johann Gottfried Eichhorn.[5] Müllers Nachfolger als Direktor des öffentlichen Unterrichts wurde der frühere Göttinger Staatsrechtler Justus Christoph Leist (1770–1858).
Müller stand zeitlebens in engem Briefkontakt mit Intellektuellen, Staatsmännern und Freunden in Europa und Übersee: als Epistolograph, insbesondere durch die 1798 anonym erschienen Briefe eines jungen Gelehrten (an Karl Viktor von Bonstetten), wirkte er stark auf die Frühromantiker. Sein umfangreicher Nachlass, darunter rund 20.000 Briefe an ihn, wird in der Stadtbibliothek Schaffhausen aufbewahrt.
Sein gedrungener, an antiken Vorbildern (v. a. Tacitus, Cäsar und Thukydides) orientierter deutscher Prosastil wurde einerseits bewundert (z. B. von Friedrich Gundolf und dem George-Kreis), aber auch heftig abgelehnt und karikiert.
Wirkung
Müller war u. a. Anreger der Walhalla bei Regensburg (König Ludwig I. von Bayern war ein grosser Bewunderer Müllers und stiftete auch sein Grabmal in Kassel) sowie der Monumenta Germaniae Historica; er führte den Begriff Bundesrepublik (nach Montesquieu) in die deutsche Sprache ein.
Als patriotischer Nationalgeschichtsschreiber wie auch als teleologisch-providentiell ausgerichteter Universalhistoriker wirkte er als Förderer und Vorbild stark auf die schweizerische und deutsche Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (z. B. Arnold Hermann Ludwig Heeren, Leopold von Ranke, Friedrich von Raumer oder Johann Friedrich Böhmer), sein Werk ist ein originelles Beispiel narrativ-literarisch durchgestalteter, politisch aufgeladener Geschichtsschreibung im Übergang von der Aufklärungshistorie zum Historismus.
Seit 1950 haben sich v. a. Edgar Bonjour und seine Schüler, Karl Schib (1898–1984), Barbara Schnetzler (1940–2005), Matthias Pape und die Editoren der Bonstettiana um die Müller-Forschung verdient gemacht.
Aufgrund seiner abrupten Parteinahme für Napoleon und seiner verhältnismässig offen gelebten und auch in seinem Werk überraschend präsenten Männerliebe, die ihn aufgrund seiner tiefen Frömmigkeit schwer belastete, war er als Person und Autor im 19. und 20. Jahrhundert Ziel z. T. heftiger Diffamationen, neben dem Berliner Nordsternbund, dem unter anderem Adelbert von Chamisso angehörte, und den Heidelberger Romantikern trugen u. a. Eduard Fueter (1876–1928), Friedrich Meinecke oder Emil Ermatinger (1873–1953) zum negativen Bild Müllers in der Geistesgeschichte bei; seine Mittlerstellung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung z. B. wurde Müller als Charakterschwäche ausgelegt, die Bewunderung der Zeitgenossen als Verblendung und Überschätzung dargestellt.
Auch die Vereinnahmung Johannes von Müllers durch rechtskonservativ-nationale Kreise (z. B. durch Gonzague de Reynold oder im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung der 30er Jahre) und die methodische Kritik liberaler und sozialhistorisch orientierter Forscher des 19. und 20. Jahrhunderts an Müllers Schweizergeschichte haben bis heute zu Abwehrreflexen der kritischen Forschung gegenüber Johannes von Müllers Werk und seiner Person geführt.
Neuere Lexika und Handbücher zur Historiographiegeschichte zählen Müller meist zu den Epigonen oder erwähnen ihn gar nicht.
Stimmen
Johann Wolfgang von Goethe: Unser abgeschiedener Freund war eine von den seltsamsten Individualitäten, die ich gekannt habe. Er ist eine Natur, dergleichen auch nicht wieder zum Vorschein kommen wird.
Friedrich Schiller verneigte sich vor Müller im letzten Akt seines Wilhelm Tell, von der Ermordung König Albrechts heisst es: ein glaubenwerther Mann, Johannes Müller bracht' es von Schaffhausen.
Arno Schmidt setzte sich 1959 in seinem für den SDR verfassten Radio-Essay Johannes von Müller oder vom Gehirntier mit dem umfangreichen Werk und der Person Johannes von Müllers auseinander (abgedruckt in: Belphegor. Nachrichten von Büchern und Menschen. Karlsruhe 1961).
Paul Derks widmete Müller 1990 in seinem Kompendium zum Diskurs von "Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750 - 1850" (Die Schande der heiligen Päderastie) einen umfassenden kulturkritischen Essay Ein glaubenswerter Mann, Johannes Müller.
Quellenangaben
- ↑ Bernd-Ulrich Hergemöller: Mann für Mann. Suhrkamp, Stuttgart, 2001, ISBN 3-518-39766-4 (S. 527ff.)
- ↑ Karl Henking: Johannes von Müller 1752–1809. Band 2, Stuttgart/Berlin 1909–28 (S. 545-86).
- ↑ Otto Deneke: Alte Göttinger Landsmannschaften. Göttingen 1937, S. 55 ff.
- ↑ Auszugsweise bei Otto Deneke: Alte Göttinger Landsmannschaften. Göttingen 1937, S. 57 ff.
- ↑ So z.B. das Zitat bei Otto Deneke aaO., S. 58 ff.
Literatur
- Werkausgaben
- André Weibel (Hrsg.): Johannes v. Müller / Johann Georg Müller. Briefwechsel und Familienbriefe 1766–1789. 6 Bde. Wallstein, Göttingen 2009–11. ISBN 3-8353-0453-4
- Stefan Howald (Hrsg.): "In kleinen Staaten ersterben große Gedanken aus Mangel großer Leidenschaften." Begegnungen mit Johannes von Müller. Ein Lesebuch . Wallstein, Göttingen 2003. ISBN 3-89244-601-6
- Doris und Peter Walser-Wilhelm (Hrsg.): Bonstettiana. Wallstein/Lang, Bern/Göttingen 1996ff. ISBN 3-906757-90-0
- Doris und Peter Walser-Wilhelm (Hrsg.): Allgemeine Aussicht über die Bundesrepublik im Schweizerland. Erstausgabe der Fassung 1776–77. 2 Bde. Ammann, Zürich 1991 (franz./dt.). ISBN 3-250-50000-3
- Eduard Haug (Hrsg.): Der Briefwechsel der Brüder Johann Georg Müller und Johannes v. Müller 1789–1809. Huber, Frauenfeld 1893.
- Johann Georg Müller (Hrsg.): Johannes von Müllers sämmtliche Werke. 27 Bde. Cotta, Stuttgart 1810–19, 1831–35 (2. Aufl. in 40 Bdn.).
- Johannes von Müller: Vue générale de l'histoire du genre humain. 2 Bde. Cotta, Tübingen 1817–19.
- Sekundärliteratur
- Doris und Peter Walser-Wilhelm, Marianne Berlinger Konqui (Hrsg.): Geschichtsschreibung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Umkreis Johannes von Müllers und des Groupe de Coppet. Slatkine/Champion, Paris/Genf 2004. ISBN 2745312200
- Dirk Sangmeister: „Was ist der Tand von Ruhm und was der Traum des Lebens!“ Johannes von Müller und die „Gallerie preussischer Charaktere“. In: Bargfelder Bote, Lfg. 187 (1994), S. 1-18.
- Paul Derks: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750–1850. Rosa Winkel, Berlin 1990. ISBN 3-921495-58-X
- Matthias Pape: Johannes von Müller – seine geistige und politische Umwelt in Wien und Berlin 1793–1806. Franke, Bern 1989. ISBN 3-317-01662-0
- Michael Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus. Johannes von Müller und Friedrich Christoph Schlosser. Lang, Frankfurt am Main 1989. ISBN 3-631-40739-4
- Ralph Marks: Philosophie im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Historismus. Studien zu Kant, Johannes von Müller und Dilthey. Lang, Frankfurt am Main 1988. ISBN 3-631-40550-2
- Christoph Jamme, Otto Pöggeler (Hrsg.): Johannes von Müller - Geschichtsschreiber der Goethezeit. Meili, Schaffhausen 1986. ISBN 3858051314
- Karl Schib: Johannes von Müller 1752–1809. Augustin, Thayngen-Schaffhausen 1967.
- Paul Requadt: Johannes von Müller und der Frühhistorismus. Drei Masken, München 1929.
- Karl Henking: Johannes von Müller. 2 Bde. Cotta, Stuttgart/Berlin 1909–28.
- Franz Xaver von Wegele: Müller, Johannes von. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 22, Duncker & Humblot, Leipzig 1885, S. 587–610.
- Matthias Pape: Müller, Johannes v.. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 18, Duncker & Humblot, Berlin 1997, S. 315–318.
Weblinks
- Literatur von und über Johannes von Müller im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Müller, Johannes von im Historischen Lexikon der Schweiz
- Karl Schib: Johannes von Müller. In: Schaffhauser Beiträge zur Geschichte. Band I 33 (1956), S. 91–112.
- Stefan Howald: Johannes von Müller – Historiker, Universalgelehrter, Föderalist.
- Biobibliographie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (PDF-Datei; 55 kB)
- Denkmal in Schaffhausen
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