Mächtegleichgewicht

Mächtegleichgewicht

Das Mächtegleichgewicht oder Gleichgewicht der Kräfte (engl.: balance of power) war ein Grundprinzip der englischen bzw. britischen Außenpolitik seit dem späten Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Wesentlichen bedeutet es, dass Großbritannien eine Vorherrschaft in Festlandeuropa durch nur eine einzige Macht (oder Mächtebündnis) nach Kräften zu verhindern sucht. Droht eine solche Vormachtstellung, so verbündet sich Großbritannien sofort mit der zweitmächtigsten Nation, um das Mächtegleichgewicht wiederherzustellen, und sei es durch Krieg.

Inhaltsverzeichnis

Belege für die Balance of Power

Die Theorie einer außenpolitischen Balance of Power hat, wie andere Theorien in den internationalen Beziehungen, den Anspruch, diese erklären zu können. "Belege" gibt es daher nicht für die Theorie, da sie auch an dem ein oder anderen Beispiel scheitert.

1386: Im Vertrag von Windsor verbünden sich England und Portugal dauerhaft gegen spanische Hegemonialbestrebungen. Mit englischer Hilfe gelingt es Johann von Avis, in der Schlacht von Aljubarrota die Spanier abzuwehren.

17011714 und 17401748: Im Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieg verbündete sich England bzw. das Vereinigte Königreich jeweils mit Österreich und den Niederlanden, um einen Machtgewinn Frankreichs zu verhindern.

1756-1763: Im Siebenjährigen Krieg droht Preußen die Annihilation durch ein Mächtebündnis aus Frankreich, Österreich und Russland. In dieser Situation hält allein Großbritannien zu Preußen (während Österreich sich mit seinem jahrhundertelangen Gegner Frankreich verbündet, "diplomatische Revolution des 18. Jahrhunderts") und unterstützt es mit Geldzahlungen. Die Niederlage kann schließlich durch einen Thronwechsel in Russland abgewendet werden. Es entsteht eine Pentarchie, ein System der Vorherrschaft der fünf Großmächte in Europa, das den Kontinent über ein Jahrhundert lang prägen wird.

1798-1815: Napoleon zeigte sich in dieser Zeit als überlegener Feldherr und Staatsmann und führte Frankreich zeitweilig zur Vorherrschaft in Europa. Nach der Dreikaiserschlacht war Österreich besiegt und Russland neutral. Einzig Großbritannien widersetzte sich noch Frankreich und wurde dafür 1806 mit einer Kontinentalsperre belegt, d.h. niemand durfte mehr mit Großbritannien handeln. Hier realisierte sich für Großbritannien der schlimmste anzunehmende Fall, und die Unabhängigkeit des Königreichs war unmittelbar bedroht, da es sehr stark auf Lebensmittelimporte angewiesen war und Absatzmärkte für seine industriellen Produkte (z.B. Textilien, Maschinen) benötigte. Dennoch hielt Großbritannien stand, und konnte in der Schlacht von Waterloo zusammen mit den Preußen Napoleon endgültig besiegen. Nach dem Sieg war Großbritannien jedoch nicht an einer dauerhaften Schwächung Frankreichs interessiert, sondern eher an einer Wiedereinbindung des Landes in das System der Großmächte, und es beteiligte sich auch nicht an der Heiligen Allianz zwischen Österreich, Preußen und Russland.

1870/1871: Im deutsch-französischen Krieg blieb Großbritannien neutral, ebenso wie Russland und Österreich-Ungarn, was wohl in verschiedenen Faktoren begründet liegt:

  • Preußen besaß mit Otto von Bismarck einen diplomatisch geschickten Realpolitiker an der Spitze, der Frankreich isoliert hatte.
  • Weiter manövrierte dieser Frankreich in eine Situation, in der die Kriegserklärung von den Franzosen ausging.
  • Vor dem Krieg war Frankreich ein Nationalstaat, das deutsche Gebiet aber ein zersplittertes Gefüge unabhängiger Staaten mit Österreich-Ungarn und Preußen als den mächtigsten Teilen. In einem rein preußisch-französischen Krieg wären die Karten relativ gleichmäßig verteilt gewesen. Ein machtpolitisches Eingreifen im Sinne der Balance of Power wurde in London offensichtlich als nicht notwendig gesehen. Vielleicht erwartete man auch ein Eingreifen Österreich-Ungarns zugunsten der Franzosen als Revanche für den Österreichisch-Preußischen Krieg von 1866.
  • Frankreich und Großbritannien waren Wettbewerber in den Kolonien, Preußen beteiligte sich hieran zu dieser Zeit nicht.
  • Die Vereinigung zum Deutschen Reich geschah erst im Zuge bzw. nach dem Krieg.

Nach dem Krieg wurde das Deutsche Reich unter preußischer Führung zur dominierenden Macht in Kontinentaleuropa und blieb es bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nach einigen diplomatischen und strategischen Ungeschicklichkeiten seitens des Deutschen Reiches wie dem Flottenwettrüsten und der Gründung eigener Kolonien verfolgte Großbritannien wieder seine traditionelle Politik der Balance of Power, gab seine Neutralität (splendid isolation) auf und verband sich mit dem schwächeren Frankreich 1904 in der Entente Cordiale, wodurch das Deutsche Kaiserreich, das unter Wilhelm II. nach Weltgeltung und einem "Platz an der Sonne", also Kolonien in Übersee, strebte, plötzlich weitgehend isoliert war. Im Ersten Weltkrieg schließlich kämpfte die Triple Entente aus Großbritannien, Frankreich und Russland gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn um die Vorherrschaft in Europa und der Welt.

1921-1935: Nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Inkrafttreten der Pariser Vorortverträge 1920 wurde Frankreich zur einflussreichsten Kontinentalmacht. Paris dominierte den cordon sanitaire, das Militärbündnis mit Polen, Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. Sowjetrussland, als zweite Großmacht auf dem Kontinent, erlitt 1920 vor Warschau im Polnisch-Sowjetischen Krieg eine Niederlage. Die britische Auseinandersetzung mit dem noch geschwächten Frankreich beschränkte sich auf die diplomatische Ebene: Keine Beteiligung an der Ruhrbesetzung 1923-1925, mäßigende Zurückhaltung in der Frage deutscher Reparationen (Dawesplan 1924, Youngplan 1929, Einstellung 1932), diplomatisches Eintreten für eine ordnungsgemäße Völkerbundabstimmung im Saargebiet 1935, Abschluss des bilateralen Flottenabkommens mit Deutschland 1935.

1936-1945: Nach heimlicher Aufrüstung und einseitiger Remilitarisierung des Rheinlandes durch Deutschland sowie einem Übergewicht der autoritären Regierungssysteme in Europa als Folge des Spanischen Bürgerkrieges stufte die Whitehall das Deutsche Reich als zukünftige Hegemonialmacht und Bedrohung auf dem Kontinent ein, jedoch betrieben einflussreiche Teile der britischen Politik bis 1939 die Politik des Appeasement: Indem man dem nationalsozialistischen Deutschland seine als legitim betrachteten territorialen Forderungen zugestand, hoffte man, einen neuerlichen Weltkrieg verhindern zu können, auf den das innenpolitisch geschwächte und mit seiner Kolonialpolitik ausgelastete Großbritannien nicht vorbereitet war. Als klassisches Beispiel dieser Politik gilt das Verhalten Neville Chamberlains auf der Münchner Konferenz 1938, als man Hitler völlig ohne Zustimmung der Tschechoslowakei das Sudetenland überließ. Im Zweiten Weltkrieg stand Großbritannien gemäß seiner Doktrin von Beginn an auf Seiten des innenpolitisch geschwächten Frankreich, dessen rasche Niederlage und Besetzung durch Nazi-Deutschland man allerdings nicht verhindern konnte. Als am 17. September 1939, knapp zwei Wochen nach Ausbruch des Weltkrieges, sowjetische Streitkräfte die östlichen Teile des verbündeten Polen besetzten (gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes), erfolgte daher keine Kriegserklärung an die Sowjetunion. Nach dem Sieg 1945 dominierte die Rote Armee jedoch weite Teile des Kontinents.

1946-1991: Gemäß der Doktrin wandte sich Großbritannien im Kalten Krieg gegen die sowjetische Hegemonie (ab 1955 Warschauer Pakt) und schloss sich der NATO an. Jedoch hatte sich der außenpolitische Spielraum als Folge der beiden Weltkriege durch den Zerfall des British Empire erheblich verringert. Nach der Suezkrise 1956, die zeigte, dass die europäischen Großmächte Frankreich und Großbritannien nicht mehr alleine handeln konnten, folgte eine enge Koordination mit der US-amerikanischen Außenpolitik.

Balance of Power heute

Großbritannien ist heute Mitglied der Europäischen Union und nur noch von befreundeten Staaten umgeben. Anstatt der Balance of Power ist heute die Special Relationship (engl. für Besondere Beziehung) mit den USA das bestimmende Merkmal der Außenpolitik, das die Unabhängigkeit und Freiheit des Vereinigten Königreichs garantieren soll.

Die Politik Großbritanniens ist zurückhaltend hinsichtlich einer weiteren europäischen Integration. Einige Briten sehen in der EU noch immer ein Instrument Deutschlands oder Frankreichs, das die Unabhängigkeit Großbritanniens gefährdet. So ist Großbritannien kein Mitglied der Eurozone. Auch steht Großbritannien einer stärkeren militärischen Integration der EU außerhalb der NATO ablehnend gegenüber.

Neorealistische Denker als Mächtegleichgewichttheoretiker

  • Waltz, K. N. (1979): Theory of International Politics. New York: Random House.

Waltz stellt die Internationalen Beziehungen systemisch dar, bestehend aus Struktur und den einzelnen Staaten als "interacting units". Seine Balance-of-Power (BOP)-Theorie besagt, dass Staaten ein Interesse haben, stärkere Staaten zu "balancen", d.h. ihre Macht auszugleichen, damit diese nicht hegemonial werden und alle dominieren. Waltz meint, eine bipolare Struktur sei die beste, da am ehesten friedenserhaltende. Wichtig für sein Theorieverständnis sind vor allen die Kapitel 1, 4-6.

  • Walt, S. (1987): The Origins of Alliances.

Walt stellt die BOP-Theorie auf eine neue Grundlage und spricht von Balance-of-Threat (BOT), da nicht alle Staaten in balancing-Aktivitäten einsteigen, sondern nur gegenüber jenen, die sie fürchten. Z.B. haben die westeuropäischen Staaten im Kalten Krieg versucht, ein Gleichgewicht gegen den Warschauer Pakt zu erhalten, aber sie haben sich nicht untereinander als bedrohlich (und demzufolge nicht als "ausgleichungswürdig") empfunden.

  • Mearsheimer, J. J. (2001): The Tragedy of Great Power Politics. New York: W. W. Norton.

Mearsheimer versucht, nach dem Ende des Kalten Krieges die BOP-Theorie neu aufzustellen, da der (Neo-)Realismus in der Theoriedebatte geschwächt wurde, weil er das Ende des Kalten Krieges nicht vorhersagen oder erklären konnte. Mearsheimer selbst versteht sich als "offensive realist", d.h. er glaubt, dass Staaten nicht nur balancing-Aktivitäten verfolgen, sondern oft auch aggressiv sein müssen, um ihr Überleben zu sichern. Im Gegensatz dazu beschreibt er Waltz als "defensive realist", der das Überleben der Staaten nur durch balancing sichergestellt sieht. Mearsheimer gilt als relativ angriffslustiger Theoretiker, der andere Theorien (Neoliberalismus, Konstruktivismus etc.) stark kritisiert und heute v.a. vor einem aufstrebenden China warnt.

Siehe auch

Literatur

  • Winfried Baumgart, 2007: Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen. Band 6, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830 – 1878. 2. Auflage, Paderborn/München/Wien/Zürich, ISBN 978-3-506-73726-7.
  • Heinz Duchhardt, 1997: Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen. Band 4, "Balance of Power" und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785. Paderborn/München/Wien/Zürich, ISBN 978-3-506-73724-3.
  • Michael Erbe, 2004: Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen. Band 5, Revolutionäre Erschütterung und erneutes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785–1830. Paderborn/München/Wien/Zürich, ISBN 978-3-506-73725-0.
  • Evan Luard, 1992: The Balance of Power. The System of International Relations 1648 – 1815. New York, ISBN 0-312-06208-7.
  • Konrad Repgen, 1988: Der Westfälische Friede und die Ursprünge des europäischen Gleichgewichts. In: Ders., Von der Reformation zur Gegenwart. Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte, hrsg. von Klaus Gotto/Hans Günter Hockerts, Paderborn/München/Wien/Zürich, Seite 53–66, ISBN 3-506-77207-4.
  • Michael Sheehan, 1996: The Balance of Power. History and Theory. London/New York, ISBN 0-415-11931-6.
  • Paul W. Schroeder, 1994: The Transformation of European Politics 1763 – 1848. [Reihe Oxford History of Modern Europe], Oxford, ISBN 0-19-822119-3.
  • Arno Strohmeyer, 1994: Theorie der Interaktion. Das europäische Gleichgewicht der Kräfte in der Frühen Neuzeit. Wien/Köln/Weimar, ISBN 3-205-98216-9.
  • Arno Strohmeyer, 2006: Gleichgewicht der Kräfte. In: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Band 4, Friede – Gutsherrschaft, Stuttgart/Weimar, Seite 925–931, ISBN 978-3-476-01994-3.

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