Hallstein-Doktrin

Hallstein-Doktrin
Walter Hallstein 1969 während der Verleihung des Robert-Schuman-Preises

Die Hallstein-Doktrin war eine außenpolitische Doktrin der Bundesrepublik Deutschland von 1955 bis 1969. Sie besagte, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Deutschen Demokratischen Republik als „unfreundlicher Akt“ der Bundesrepublik gegenüber angesehen werden müsse. Die Gegenmaßnahmen der Bundesrepublik waren nicht festgelegt. Damit war eine weite Skala von wirtschaftlichen Sanktionen bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem betreffenden Staat möglich. Ziel war, die DDR außenpolitisch zu isolieren.

Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt gab die Hallstein-Doktrin auf. Sie war immer schwieriger zu handhaben und beschränkte auch die bundesdeutsche Außenpolitik.

Grundlage der Doktrin war der Alleinvertretungsanspruch, die Auffassung, dass die Bundesrepublik die einzige demokratisch legitimierte Vertretung des gesamten deutschen Volkes sei; die realsozialistische DDR hingegen sei den Tatsachen nach eine Diktatur. Dass nur die Bundesrepublik Deutschland die Deutschen international vertreten dürfe und es auch nur eine deutsche Staatsangehörigkeit gibt, wurde aus der Präambel des Grundgesetzes abgeleitet.

Benannt war die Doktrin nach Walter Hallstein (CDU), Staatssekretär im Auswärtigen Amt von 1951 bis 1958. Hallstein selbst ist nicht der Urheber, sie geht vielmehr auf eine Formulierung von Wilhelm Grewe, dem Leiter der politischen Abteilung im Außenministerium, vom 23. September 1955 zurück.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Staaten, die die DDR bis 1970 anerkannten
Konrad Adenauer 1955 in Moskau
Walter Ulbricht 1965 in Ägypten
Die Flaggen beider deutscher Staaten 1973 vor dem UNO-Gebäude in New York

Im September 1955 nahm die Bundesrepublik Deutschland im Zuge der Moskau-Reise Konrad Adenauers diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf; zuvor war der Kontakt zur östlichen Siegermacht stets über die alliierten Westmächte geführt worden. Eigentlich wollte die Bundesrepublik die kommunistischen Diktaturen (mit ihren Beziehungen zur DDR) nicht anerkennen, erklärte die Sowjetunion wegen ihrer Bedeutung jedoch zur Ausnahme. Mit Blick auf die beiden Volksrepubliken Polen und Ungarn wurde die Hallstein-Doktrin formuliert und im Dezember desselben Jahres auf einer Botschafterkonferenz in Bonn erstmals öffentlich verkündet: Die Aufnahme oder Unterhaltung von diplomatischen Beziehungen zur DDR wurde als unfreundlicher Akt angesehen (acte peu amical) und in der Regel mit dem Abbruch beziehungsweise der Nichtaufnahme diplomatischer Beziehungen beantwortet. Dem Alleinvertretungsanspruch zufolge habe nur die Bundesrepublik die demokratische Legitimation inne, im Ausland für das deutsche Volk zu sprechen.

Vorbild für die Doktrin waren sowohl die Weigerung der Vereinigten Staaten, in den ersten Jahren nach Etablierung des Kommunismus in China und der Sowjetunion mit diesen Staaten diplomatische Kontakte aufzunehmen, als auch das Vorgehen der Regierungen in den ebenfalls geteilten Staaten Korea und Vietnam. Gegenstück zur Hallstein-Doktrin seitens der DDR war die sogenannte Ulbricht-Doktrin.

Umstritten war die Hallstein-Doktrin in der bundesdeutschen Politik vor allem, weil man befürchtete, dass Staaten, die die DDR bereits diplomatisch anerkannt hatten, ihrerseits den Kontakt zur Bundesrepublik ablehnen könnten, was zu einer bundesdeutschen Isolierung führen könnte. Auch als Anfang 1956 in Bonn über eine vorsichtige Annäherung an Polen diskutiert wurde, geriet die Hallstein-Doktrin in die Kritik. Als im Winter 1957 die DDR in Kairo ein Büro eröffnete, das für den diplomatischen Kontakt mit dem gesamten arabischen Raum zuständig sein sollte, wandte die Bundesrepublik die Hallstein-Doktrin nicht an.

Bereits an der Außenministerkonferenz der Siegermächte 1959 in Genf nahmen zwei deutsche Delegationen teil. An den runden Tisch der Vier Mächte hatte man zwei weitere Tische herangerückt, einen in die Nähe der sowjetischen, den anderen in der Nähe der US-amerikanischen Delegation.

Tatsächlich abgebrochen wurden diplomatische Beziehungen lediglich zweimal: Im Fall des blockfreien, aber sozialistisch regierten Jugoslawien im Jahr 1957. Die Bundesregierung brach den diplomatischen Kontakt mit Jugoslawien auch gegen Proteste aus der CDU ab. Vertraglich vereinbarte Zahlungen wurden aber fortgesetzt und ein Generalkonsulat im Lande belassen. 1963 wurden auch die diplomatischen Kontakte zum sozialistischen Kuba Fidel Castros abgebrochen, nachdem der Staat die DDR anerkannt hatte.

Umgekehrt erfuhr die Bundesrepublik ähnliches, als sie 1965 Israel anerkannte. Nasser hatte Walter Ulbricht nach Kairo eingeladen und mit großen Ehren wie ein Staatsoberhaupt empfangen. Nasser erklärte zwar, er könne die DDR leider nicht anerkennen, aber trotzdem stellte die Bundesrepublik die deutsche Wirtschaftshilfe für Ägypten ein und nahm diplomatische Beziehungen zu Israel auf. Daraufhin brachen viele arabische Staaten die Beziehungen zu Westdeutschland ab, erkannten aber nicht – was befürchtet worden war – die DDR an.

Zunächst wurden lediglich DDR-Handelsdelegationen in einigen Ländern der Region eingerichtet. Zu einer Anerkennungswelle der DDR in der arabischen Welt kam es erst 1969, nachdem Ost-Berlin seit dem Nahostkonflikt 1967 eindeutig Stellung gegen Israel bezogen hatte: Irak, wo 1968 wieder die Baath-Partei an die Macht gekommen war, nahm als erstes arabisches Land diplomatische Beziehungen zur DDR auf.

Darüber hinaus entwickelte sich eine Art Wettlauf zwischen den beiden deutschen Staaten, in dem jeder versuchte, möglichst zuerst mit vielen Staaten diplomatische Beziehungen aufzubauen, um dadurch den jeweils anderen Staat auszustechen. Meist waren damit wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zugeständnisse verbunden. Ziele dieses Vorgehens waren vor allem die Länder der Dritten Welt, von denen viele in dieser Zeit von Kolonien zu unabhängigen Staaten wurden. Ein besonders markantes Beispiel für diesen Wettlauf war die sogenannte Guinea-Krise: Als das afrikanische Land Guinea 1958 unabhängig wurde, bemühten sich beide deutsche Staaten, dort einen Botschafter zu platzieren. Die DDR richtete eine Handelsvertretung ein, kurz darauf nahm der bundesdeutsche Botschafter die Arbeit in Guinea auf. 1960 schickte jedoch Guinea einen Botschafter in die DDR. Die Bundesregierung zog sofort ihren Botschafter aus Guinea ab, worauf die guineische Regierung erklärte, dass sie nie einen Botschafter nach Ost-Berlin entsandt habe. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Guinea wurden wiederhergestellt, die DDR war außenpolitisch beschädigt. Ähnliche Auswirkungen hatte die Hallstein-Doktrin bei verschiedenen internationalen Veranstaltungen, beispielsweise bei Sportwettkämpfen, bei denen bundesdeutsche Diplomaten das Aufziehen der DDR-Flagge und das Abspielen der DDR-Hymne zu verhindern versuchten.

Die Hallstein-Doktrin wurde mit der in der ersten Hälfte der 1960er Jahre begonnenen Neuorientierung der Ostpolitik unter Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger zunehmend inkonsequent angewandt: Nach der Geburtsfehlertheorie hob man hervor, dass die Satellitenstaaten der Sowjetunion die Beziehungen zur DDR nicht freiwillig, sondern unter sowjetischem Druck eingegangen seien; so wurde 1967 beispielsweise in Rumänien eine Handelsvertretung eingerichtet. Seit 1967 (Botschafteraustausch mit Rumänien 1967, Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien im Januar 1968) wurde die Hallstein-Doktrin im Rahmen der „neuen Ostpolitik“ bis 1969 allmählich abgebaut und nach 1970 endgültig aufgegeben. Der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Grundlagenvertrag) vom Dezember 1972 erkannte schließlich die Existenz des jeweils anderen deutschen Staates an und legte fest, dass keiner der beiden deutschen Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln könne.

Aber auch nach der Entspannung der deutsch-deutschen Beziehungen und der Aufnahme beider Staaten in die UN am 18. September 1973 blieb überwiegend die Auffassung bestehen, dass die Bundesrepublik Deutschland die alleinige rechtmäßige Vertreterin des gesamten deutschen Volkes sei, weil sie völkerrechtlich identisch mit dem Deutschen Reich sei. Hinzu kam die demokratische Legitimation der Bundesregierung.

Ein-China-Politik

Eine ähnlich ausgerichtete Politik verfolgt bis heute die Volksrepublik China in Bezug auf die Republik China (Taiwan), die als Provinz Chinas angesehen wird (Ein-China-Politik). Da die meisten Staaten den Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die Volksrepublik China vermeiden wollen, wird Taiwan international nur von wenigen Staaten anerkannt, obwohl es über alle anderen Attribute eines unabhängigen Staates verfügt („stabilisiertes De-facto-Regime“).

Siehe auch

Literatur

  • Rüdiger M. Booz: Hallsteinzeit. Deutsche Außenpolitik 1955–1972. Bouvier, Bonn 1995, ISBN 3-416-02526-1.
  • William Glenn Gray: Germany’s Cold War. The Global Campaign to Isolate East Germany, 1949–1969. University of North Carolina Press, Chapel Hill 2003, ISBN 978-0-8078-2758-1.
  • Werner Kilian: Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien. In: Zeitgeschichtliche Forschungen 7, Duncker & Humblot, Berlin 2001, ISBN 978-3-428-10371-3.
  • Alexander Troche: Ulbricht und die Dritte Welt. Ost-Berlins „Kampf“ gegen die Bonner „Alleinvertretungsanmaßung“. Palm und Enke, Erlangen 1996, ISBN 3-7896-0352-X.

Weblinks


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