Hessen (Stamm)

Hessen (Stamm)

Die Chatten [ˈxatən] (lat. Chatti), auch Katten geschrieben, waren ein germanischer Volksstamm, der im Bereich der Täler von Eder, Fulda und des Oberlaufes der Lahn seinen Siedlungsschwerpunkt hatte, was zu großen Teilen dem heutigen Niederhessen und Oberhessen, bzw. Nordhessen und z.T. Mittelhessen entspricht. Die Bezeichnung Hessen ist eine spätere Abwandlung des Stammesnamens der Chatten. Die Chatten sind damit die Namensgeber des modernen Hessen. Die Schreibung mit ‚Ch‘ gibt das germanische ‚h‘ wieder, welches als [x] ausgesprochen wird.

Inhaltsverzeichnis

Herkunft

Karte der germanischen Stämme um 50 n. Chr. (ohne Skandinavien)

Kerngebiet des chattischen Siedlungsraumes waren die Ebene von Fritzlar-Wabern und das Kasseler Becken sowie die westhessische Senkenlandschaft. Der Ursprung des Stammes liegt bis heute weitestgehend im Dunkeln, nach neuestem Forschungs- und Kenntnisstand wanderten die Chatten aber nicht als gesonderter Stamm in das Gebiet zwischen Rothaargebirge und Rhön ein. Vielmehr gerieten kleinere versprengte Sueben-Gruppen aus der Zeit des Ariovist sowie andere rhein-weser-germanische Völkerschaften und kleinere keltische Ethnien in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. unter die Oberhoheit eingewanderter elbgermanischer Neusiedler. Mit der Errichtung des Markomannen-Reiches unter Marbod, 3 v. Chr. in Böhmen geht der Abzug der elbgermanischen Bevölkerungsgruppen aus Hessen einher. Zeitgleich wandern neue, mit der rhein-weser-germanischen Kultur verbundene Gruppen ins nördliche Hessen ein und füllen das dort entstandene Machtvakuum. Im Vergleich zur eingesessenen Bevölkerung dürfte sich die Anzahl der Neusiedler auf einige hundert Waffen tragende Männer, sowie deren Familien beschränkt haben. Dieser als "chattischer Traditionskern" in der Wissenschaft angesehene Sippenverband hat vermutlich für die Ethnogenese des gesamten Stammes eine wichtige Rolle gespielt. Funde lassen darauf schließen, dass im späten 2. Jahrhundert n. Chr., zur Zeit der Markomannenkriege, ein erneuter Zuzug elbgermanischer Bevölkerungsgruppen einsetzt, der in seiner Größenordnung jedoch noch schwer abzuschätzen ist. Ob die Stammesbildung friedlicher Natur war oder kriegerisch erfolgte, liegt weiterhin im Dunkel der Geschichte verborgen und kann vorerst wohl noch nicht aufgeklärt werden.

Zeitlicher Abriss

Als die Ubier, die an der unteren Lahn und im Westerwald lebten, 39 v. Chr. vom römischen Feldherrn Marcus Vipsanius Agrippa auf linksrheinisches Gebiet umgesiedelt wurden, nahmen die Chatten mit Zustimmung der Römer zeitweise deren Land in Besitz. Nach Konflikten mit den Sugambrern und der Erkenntnis, dass die Römer Pläne zur Eroberung von Magna Germania (Großgermanien, das freie Germanien) hegten, zogen sie sich aus dem Gebiet der umgesiedelten Ubier zurück. Im Jahre 9 n. Chr. nahmen die Chatten an der Rebellion des Arminius gegen Varus teil und schlossen sich in den folgenden Jahren der anti-römischen Koalition unter Führung der Cherusker an. Andererseits soll ein chattischer Adliger mit Namen Gandestrius an der Ermordung des Arminius beteiligt gewesen sein, die in die Jahre 19-21 n. Chr. datiert wird. Im Jahre 15 n. Chr. wurde Mattium (nicht lokalisiert - die Altenburg in Niedenstein bei Kassel scheidet als Standort aus, da sie bereits früher von Sueben zerstört wurde), einer der Hauptorte der Chatten, beim Rachefeldzug des Germanicus restlos zerstört. Um ca. 58 n. Chr. kam es zu Kämpfen der Chatten mit ihren östlichen Nachbarn, den Hermunduren, um einen salzführenden Grenzfluss (vermutlich die Werra).

69 n. Chr. beteiligten sich die Chatten am Bataveraufstand unter der Führung des Julius Civilis. Gemeinhin werden die Bataver, die im Gebiet der späteren Niederlande ansässig waren, als ein nach inneren Konflikten abgespaltener und ausgewanderter, früherer Teil der Chatten angesprochen.

83 n. Chr. und 85 n. Chr. kämpften römische Truppen des Domitian in den sogenannten Chattenkriegen gegen Chatten, die im Vorland von Mainz im Taunus und im Gießener Becken lebten. Dabei gelang den Römern die Unterwerfung des Gebietes der Wetterau, was ein Bestandteil der Germanienpolitik Domitians (Neuordnung der Grenze) war. In der Folge entstanden die Grenzbefestigungen des Taunus- und Wetteraulimes. Die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Putsch des Saturninus 89 n. Chr. gegen Domitian werden gelegentlich als Zweiter Chattenkrieg Domitians bezeichnet. [1]

162 n. Chr. fielen die Chatten in Obergermanien und Rätien ein, 170 n. Chr. plünderten sie die römische Provinz Belgica. Um 213 n. Chr. begingen chattische Frauen Suizid, um nicht in die römische Sklaverei verschleppt zu werden.

Die Chatten in der Germania des Tacitus

Germanische Ratsversammlung, wie sie wohl auch bei den Chatten üblich war (Relief an der Marc-Aurel-Säule in Rom)

Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet in seiner Germania, dass die Chatten mehr als andere germanische Stämme Bergbewohner seien und aus diesem Grund über festere Körper, sehnigere Glieder und einen regsameren Geist verfügen. In ihrer Disziplin und ihrem Organisationsgeschick vergleicht Tacitus die Chatten mit den Römern. Wie die römischen Legionäre hörten sie auf die Befehle ihrer Heerführer, ständen in fester Schlachtordnung und verschanzten sich über Nacht. Des Weiteren nennt Tacitus einen Brauch der Chatten: Diese würden, sobald sie erwachsen seien, ihr Haupt- und Barthaar wachsen lassen und einer Gottheit weihen. Über dem getöteten Feind und den Beutewaffen schneiden sie sich Haupt- und Barthaar ab und verkünden, dass sie nun ihres Stammes und ihrer Eltern würdig seien und ihre Geburt bezahlt hätten.

Eingliederung in den fränkischen Stammesverband

Gegen Ende des 5. Jahrhunderts gerieten die Chatten wohl langsam unter die Oberhoheit der Franken und wurden unter der Herrschaft Chlodwigs I. endgültig in das fränkische Königreich eingegliedert. Das Gebiet der Chatten diente den Franken zudem als Ausgangsbasis für Feldzüge gegen die nördlich siedelnden Sachsen, die immer wieder in chattisches und fränkisches Gebiet eindrangen. Die Behauptung einer gewissen Teilautonomie der Chatten gegenüber den Franken führte dazu, dass sich ihr Stammesname, in abgewandelter Form, bis heute halten konnte. Die Eingliederung in das fränkische Stammeskönigtum führte allerdings auch dazu, dass aus dem Siedlungsgebiet der Chatten bzw. Hessen im Frühmittelalter kein eigenes Stammesherzogtum hervorging.

Missionierung der Chatten

Taufe germanischer Heiden (oben) Martyrium des Bonifatius in Friesland (unten)

Unter Oberherrschaft der bereits ab 498 zum Christentum übergetretenen Franken kamen von Westen her in das Stammesgebiet der Chatten schon früh irische Missionare, die mit der Christianisierung begannen und erste Stützpunkte aufbauten. Die von starkem Sendungsbewusstsein geprägten Missionare aus Irland und Schottland missionierten mit mehr oder weniger großem Erfolg die Bewohner des chattischen Stammesgebietes und versuchten sie zum Übertritt zum christlichen Glauben zu bewegen. Auch Bevölkerungsteile im benachbarten Thüringen waren von ihnen missioniert worden, wie aus Sendschreiben des Papstes an den späteren, vom Papst eingesetzten Missionar und Kirchenreformer Bonifatius hervorgeht.

Es wirkte also bereits eine, in Konkurrenz zur Römischen Kirche stehende, iro-schottische Kirchenorganisation im hessischen und thüringischen Raum, als Bonifatius hier auftrat. Nachgewiesene Spuren und Zentren dieser vorbonifatischen Mission ab der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts in Hessen finden sich in Büraburg, Hersfeld, Kesterburg, Amöneburg, Wetter, Schotten, dem Gießener Becken, der Wetterau und Würzburg. Die älteste Schicht der Kirchen (Eigenkirchen) ließen meist Laien bauen, insbesondere der örtliche Adel, sowie die Grafen und Herzöge des Frankenreiches bis hin zum König selbst. Der iro-schottische Abt Beatus schenkte z. B. im Jahre 778 acht Eigenkirchen an sein St.-Michaelis-Münster bei Straßburg. Diese Kirchen standen in Mainz, in Hausen bei Lich, in Wieseck bei Gießen, in Sternbach, in Bauernheim bei Friedberg, in Rodheim bei Hungen, in Horloff zwischen Hungen und Nidda, und in Buchonia (vermutlich Schotten).

Nachdem Bonifatius die Donareiche, ein germanisches Naturheiligtum, bei Geismar, nahe Fritzlar, im Jahre 723 gefällt hatte, konnte er mit starker Unterstützung der fränkischen Herrscher durch deren eingesetzte Gaugrafen und nach erneuter Missionstätigkeit die Bevölkerung Althessens scheinbar endgültig für das Christentum gewinnen. Die fränkischen Königsburgen und -höfe dienten ihm dabei als Stützpunkte. Man huldigte dem neuen Glauben anfangs meist weniger aus Überzeugung, sondern weil die Macht des Königs dahinterstand und weil man sich davon Vorteile erhoffte und auch erhielt. Die Bischöfe von Mainz und Würzburg führten wiederholt Klage, dass ihre Schäflein „… immer noch und immer wieder heimlich an ‚heiligen‘ Bäumen, Felsen und Quellen opferten.“ Die „Bekehrten“ fürchteten offenbar die Rache der Ahnen, so ganz wollte man es sich mit ihnen nicht verderben.

Den bereits vor seiner Mission zum Christentum gelangten Chatten, Thüringer und Franken bescheinigte Bonifatius wiederholt, dass „…sie auf Irrwege geraten und nicht rechten Christentums seien“. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass er den bis dahin üblichen irisch-fränkischen Grundrisstyp der Kirchen ablöste, der aus einem rechteckigen Schiff mit einem eingezogenen rechteckigen Chor bestand. Bonifatius führte bei neuen Kirchen die Bauform der römischen Basilika mit Querschiff und Apsis ein.

Bonifatius machte sich die bereits bestehende kirchliche Organisationsstruktur zunutze, verdrängte dabei nach und nach die iro-schottischen Mönche und strukturierte in päpstlichem Auftrag die Kirche nach Vorbild der römischen Kirche um (u. a. entstand dabei das Bistum Mainz). Der Charakter seiner Missionstätigkeit war daher mehr ein organisatorischer, als ein theologischer. Zentren der Aktivitäten des Bonifatius und seiner Nachfolger waren Fritzlar und die Büraburg im nördlichen Althessen, die Amöneburg und der Christenberg im südwestlichen Teil Althessens, sowie Fulda und Hersfeld im Osten.

Wandlung des Stammesnamen

Im Jahre 738 n. Chr. trat der neue Name Hessen zum ersten Mal in der Geschichte auf: In einem Sendschreiben Papst Gregors III. an Bonifatius wird von einem chattischen Teilstamm, dem Volk der Hessen (populus hassiorum), berichtet, das an der unteren Fulda siedelte. Der Name Hessen wurde fortan als Sammelname auf alle chattischen Teilstämme in Ober- und Niederhessen angewendet.

Die linguistische Herleitung der Namenswandlung von Chatten zu Hessen verlief in mehreren Zwischenschritten: Chatti (ca. 100 n. Chr.) –> Hatti –> Hazzi –> Hassi (um 700 n. Chr.) –> Hessi (738 n. Chr.) –> Hessen. (Siehe hierzu auch die zweite Lautverschiebung in der deutschen Sprache.)

Die etymologische Herleitung des Namens der Hessen blieb – wegen der langen Überlieferungslücke zwischen der letzten Erwähnung der Chatten 213 und der ersten Erwähnung der Hessen 738 – nie unumstritten. Versuche, durch archäologische Befunde eine Kontinuität zwischen Chatten und Hessen zu begründen, werden in der Forschung als überzeugender betrachtet. Entscheidend waren dabei die Ausgrabungen in den Wüstungen Geismar und Holzheim bei Fritzlar in den 1970er Jahren. Beide Orte waren von der jüngeren Eisenzeit bis ins Hochmittelalter durchgehend besiedelt.

Unterstämme und/oder Abspaltungen

Weitere Informationen

Literatur

  • Dietwolf Baatz, Fritz-Rudolf Herrmann: Die Römer in Hessen. K. Theiss-Verlag, Stuttgart 1982, ISBN 3-8062-0267-2
  • Cornelius Publius Tacitus: Germania. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2001
  • Walter Pohl: Die Germanen. Oldenbourg, München 2000 (Enzyklopädie deutscher Geschichte)
  • Arnulf Krause: Die Geschichte der Germanen. Campus, Frankfurt/Main 2002
  • Reinhard Wolters: Die Römer in Germanien. C.H.Beck, München 2000
  • Hannsferdinand Döbler: Die Germanen - Legende und Wirklichkeit von A-Z. Orbis Verlag, München 2000
  • Berichte der Kommission für Archäologische Landesforschung in Hessen 3, 1994 / 1995, Dr. Rudolf Habelt GmbH, Bonn 1995
  • Dorothea Rohde, Helmuth Schneider: Hessen in der Antike - Die Chatten vom Zeitalter der Römer bis zur Alltagskultur der Gegenwart. Euregio-Verlag, Kassel 2006

Quellen

  1. Thomas Fischer: Die Römer in Deutschland. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999.

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