Peter von Oertzen

Peter von Oertzen
Peter von Oertzen (links) mit Hans-Jochen Vogel, 1975

Peter von Oertzen (* 2. September 1924 in Frankfurt am Main; † 16. März 2008 in Hannover) war ein deutscher Politologe. Er war, bis zu seinem Austritt im März 2005, 59 Jahre lang Mitglied der SPD. Von 1970 bis 1974 war er niedersächsischer Kultusminister im Kabinett von Alfred Kubel, außerdem Programm-Vordenker der SPD in der Tradition des Demokratischen Sozialismus.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Peter von Oertzen stammte aus einem sozial-konservativen Elternhaus des mecklenburgischen Landadels und wurde politisch maßgeblich durch seine Kriegserfahrung in nationalsozialistischer Zeit geprägt. Sein Vater war der nationalkonservative Journalist Friedrich Wilhelm von Oertzen [1]. 1946 trat er in die SPD ein und engagierte sich in den Folgejahren im – damals noch parteitreuen – SDS. Er studierte an der Universität Göttingen Geschichte, Philosophie und Soziologie und promovierte und habilitierte sich auch dort. 1963 wurde von Oertzen als ordentlicher Professor für Politische Wissenschaft an die damalige Technische Hochschule Hannover berufen, der Vorläuferin der jetzigen Universität Hannover.

In den 1950er-Jahren, während des Kalten Krieges, suchte er einen Dritten Weg jenseits von Realsozialismus einerseits sowie Kapitalismus und Antikommunismus andererseits. Er glaubte an die Möglichkeit, innerhalb der SPD einen linkssozialistischen Flügel aufbauen zu können, der die Partei nach links ziehen sollte. Er gehörte daher zu den wenigen Sozialdemokraten, die die Wende der SPD zum Godesberger Programm 1959 aktiv, aber vergeblich bekämpften. In diesem Zusammenhang gehörte er zu den Autoren der Zeitschrift Sozialistische Politik.

In den 1960er-Jahren gab er die Arbeitshefte für linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter heraus. Die Studentenbewegung von 1968, während der er in Hannover zum Mitbegründer des dortigen Club Voltaire wurde[2], gab seinen Positionen in der SPD Auftrieb. 1970 bis 1983 war er deren Bezirksvorsitzender in Hannover, 1970 bis 1974 zugleich Kultusminister in Niedersachsen. In diesem Amt initiierte er erfolgreich die damalige Hochschul- und Bildungsreform. Er war 19 Jahre lang Mitglied des Niedersächsischen Landtags.

Von 1973 bis 1993 gehörte er auch dem SPD-Parteivorstand an. In dieser Funktion leitete er von 1973 bis 1975 die Programm-Kommission der SPD, die den Orientierungsrahmen 85 absteckte, damals der Versuch, dem Godesberger Programm eine mittelfristige Programmperspektive an die Seite zu stellen. Danach war er Mitautor des Berliner Programms der SPD von 1989. Er gründete ihr Wissenschaftsforum, baute ihre Parteischule neu auf und wurde deren Leiter.

Als Mitglied des SPD-Parteivorstandes nahm er an wichtigen Diskussionen um die Linke, die Rechte, den Terrorismus und eine rot-grüne Koalition[3] teil. Zudem diskutierte er über und mit dem Dissidenten Rudolf Bahro.

Im Zuge der SPD-Grundsatzdebatte, die 1989 zum Berliner Programm der SPD führte, war Peter von Oertzen unter anderem gemeinsam mit Horst Peter an der Zusammenführung der verschiedenen linken Strömungen in der SPD beteiligt. 1994 wurde er Mitherausgeber der spw – Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft.

Oertzen wollte – in der Nachfolge von Rosa Luxemburg – stets die Gesellschaftsanalyse von Karl Marx für die SPD nutzbar machen. Aber als demokratischer Sozialist grenzte er sich von Anfang an deutlich von allen real existierenden sozialistischen und kommunistischen Systemen ab und betonte dagegen die Unaufgebbarkeit von Demokratie und der Freiheit jedes Einzelnen. Ein in seiner wissenschaftlichen und politischen Arbeit immer wieder aufgegriffenes Thema war die Rätedemokratie bzw. die Arbeiterselbstverwaltung als Erweiterung demokratischer Prinzipien auf das Gebiet der Wirtschaft. Eine seiner Kernaussagen lautete: „Je demokratischer, desto linker“.

1973 unterstützte Oertzen zunächst die vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt initiierten Berufsverbote gegen westdeutsche Kommunisten und verlor dadurch viel Ansehen bei linkssozialistischen Gruppen. Er sah die Gesetzesmaßnahme als vor allem gegen die DKP gerichtet, erkannte aber bald, dass ebenso Sozialisten unabhängiger oder trotzkistischer Provenienz davon betroffen waren. Er setzte sich dann für deren Rehabilitierung ein und hielt die Bejahung der Berufsverbote für seinen größten politischen Fehler.

Zu Beginn der 1980er-Jahre ging Oertzen erneut zurück an die Universität und widmete sich wieder mehr der Politikwissenschaft. Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 verfasste er eine Klassenanalyse der heutigen Bundesrepublik mit: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Er begleitete die Politik seiner Partei immer kritischer und gründete dazu die "Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler" (LI). Als kritischer Mitdiskutant war er seitdem sowohl in der PDS als auch im „Freundeskreis der Antikapitalistischen Linken“ bekannt. Diese war eine Strömung der im Jahr 2004 neu gegründeten „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG). Dort war von Oertzen nach seinem Parteiaustritt aus der SPD für kurze Zeit Mitglied, verließ sie aber Anfang 2006 wegen der absehbaren Fusion mit der Linkspartei PDS. Die am 5. Januar 2006 übernommene Schirmherrschaft für die WASG-nahe Bildungsgemeinschaft Salz bestand fort.

Sein Nachlass, der unter anderem seine Promotions- und Habilitationsschrift sowie zahlreiche Briefe und Manuskripte enthält, wird im Universitätsarchiv Hannover aufbewahrt.[4]

Ehrung

Werke

  • Peter von Oertzen: Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatswissenschaft. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Dieter Sterzel, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-518-00660-6 (Dissertation von 1953)
  • Peter von Oertzen: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19. Droste, Düsseldorf 1963 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 25), Habilitation
  • Peter von Oertzen: Für einen neuen Reformismus. VSA-Verlag, Hamburg 1984, ISBN 3-87975-264-8.
  • Peter von Oertzen: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft. Offizin-Verlag, Hannover 2004, ISBN 3-930345-44-7.

Literatur

  • Wolfgang Jüttner, Gabriele Andretta, Stefan Schostok (Hg.): Politik für die Sozialdemokratie. Erinnerung an Peter von Oertzen. vorwärts buch, Berlin 2009, ISBN 978-3-86602-924-8
  • Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hg.): Zur Funktion des linken Intellektuellen – heute. In memoriam Peter von Oertzen. Offizin-Verlag, Hannover 2009 (=kritische Interventionen 10), ISBN 978-3-930345-67-0
  • Jürgen Seifert, Heinz Thörmer, Klaus Wettig (Hg.): Soziale oder sozialistische Demokratie? Beiträge zur Geschichte der Linken in der Bundesrepublik. Freundesgabe für Peter von Oertzen zum 65. Geburtstag. SP-Verlag, Marburg 1989, ISBN 3-924800-56-1

Weblinks

 Commons: Peter von Oertzen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Klaus Wettig: Der Sozialdemokrat Peter von Oertzen, in: Wolfgang Jüttner; Gabriele Andretta; Stefan Schostok (Hg.): Politik für die Sozialdemokratie. Erinnerung an Peter von Oertzen, Berlin: vorwärts 2009, S. 12-28; S. 14.
  2. Klaus Mlynek: Studentenproteste, in: Stadtlexikon Hannover, S. 611f.
  3. Siehe dazu Peter von Oertzen: Warum keine rot-grüne Koalition?. In: Der Spiegel. Nr. 39, 1982, S. 35 (27. September 1982, online).
  4. Rüdiger Meise: Vergilbter Schatz für das Uni-Archiv, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29. August 2009, Seite 17

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