- EU-Binnenmarkt
-
Der Europäische Binnenmarkt ist der gemeinsame Wirtschaftsraum der Staaten der Europäischen Union, der unter diesem Namen offiziell seit 1993 existiert.
Inhaltsverzeichnis
Ziele
Die vier "Grundfreiheiten", die ursprünglich mit der Schaffung des Binnenmarktes verwirklicht werden sollten, waren:
- der freie Warenverkehr (Art. 23 ff. EGV),
- die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 39 ff. EGV),
- der freie Dienstleistungsverkehr (Art. 49 ff. EGV),
- der freie Kapital- und Zahlungsverkehr (Art. 56 ff. EGV)
innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (EG). Damit entspricht der Europäische Binnenmarkt auch inhaltlich dem Konzept des Binnenmarktes als Stufe der wirtschaftlichen Integration.
Das Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer/innen wurde im Zuge der Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag über die Europäische Union zu einem allgemeinen Recht der Unionsbürger/innen auf Freizügigkeit erweitert (Art. 18 EGV).
Da diese Ziele bislang trotz respektabler Erfolge nur teilweise erreicht sind, kann der Europäische Binnenmarkt noch nicht als vollendet betrachtet werden.
Geschichte
Die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes waren bereits Gegenstand des EWG-Vertrages von 1957. Noch Ende der 70er Jahre waren sie jedoch weit von ihrer Verwirklichung entfernt.
So waren zwar die Warenzölle im Gebiet der EG abgeschafft worden; der freie Warenverkehr wurde jedoch insbesondere vor der Cassis-de-Dijon-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes von 1979 durch eine Vielzahl von nichttarifären Handelshemmnissen wie z.B. unterschiedliche Produktnormen und Zulassungsverfahren der einzelnen Mitgliedstaaten behindert.
Ähnlich wirkten sich unterschiedliche Ausbildungs-, Studien- und Prüfungsordnungen, die von den Mitgliedstaaten untereinander nicht oder nur in aufwändigen Verfahren anerkannt wurden, als Hemmnisse für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer/innen aus.
Diese Hindernisse zu beseitigen war unter anderem Ziel der Genscher-Colombo Initiative von 1981. Der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Emilio Colombo, Außenminister Italiens, verfassten einen Entwurf für die Einheitliche Europäische Akte (EEA). Auf dieser Grundlage entwickelte Jacques Delors, von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission, ein umfangreiches Reformprogramm, das mehr als 300 einzelne Rechtsetzungsakte vorsah.
Die vertraglichen Grundlagen hierzu wurden 1987 durch das Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte geschaffen, die den EG-Vertrag in zahlreichen Punkten abänderte; programmatisch wurde unter anderem das Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes als "Raum ohne Binnengrenzen" bis zum 31. Dezember 1992 (Art. 14 EGV) erklärt.
Zur Schaffung eines einheitlichen Rechtsrahmens für den Binnenmarkt wurden neue EG-Zuständigkeiten zur Verabschiedung von Richtlinien und Verordnungen unter anderem in den Bereichen Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (heute in Art. 137 EGV), Verbraucherschutz (Art. 153 EGV) sowie Umweltschutz (Art. 174 ff. EGV) geschaffen.
Gleichzeitig sollten die Entscheidungsverfahren zur Umsetzung entsprechender Vorschriften dadurch beschleunigt werden, dass der Anwendungsbereich der qualifizierten Mehrheitsabstimmungen im EU-Rat stark ausgeweitet wurde.
Der freie Personenverkehr wurde durch das Schengener Abkommen geregelt.
Zustand heute
Die wichtigste Auswirkung des Binnenmarktes ist, dass es in Europa größtenteils keine nationalen Märkte mehr gibt, sondern nur noch einen europäischen Markt. Die Vorteile für den Verbraucher bestehen darin, dass es so eine größere Auswahl an Produkten gibt und dass der größere Konkurrenzdruck die Firmen zwingt, ihre Produkte oder Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen und/oder besserer Qualität anzubieten (siehe Marktwirtschaft).
Außerdem erleichtert der Binnenmarkt die Arbeitsplatz- und Wohnsitzsuche in den Ländern der Mitgliedsstaaten.
Durch die Abschaffung der Zollgrenzen im Innern und den Gemeinsamen Zolltarif nach außen stellt der Europäische Binnenmarkt zugleich eine Zollunion dar; durch die Aufhebung der Binnengrenzen auch für Personen, Dienstleistungen und Kapital geht er jedoch deutlich über diese Stufe wirtschaftlicher Integration hinaus.
Zu einer vollständigen Verwirklichung gleicher Marktbedingungen im gesamten EU-Gebiet wäre auch eine Harmonisierung (Angleichung) der Verbrauchsteuern erforderlich; jedoch erscheint eine derartige Politik nicht durchsetzbar. Zwar wenden die Mitgliedstaaten der EU weiterhin unterschiedliche Tarife für Verbrauchsteuern an, jedoch sind im gewerblichen Warenverkehr nicht mehr die Zollbehörden, sondern die Finanzämter für die Erhebung und Verrechnung der unterschiedlichen Steuern beim Überschreiten der Binnengrenze zuständig. Hierzu dient die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (Ust.-ID).
Im privaten Warenverkehr wird dagegen auf die Erhebung unterschiedlicher Steuern verzichtet; hier wird die Ware einfach im Herkunftsland versteuert. Dadurch können Verbraucher/innen (insbesondere in Grenznähe) beim Einkauf von unterschiedlichen Steuersätzen profitieren.Eine wichtige Grundlage für den Europäischen Binnenmarkt bilden die europaweit harmonisierten technischen Normen. Seit der Einführung der Neuen Konzeption im Jahre 1985 wurden in sämtlichen Wirtschaftsbereichen Europäische Normen (EN) erarbeitet, die zum Abbau der Handelshemmnisse zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geführt haben. Aus schätzungsweise 150.000 nationalen Normen vor 1985 sind im Jahr 2007 13.000 harmonisierte Europäische Normen geworden. Staaten, die der Europäischen Union beitreten wollen, müssen zunächst Mitglied bei den Europäischen Normungsorganisationen Europäisches Komitee für Normung und CENELEC werden und einen großen Teil der EN übernehmen und nationale Normen zurückziehen.
Fortschritte wurden bei der gegenseitigen Anerkennung der Gleichwertigkeit der beruflichen Qualifikationen durch die einzelnen EU-Mitgliedstaaten erreicht. Auch der Bologna-Prozess soll hierzu durch Vereinheitlichung oder zumindest bessere Vergleichbarkeit der Studienabschlüsse beitragen.
Nach wie vor werden EU-Rechtsakte zur weiteren Annäherung an die Ziele des Binnenmarktes erlassen. Ein Beispiel hierfür ist die politisch umstrittene Europäische Dienstleistungsrichtlinie, aber auch die Verordnung vom 7. Juni 2007 zur Begrenzung der Roaming-Gebühren.
Im Februar 2008 hat das Europäische Parlament, basierend auf einer Einigung mit dem Ministerrat, ein Gesetzgebungspaket verabschiedet, das den freien Warenverkehr innerhalb des Binnenmarktes stärken soll. Insbesondere wird das Prinzip der gegenseitige Anerkennung gestärkt, welches bedeutet, dass ein in einem EU-Land zugelassenes Produkt auch von den Behörden der anderen Länder zum Verkauf zugelassen werden muss [1].
"Negative" vs. "positive" Integration
Auch wenn die Beseitigung der Binnengrenzen im EU-Binnenmarkt ("negative" Integration) noch nicht vollendet ist, ist sie doch viel weiter fortgeschritten als die Entwicklung der gemeinschaftlichen Politik zum Aufbau eines Ordnungsrahmens für diesen Binnenmarkt ("positive" Integration). Während die Nationalstaaten durch die Teilnahme am Binnenmarkt auf eine Reihe politischer Steuerungsinstrumente verzichten (z.B. auf eine eigenständige Zoll- und Handelspolitik, auf die Steuerung von Wanderungsbewegungen und den Zugang zum Arbeitsmarkt etc.), wurden - bei aller Kritik an der vermeintlichen Regulierungswut der EU - auf der Gemeinschaftsebene keine Handlungskompetenzen mit vergleichbarem Umfang geschaffen. Das bedeutet, dass unabhängig von einzelstaatlicher Politikgestaltung allein die Teilnahme am Binnenmarkt in den EU-Mitgliedstaaten einen starken Effekt der Marktliberalisierung und -deregulierung entfaltet hat.
Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass die "negative" Integration bereits seit langem vertraglich festgeschrieben ist und durch supranationale Institutionen wie die EU-Kommission und den Europäischen Gerichtshof ggf. auch gegen die Mitgliedstaaten durchgesetzt wird (z.B. in Vertragsverletzungsverfahren); "positive" Integration erfordert jedoch unter den Bedingungen des politischen Systems der EU regelmäßig die Zustimmung einer großen Zahl politischer Akteure mit unterschiedlichsten Interessen und Zielen, die gerade auch angesichts unterschiedlicher nationaler Politikmodelle oft nur schwer zu erreichen ist.
Ausdehnung des Europäischen Binnenmarkts
Grundsätzlich gehören zum Binnenmarkt der Europäischen Gemeinschaft (EG) dessen Mitgliedsstaaten. Es gibt jedoch aus historischen Gründen Abweichungen:
Folgende Gebiete/Staaten gehören zum Zoll- und Steuergebiet der EU:
- Isle of Man: eine Freihandelszone
- Island (EWR/EFTA)
- Liechtenstein (EWR/EFTA)
- Norwegen (EWR/EFTA)
- Schweiz (nur EFTA)
- Türkei (Zollunion seit 1996)
Literatur
- Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang (Hg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration (neueste Auflage), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
- Scharpf, Fritz W. (1996): "Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt", in: Jachtenfuchs, Markus/Kohler-Koch, Beate (Hg.): Europäische Integration, Opladen: Leske+Budrich, S. 109-140.
Quellen
Weblinks
- Text des EG-Vertrages (konsolidierte Fassung)
- Informationen der EU-Kommission über den Europäischen Binnenmarkt
- Darstellung aus Sicht des Europäischen Parlamentes
- Centrum für Europäische Politik (CEP) - Informationen zum EU-Binnenmarkt
Politiken der Europäischen Union1. Säule (EG): Agrarpolitik | Beihilfenpolitik | Beschäftigungspolitik | Bildungspolitik | Binnenmarkt | Energiepolitik | Entwicklungspolitik | Flankierende Maßnahmen zum freien Personenverkehr | Forschungspolitik | Gesundheitspolitik | Gleichstellungspolitik | Handelspolitik | Industriepolitik | Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen | Kulturpolitik | Rechtsangleichung | Regionalpolitik | Sozialpolitik | Steuerpolitik | Transeuropäische Netze | Umweltpolitik | Verbraucherschutzpolitik | Verkehrspolitik | Währungsunion | Wettbewerbspolitik | Wirtschaftspolitik | Zollunion |
2. Säule (GASP): Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik | Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
3. Säule: Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
Wikimedia Foundation.