Nichtbeistands-Klausel

Nichtbeistands-Klausel

Die Nichtbeistands-Klausel (auch No-Bailout-Klausel) bezeichnet eine fundamentale Regelung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU), die in Art. 125 AEU-Vertrag festgelegt ist. Sie schließt die Haftung der Europäischen Union sowie aller Mitgliedstaaten für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten aus. Als Teil des Vertrags von Maastricht wurde diese Regelung am 7. Februar 1992 als Art. 104b in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) aufgenommen. Im Laufe verschiedener Vertragsreformen wurde die Klausel durch den Vertrag von Amsterdam 1999 zunächst in Art. 103 EG-Vertrag und schließlich durch den Vertrag von Lissabon 2009 in Art. 125 AEUV übertragen, der Wortlaut blieb jedoch weitgehend gleich.

Die Hauptfunktion der Nichtbeistands-Klausel besteht darin, EU-Staaten zu eigenverantwortlicher Haushaltsdisziplin zu bewegen. Sie sollen nicht darauf hoffen können, bei unsolider Haushaltsführung später durch andere EU-Staaten in der Bedienung ihrer Schulden im Notfall unterstützt zu werden (siehe auch Moral Hazard). Sie ergänzte damit die im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgeschriebenen Verschuldungsgrenzen, die ebenfalls eine potenziell unsolide Haushaltsführung verhindern sollten. Allerdings wurde seit Entstehung der Nichtbeistandsklausel kritisiert, dass der Haftungsausschluss bei einem tatsächlich eingetretenen Notfall nur schwer durchsetzbar sein würde, weil die politischen und wirtschaftlichen Kosten der Alternativen (zumindest kurzfristig) noch höher sein könnten (siehe auch Too Big to Fail).

Diese Debatte intensivierte sich seit der griechischen Finanzkrise 2009/10. In deren Verlauf wurde ein Europäischer Stabilisierungsmechanismus eingerichtet, der wechselseitige Kreditgarantien der Euro-Staaten ermöglicht. Die Nichtbeistandsklausel wurde in diesem Zusammenhang so interpretiert, dass sie nur eine automatische Haftung, nicht eine freiwillige Übernahme von Schulden durch andere Staaten (Bailout) ausschließe.[1] Diese Interpretation ist jedoch umstritten.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Während der Regierungskonferenz zur EWWU im Vorfeld des Vertrags von Maastricht forderten die wirtschaftlich schwächeren Länder, insbesondere Spanien, aber auch Portugal, Griechenland und Irland unter Berufung auf das im EG-Vertrag vorgesehene Ziel der Kohäsion einen Finanzausgleich zwischen den Mitgliedern der Europäischen Union. Dieser sollte zu den bereits existierenden EG-Strukturfonds (wie den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung) hinzutreten und es den wirtschaftlich schwächeren Ländern ermöglichen, die EU-Konvergenzkriterien zu erfüllen und gegenüber den reicheren Ländern an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Vor allem von Seiten Deutschlands, aber auch Frankreichs, wurde hingegen auf eine Regelung gedrängt, um die Mitgliedstaaten der EWWU zu finanzpolitischer Eigenverantwortung zu zwingen. Dadurch sollte verhindert werden, dass einzelne Staaten auf Kosten anderer über ihre Verhältnisse leben bzw. eine großzügigere Finanzpolitik (= Haushaltspolitik) betreiben könnten.

Im Verlauf der Konferenz setzten sich die deutschen Verhandlungsführer auf einer Sitzung in Luxemburg am 4. Juni 1991 mit ihrer Position durch, dass kein Finanzausgleich stattfinden sollte und somit jeder Staat für seine inländischen Leistungen selbst aufkommen müsste. So wurde im Vertragsentwurf der luxemburgischen Ratspräsidentschaft im Juni 1991 die sogenannte Nichtbeistands-Klausel in Art. 104b EG-Vertrag eingeführt.[2] In der Schlussphase der Verhandlungen stellte Spanien allerdings die Bedingung, wenigstens für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht eine Neuausrichtung der Kohäsionsmittel ins Auge zu fassen. Tatsächlich wurde 1994 der Kohäsionsfonds eingerichtet, der vor allem Umwelt- und Infrastrukturprojekte in wirtschaftsschwachen EU-Staaten bezahlt bzw. bezuschusst.[3] Der Kohäsionsfonds macht einen deutlich geringeren Anteil am europäischen Bruttoinlandsprodukts aus als etwa der Länderfinanzausgleich am deutschen.

Unklar war allerdings die Frage, ob die im luxemburgischen Vertragsentwurf enthaltene Nichtbeistandsklausel nur eine Haftung, also eine Zahlungspflicht, ausschloss oder auch eine freiwillige Übernahme fremder Schulden. So sah das deutsche Bundesministerium für Finanzen (BMF), dass durch die Formulierung verschiedene Interpretationen bezüglich gemeinsamer Vorhaben der verschiedenen Mitgliedstaaten und einer freiwilligen Schuldenübernahme möglich seien. Aus diesem Grund forderte Deutschland, das sich für eine möglichst restriktive Klausel einsetzte, eine Umbenennung des Ausdrucks "haften" in "eintreten". Im Einzelnen erklärte das Bundesfinanzministerium (BMF-Zeichen M/VIIC2/326.3): „Es geht nicht nur um eine (eher formale) Haftung, sondern um das Verbot eines obligatorischen oder freiwilligen finanziellen Beistandes bei einer unsoliden Haushaltspolitik, deshalb nicht 'haften' sondern 'eintreten'... . Um Grauzonen zu vermeiden, sollten auch Garantien für gemeinsame Wirtschaftsvorhaben nicht ausgenommen werden. Deshalb plädieren wir für Streichung des letzten Satzes.“[2] Deutschland konnte sich mit dieser Position nur teilweise durchsetzen.

Im weiteren Verlauf der Regierungskonferenz wurde dem Artikel 104b zudem ein zweiter Absatz beigefügt, der neuen Interpretationsfreiraum schuf: Demnach sollte der Rat der Europäischen Union die in dem Artikel vorgesehenen Verbote nach dem Beschlussverfahren gemäß Art. 189c EG-Vertrag (d.h. durch qualifizierte Mehrheit nach Anhörung des Europäischen Parlaments) konkretisieren.[2] In dieser Version wurde der Vertrag schließlich unterzeichnet und der entsprechende Artikel bis heute inhaltlich nicht geändert.

Die verschiedenen Versionen der Nichtbeistands-Klausel
Luxemburgischer Vertragsentwurf 1991 (Art. 104 Abs. 1 Ziffer b EG-Vertrag) Änderungsvorschlag des Bundesministeriums für Finanzen

(BMF M/VIIC2/326.5)

Version im Maastrichter Vertrag 1992 (Art. 104b EG-Vertrag) Version im Lissabonner Vertrag 2009 (Art. 125 AEU-Vertrag)
Die Gemeinschaft haftet nicht für die Verpflichtungen der Regierungen, Gebietskörperschaften oder sonstigen öffentlichen Stellen der Mitgliedstaaten; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Wirtschaftsvorhabens.
Die Mitgliedstaaten haften nicht für die Verpflichtungen der Regierungen, Gebietskörperschaften oder sonstigen öffentlichen Stellen eines anderen Mitgliedstaates; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Wirtschaftsvorhabens.
Weder die Gemeinschaft noch ein Mitgliedstaat treten für die Verpflichtungen der Regierungen, Gebietskörperschaften oder sonstigen öffentlichen Stellen eines Mitgliedstaats ein. (1) Die Gemeinschaft haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.
(2) Der Rat kann erforderlichenfalls nach dem Verfahren des Artikels 189c Definitionen für die Anwendung der in Artikel 104 und in diesem Artikel vorgesehenen Verbote näher bestimmen.
(1) Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.
(2) Der Rat kann erforderlichenfalls auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die Definitionen für die Anwendung der in den Artikeln 123 und 124 sowie in diesem Artikel vorgesehenen Verbote näher bestimmen.

Funktion

Im Rahmen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wird in Art. 122 und Art. 143 AEU-Vertrag auf das Solidaritätsprinzip hingewiesen, nach dem der Rat der EU in bestimmten Notsituationen finanzielle Hilfsmaßnahmen für einzelne Mitgliedstaaten beschließen kann. Mit der Nichtbeistands-Klausel sollte deutlich gemacht werden, dass dieses nicht auf den Fall eines Staatsbankrotts übertragen werden kann.[4] Damit sollte leichtfertigen Staatsverschuldungen auf Kosten anderer Mitglieder vorgebeugt werden. Die Nichtbeistandsklausel sollte damit den Stabilitäts- und Wachstumspakt (Art. 126 AEU-Vertrag) ergänzen, der bestimmte Höchstgrenzen für die öffentlichen Defizite von Mitgliedstaaten festlegt. Um zugleich auch eine Monetarisierung von Schulden, d.h. den Kauf von öffentlichen Schuldpapieren durch die Europäische Zentralbank (und daraus folgende mögliche Inflation und Abwertung der gemeinsamen Währung Euro) zu vermeiden, wurde in Art. 123 AEU-Vertrag auch der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten durch die Europäische Zentralbank verboten.

Weiterhin sollte die Nichtbeistands-Klausel potenzielle Anwärter für die EWWU anregen, den Beitritt sorgfältig zu bedenken. Mit dem Wegfall der nationalen Geldpolitik können die Staaten ihre Schulden nicht mehr durch Seigniorage und Währungspolitik kompensieren. Während bis in die 1980er Jahre viele EU-Mitgliedstaaten ihre fiskal- und wirtschaftspolitische Lage immer wieder durch Inflation und Abwertung saniert hatten, entfällt diese Möglichkeit mit der Währungsunion, sodass (bei Ausschluss eines Bailouts durch die wirtschaftlich stabileren Länder) die einzige Möglichkeit zur Schuldenminderung und Vermeidung des Staatsbankrotts in einer einschneidenden Sparpolitik liegt. Für Länder, die sich ihrer zukünftigen Finanzsituation nicht sicher sind, sollte es daher ratsamer sein, der Währungsunion nicht beizutreten.[5]

Kritik

Sowohl vor als auch nach der offiziellen Einführung des Euro als gemeinsame Währung wurde Kritik an der Nichtbeistands-Klausel geübt. Diese lässt sich im Wesentlichen nach zwei Argumentationslinien unterscheiden:

  • Nach der einen Ansicht ist die Nichtbeistandsklausel nicht streng genug formuliert, sodass sie im Zweifel nicht durchsetzbar sein könnte.
  • Von anderer Seite wird die Klausel selbst als wenig funktional und potenziell schädlich für die Wirtschaft der Eurozone angesehen.

Fehlende Durchsetzung

Die Gefahr, dass der Nichtbeistands-Klausel aufgrund zu großer Interpretationsspielräume nicht genügend Achtung erwiesen werden könnte, wird unter anderem mit den verhältnismäßig weit gefassten Formulierungen zum Solidaritätsprinzip im AEU-Vertrag begründet.[4] So kann ein Mitgliedstaat nach Art. 122 etwa bei Naturkatastrophen und anderen „außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen“, auf Beschluss des Rats der EU finanzielle Hilfen aus dem EU-Haushalt erhalten, was als Risikoabsicherung gegen einen Staatsbankrott ausgelegt werden könnte.

Durch diese unzureichende Akzeptanz bestehe die Gefahr eines Moral Hazard. Dabei überschulden sich einige Staaten der EWWU, da sie sich dessen bewusst sind, dass ihnen im Zweifel die anderen Mitgliedstaaten beispringen könnten. Teilen die Kreditgeber diese Ansicht, so sind auch diese geneigt, bereits hochgradig verschuldete Länder weiterhin zu finanzieren, da das Ausfallrisiko durch die anderen Mitgliedstaaten und die EU selbst gedeckt ist.[6] Die Nichtbeistandsklausel sei also nicht glaubwürdig genug, um auf den europäischen Finanzmärkten, die mit dem Euro handeln, Staaten mit hohen Schulden zu disziplinieren.[4]

Fehlende Funktionalität

Dass allerdings überhaupt davon ausgegangen wird, dass Mitgliedstaaten in einer Krisensituation dazu bereit sein könnten, für die Schulden anderer Staaten einzustehen, wird in dem Problem des Too Big to Fail gesehen: Da die Folgen eines Staatsbankrotts in der EWWU auch für alle anderen Mitgliedsländer verheerend wären, müssten diese notfalls aus eigenem Interesse einspringen.

Einige Autoren wie Dirk Meyer haben den Versuch unternommen, das Szenario eines Staatsbankrotts und die Folgen für die restliche EU herzuleiten. Demnach würde der Euro als gemeinsame Währung radikal an Wert verlieren und somit die Wirtschaft des Großteils von Europa beschädigen. Zugleich würden andere Länder mit schlechter Kreditwürdigkeit einen erhöhten Risikoaufschlag zahlen müssen und Liquiditätsprobleme bekommen. Die Zinssätze würden in der gesamten Eurozone steigen. Die Nichtbeistands-Klausel sei de facto also nicht durchsetzbar, ohne einen Großteil der EU zu schädigen.

In ähnlicher Weise steht auch das Verbot eines direkten Aufkaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank nach Art. 123 AEU-Vertrag in der Kritik. Viele europäische Banken sind im Besitz staatlicher Schuldverschreibungen und könnten bei einem Staatsbankrott durch entfallende Auszahlungen und Wertverlust der Anleihen ihre Zahlungsfähigkeit in Gefahr sehen. Dies könnte wiederum dazu führen, dass Anleger ihr Vermögen von der Bank abziehen würden. Durch eine weitreichende Vernetzung der Banken wäre ein Zusammenbruch des Bankensystems zu befürchten. Dies wiederum widerspräche der Aufgabe der Europäischen Zentralbank, die nach Art. 127 Abs. 5 AEU-Vertrag zur „Stabilität des Finanzsystems“ beitragen soll.[4]

Des Weiteren wird Kritik geäußert, dass eine konsequente Anwendung des Stabilitätspakts und der Nichtbeistandsklausel deflationistische Konsequenzen haben könne. So warnte etwa von George Soros während der Euro-Krise davor, dass Staaten in wirtschaftlich schlechten Situationen ihre Schulden durch harte Sparmaßnahmen abzubauen versuchten, da dies zu einer weiteren Verschlechterung der Konjunktur führe.[7]

Griechische Finanzkrise und Europäischer Stabilisierungsmechanismus

In den Jahren 2009/2010 wurde die Thematik der Nichtbeistands-Klausel im Rahmen der griechischen Finanzkrise sowie der anschließenden Euro-Krise wieder aktuell. Griechenland drohte ein Staatsbankrott, der auch für viele weitere Länder der EU finanzielle Nachteile beinhalten würde. Trotz der Nichtbeistandsklausel beschlossen die Staats- und Regierungschefs die Anwendung von Art. 122 Abs. 2 AEU-Vertrag, dem zufolge der Rat auf Vorschlag der Europäischen Kommission beschließen kann, einem Mitgliedstaat, der „aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, [...] unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren.“

Die Entscheidung, ob die Ausnahmeregelung nach Art. 122 anwendbar ist, hängt im Wesentlichen davon ab, worin man die Gründe für die Krise in Griechenland sieht. Befürworter eines Rettungspakets argumentieren, dass das Vorgehen auf den Finanzmärkten die Situation Griechenlands erheblich geschwächt habe. Durch Spekulationen am Markt verschlechterten sich die Kreditkonditionen für das bereits bonitätsschwache Land noch mehr. Diese Entwicklungen entsprächen dem im Artikel formulierten Tatbestand. Gegner des Rettungspakets hingegen sehen die Gründe der Krise bei Griechenlands fehlerhafter Wirtschafts- und Finanzpolitik. Diese Ursachen entzögen sich jedoch nicht der Kontrolle des verschuldeten Landes, sodass die Nichtbeistands-Klausel anzuwenden sei.[8]

Die EU-Mitgliedstaaten und der Internationale Währungsfonds entschieden sich dazu, Griechenland finanziellen Beistand anzubieten. Rechtlich stützen sich die Maßnahme der EU-Mitgliedstaaten darauf, dass die Nicht-Beistands-Klausel nur automatische, aber nicht freiwillige Haftung ausschließe. Die Hilfen stützen sich nicht auf Artikel 122.[1]

Im Mai 2010 wurde der Europäische Stabilisierungsmechanismus beschlossen, in dem die EWWU-Mitgliedstaaten sich wechselseitig Bürgschaften in Aussicht stellen. Dieser umfasst insgesamt 750 Milliarden Euro und basiert auf einer Kombination von Krediten aus dem EU-Haushalt, wechselseitigen bilateralen Bürgschaften der einzelnen Mitgliedstaaten sowie einer Kreditlinie des IWF; Deutschland ist nach dem Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus mit 123 Milliarden Euro beteiligt. Zudem begann die Europäische Zentralbank Schuldpapiere der krisenbetroffenen Staaten aufzukaufen.[9]

Die Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit den in Art. 123 und Art. 125 AEU-Vertrag wurde jeweils mit dem in den Artikel beinhalteten Interpretationsspielraum begründet. So verbiete die Nichtbeistandsklausel nur die automatische Haftung, nicht die freiwillige Übernahme von Bürgschaften.[1] Außerdem wurde für den Stabilisierungsmechanismus eine Zweckgesellschaft, die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) gegründet, die formal nicht in den EU-Rechtsrahmen eingebunden ist. Für die Europäische Zentralbank sei dem Vertragstext zufolge nur der „unmittelbare Erwerb“ von staatlichen Schuldtiteln verboten, nicht der Aufkauf solcher Papiere auf dem freien Kapitalmarkt.[10] Dennoch wurden im Mai 2010 vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht unter anderem von Peter Gauweiler und von einer Gruppe um Joachim Starbatty Klage gegen den Stabilisierungsmechanismus erhoben, die darin einen Bruch mit der Nichtbeistandsklausel sehen.[11] Am 5. Juli 2011 begann die Verhandlung im Bundesverfassungsgericht.[12]

Aufgrund dieser aktuellen Misere wird in der EU nach möglichen Lösungen für zukünftige Finanzkrisen gesucht (siehe auch Beschluss einer Vertragsreform 2010). Dabei wird unter anderem auch über die Nichtbeistands-Klausel und künftige zusätzliche Ausnahmetatbestände diskutiert.[13]

Am 21. Juli 2011 fand ein weiterer EU-Gipfel statt. Dabei wurden weitere Maßnahmen beschlossen, die die Euro-Zone zu einer Haftungsgemeinschaft und zu einer Transferunion machen.[14] [15] Nach wenigen Tagen der Euphorie an den Finanzmärkten rückten die übrigen vier PIIGS-Staaten in deren Fokus. [16] [17]

Bundesbankpräsident Jens Weidmann warnte vor dem Gipfel eindringlich vor einer „Vergemeinschaftung der Schulden“.[18]

Einzelnachweise

  1. a b c Vgl. Deutscher Bundestag, Infobrief Bilaterale Finanzhilfen für Griechenland - Vereinbarkeit mit Artikel 125 AEUV.
  2. a b c Jan Viebig: Der Vertrag von Maastricht: die Positionen Deutschlands und Frankreichs zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, 1999, S.312-314.
  3. Europäische Kommission: Der Kohäsionsfonds auf einen Blick, abgerufen am 4. Dezember 2010.
  4. a b c d Christiana Ratcheva: Staatsverschuldung und Glaubwürdigkeit der Geldpolitik in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, Hamburg 2010, S. 24–26, abgerufen am 3. Dezember 2010.
  5. Helmut Wagner: Europäische Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, 1998, S. 180.
  6. Heinz-Dieter Smeets und Bernard Vogl: Der Stabilitäts- und Wachtumspakt - Eine kritische Würdigung, in: Die Zukunft des Sozial- und Steuerstaates- Festschrift zum 65. Geburtstag, S. 426, abgerufen am 3. Dezember 2010.
  7. Financial Times Deutschland, 22. Oktober 2010: Soros warnt Europa vor Deflation.
  8. Herbert Edling: Volkswirtschaftslehre - Schnell erfasst, 3. Auflage, 2010, S. 373
  9. EU-Stützungsplan am Dienstag im Kabinett. In: Manager-Magazin. 10. Mai 2010, abgerufen am 10. Mai 2010.
  10. Spiegel Online, 14. Mai 2010: Europarechtler hält Milliardenhilfen für rechtmäßig.
  11. Frankfurter Allgemeine, 7. Juli 2010: Warnung vor Transferunion.
  12. EurActiv, 5. Juli 2011: Showdown in Karlsruhe: Gauweiler vs. Schäuble
  13. Frankfurter Allgemeine, 25. Oktober 2010: Berlin überdenkt „No-Bailout“-Regel, abgerufen am 12. Dezember 2010
  14. RP 23. Juli 2011: "Die Euro-Zone wird zur Haftungsgemeinschaft"
  15. RP 23. Juli 2011 S. B1: Börsen feiern Rettungsplan für Athen
  16. zeit.de 27. Juli 2011: Raus aus dem Schuldenloch Zitat: „Irland und Portugal gelten als angeschlagen, Italien und Spanien erhalten nur noch gegen hohe Zinsen frisches Geld.“
  17. Anleger flüchten aus Euro und Dollar. - Heftige Turbulenzen am Devisenmarkt: Der Dollar stürzt ab, doch den Euro erwischt es noch heftiger. Auf der Suche nach Sicherheit flüchten sich die Anleger in Yen und Franken – und natürlich in Gold.
  18. zeit.de 17. Juli 2011: "Die Politik braucht einen Plan"

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