Ernst Gennat

Ernst Gennat

Ernst August Ferdinand Gennat (* 1. Januar 1880 in Plötzensee; † 21. August 1939 in Berlin) war ein Beamter der Berliner Kriminalpolizei. Mehr als 30 Jahre lang arbeitete er unter drei politischen Systemen als einer der begabtesten und erfolgreichsten Kriminalisten Deutschlands. Er bearbeitete unter anderem den Fall des hannoverschen Serienmörders Fritz Haarmann. Schon zu Lebzeiten Legende und Original gleichermaßen, entsprach er mitnichten dem klassischen Klischee des engstirnigen preußischen Beamten.

Hinter seinem Rücken wurde er von seinen Kollegen freundlich oder hämisch „Buddha der Kriminalisten“ oder „Der volle Ernst“ genannt. Diese Spitznamen spielten auf seine imposante Körperfülle an.

Inhaltsverzeichnis

Der junge Ernst Gennat

Durch seinen Vater, den Oberinspektor des „Neuen Strafgefängnisses“ Plötzensee (im Volksmund auch die „Plötze“ genannt), kam der junge Gennat schon früh mit der sozialen und wirtschaftlichen Misere der untersten Bevölkerungsschichten in Berührung. Laut Adressbucheintrag von 1880 bewohnte die Familie Gennat (Mutter Clara Luise, geborene Bergemann, Vater August und Sohn Ernst August Ferdinand) eine Personalwohnung im „Neuen Strafgefängniß“.

Nach der Volksschule besuchte Ernst Gennat das Königliche Luisen-Gymnasium in der Turmstraße 87 in Berlin und legte am 13. September 1898 die Abiturprüfung ab. Ungeklärt ist, was er die folgenden drei Jahre bis zu seiner Immatrikulation am 18. Oktober 1901 tat. Wahrscheinlich absolvierte Gennat während dieser Zeit seinen Wehrdienst in der kaiserlichen Armee, denn in der Universitätsmatrikel unter Nummer 37 – Rubrik „Künftiger Beruf“ – vermerkte Gennat prägnant: „Militär“.

An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studierte er dann acht Semester Jura. Am 12. Juli 1905 ließ er sich aus der Matrikel streichen – vor dem Semesterende am 15. August. Von offizieller Seite wurde dazu vermerkt: „wg. Unfl.“ („wegen Unfleiß“). Diese Formel besagte nicht, dass Gennat „unfleißig“ war, sondern dass er die Universität ohne Abschlusszeugnis verließ. Grund dafür war sein Entschluss, in die Kriminalpolizei einzutreten.

Ernst Gennat und der Berliner „Adelsclub“

Der Alexanderplatz um 1908 (v. l. n. r.: Lehrervereinshaus, Polizeipräsidium, Aschinger)

1904 war Ernst Gennat in den Polizeidienst eingetreten. Am 30. Mai 1905 legte der Kriminalanwärter die Prüfung zum Kriminalkommissar ab, wurde zwei Tage später zum Hilfskriminalkommissar ernannt und am 1. August zum Kriminalkommissar.

Die Führung und die wichtigsten Abteilungen der Berliner Polizei residierten damals in dem gewaltigen roten Backsteinbau des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz in Berlin-Mitte (erbaut 1886–1889, im Zweiten Weltkrieg zum Teil zerstört und 1960 abgerissen). Vor dem Ersten Weltkrieg rekrutierten sich die meisten Beamten im gehobenen und höheren Kriminaldienst (vom Kriminalkommissar aufwärts) zum einen aus Offizieren, die aus pekuniären Gründen den Militärdienst quittiert hatten, und zum anderen aus Abkömmlingen verarmter Adelsfamilien, die aufgrund ihrer misslichen wirtschaftlichen Lage ebenfalls eine Karriere im Staatsdienst anstrebten. Das Abitur war für Kommissarsanwärter Bedingung. Die meisten Anwärter hatten (mit oder ohne Abschluss) studiert, überwiegend Jura oder Medizin. Nicht alle kamen aus Passion zur Kriminalpolizei. Nach dem Krieg und der Inflation stieg die Zahl der Akademiker, die gezwungen waren, ihr Studium abzubrechen und Geld zu verdienen oder mit abgeschlossenem Studium, selbst mit Doktortitel, froh sein konnten, im Staatsdienst unterzukommen. So waren im Jahr 1932 unter den 132 Kriminalkommissaren nicht weniger als 22 Promovierte.

Ernst Gennats „Mordinspektion“ am Polizeipräsidium Berlin

In der Zeit der Weimarer Republik (1919–1933) bildete die Kriminalpolizei den Kern der Abteilung IV des Berliner Polizeipräsidiums. Sie war in örtliche und in Fach-Inspektionen aufgegliedert.

Die 14 örtlichen Inspektionen spielten nur eine untergeordnete Rolle; manchmal wurden Beamte, die im Präsidium in Ungnade gefallen waren, dorthin „verbannt“. Erst gegen Ende der Weimarer Republik reiften Pläne, den örtlichen Inspektionen mehr Selbständigkeit zu gewähren.

Im Ganzen gab es neun Fach-Inspektionen:

Inspektionen der Abteilung IV (Kriminalpolizei):

  • Inspektion A: Mord und Körperverletzung
  • Inspektion B: Raubüberfälle
  • Inspektion C: Diebstahl
  • Inspektion D: Betrug, Schwindel und Falschmünzerei
  • Inspektion E: Sittenpolizei
  • Inspektion F: Verstöße gegen die Gewerbe- und Konkursordnung
  • Inspektion G: Weibliche Kriminalpolizei, WKP (ab 1927 hauptsächlich mit weiblichen Beamten besetzt)
  • Inspektion H: Fahndungspolizei
  • Inspektion I: Erkennungsdienst, ED

Als Gennat 1904 zur Kriminalpolizei kam, gab es noch keine Mordkommission im eigentlichen Sinne. Erst am 25. August 1902 war ein so genannter „Mordbereitschaftsdienst“ innerhalb der Kriminalpolizei eingerichtet worden, damit zu jeder Tages- und Nachtzeit sofort Beamte an den Tatort geschickt werden konnten. Bis dahin hatte die Leitung der Kriminalpolizei immer erst im Bedarfsfall damit begonnen, geeignete Ermittler zu finden, sodass es mitunter Stunden dauerte, bis die Beamten am Tatort eintrafen.

Auch die Gründung des Landeskriminalpolizeiamtes (LKPA) für Preußen, welches am 1. Juni 1925 seine Arbeit aufnahm, änderte nichts an der Tatsache, dass es in der Aufklärung von Verbrechen im damaligen Deutschland ein deutliches Defizit gab.

Erst durch Ernst Gennats Bemühungen wurde aus dem Mordbereitschaftsdienst eine organisatorisch fest eingerichtete „Zentrale Mordinspektion“ in der Inspektion A, die am 1. Januar 1926 offiziell ihre Arbeit aufnahm und deren Leitung er übernahm. Erst aus diesem Anlass wurde er 1925, mit 45 Jahren, zum Kriminalpolizeirat befördert. Seine für einen preußischen Beamten ungewöhnlich demokratische Grundeinstellung und seine Bereitschaft, an Missständen unverblümt Kritik zu üben, hatten sich trotz seiner unbestreitbaren Erfolge hinderlich auf seine Karriere ausgewirkt. Stellvertretender Leiter von Ernst Gennats Inspektion A wurde Dr. Ludwig Werneburg, der während der zwanziger Jahre die Inspektion B leitete.

Die Funktionsweise der Mordkommissionen in der Inspektion A ab 1926

Die Zentrale Mordinspektion fand in der Folge weltweit Beachtung, Anerkennung und Nachahmung. Als Chef seiner neuen Inspektion koordinierte Gennat nicht nur die Mordkommissionen, sondern hatte die Kontrolle über alle Morduntersuchungen inne und suchte selbst die fähigsten Kriminalisten aus.

Die Mordinspektion bestand aus einer „aktiven“ und zwei „Reserve-Mordkommissionen“. Zur aktiven Mordkommission gehörten ein älterer und ein jüngerer Kommissar (die dann eine so genannte „Mordehe“ führten), vier bis zehn Kriminalbeamte, eine Stenotypistin sowie nach Bedarf (am Tatort) ein Hundeführer und der Erkennungsdienst. Sie bearbeitete alle Berliner Mord- und Totschlagssachen. Den beiden Reservekommissionen waren jeweils ein Kommissar und zwei bis drei Kriminalbeamte plus Stenotypistin zugeordnet. Die Mitarbeiter setzten sich aus Beamten verschiedener Inspektionen zusammen, die turnusmäßig alle vier Wochen wechselten, da jeder einmal diese wertvollen Berufserfahrungen sammeln sollte.

Im Jahre 1931 konnte die Zentrale Mordinspektion von 114 begangenen Tötungsdelikten 108, d. h. 94,7 % aufklären (zum Vergleich: Die Aufklärungsrate für Morde liegt heute zwischen 85 und 95 %). Das Raubdezernat erreichte 1931 im Vergleich dazu nur eine Quote von 52 Prozent. Gennat selbst gelang während seiner 33-jährigen Tätigkeit im Polizeidienst die Aufklärung von 298 Morden.

Neben den Fortschritten in der Organisation und Ermittlungstechnik waren es nicht zuletzt Gennats persönliche Eigenschaften, die ihn so erfolgreich machten. Gerühmt wurden vor allem seine Hartnäckigkeit und Ausdauer, sein phänomenales Gedächtnis und ein enormes psychologisches Einfühlungsvermögen, das ihn befähigte, schon vierzig Jahre vor der Erfindung des Begriffs „Profiling“ zu betreiben. Gewaltanwendung bei Vernehmungen und (polizeirechtlichen) Befragungen lehnte er ab. Seine Mitarbeiter mahnte er eindringlich: „Wer mir einen Beschuldigten anfaßt, fliegt! Unsere Waffen sind Gehirn und Nerven!“ Darüber hinaus hat Gennat (und nicht Robert Ressler) in seinem 1930 erschienen Aufsatz „Die Düsseldorfer Sexualverbrechen“ (über Peter Kürten) den Begriff „Serienmörder“ geprägt. In vieler Hinsicht erscheint Gennat überraschend modern: Er betonte die Wichtigkeit der Prävention gegenüber der Aufklärung von Verbrechen und war sich der Wirkung von Kapitalverbrechen auf die Öffentlichkeit und der meinungsbildenden Rolle der Presse bewusst, die er für die Ermittlungsarbeit fruchtbar zu machen suchte.

Obwohl Ernst Gennat schon zur Kaiserzeit eine Unzahl von Verbrechen – nicht nur Tötungsdelikte – aufgeklärt hatte, war er erst in den (Anfangs-)Jahren der Weimarer Republik auf dem Höhepunkt seiner Popularität angelangt und avancierte zu einer Art Medienstar. Der berühmte Mordsachverständige wurde ein Stück Berlin. Über Mordfälle, in denen Gennat ermittelte, berichteten die Tageszeitungen besonders ausführlich. Zeigte er sich auf einer Veranstaltung der Berliner Hautevolee, so wurde sein Name in den Gesellschaftsspalten der Boulevard-Presse in einem Atemzug mit der „Prominenz“ genannt. Die Berliner Kriminalpolizei bekam auch oft prominenten Besuch, der sich besonders für die Mordinspektion interessierte. So zählten Anfang der 1930er Jahre unter anderem Heinrich Mann, Charles Chaplin und Edgar Wallace zu ihren Besuchern.

Gennat stand Pate für den „Urahnen“ der deutschen Fernsehkommissare, „Kriminalkommissar Karl Lohmann“: schwergewichtig, jovial, patriarchalisch-autoritär. Seine ersten Auftritte hatte dieser in den Fritz-Lang-FilmenM – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) und „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1932). Beide Male wurde er von Otto Wernicke verkörpert.

Neben seinem trockenen Berliner Humor und den vielen Anekdoten und Bonmots, die von ihm erzählt wurden, trug Gennats auffallende Körperfülle (er wog geschätzte 135 kg) nicht wenig dazu bei, den „Dicken von der Mordkommission“ zum bekannten Original werden zu lassen. Er verdankte sie seinem enormen Appetit, vor allem seiner Leidenschaft für (Stachelbeer-)Kuchen. Nicht ohne Grund trug seine Sekretärin Gertrud Steiner den Spitznamen „Bockwurst-Trudchen“.

Ein Kuriosum stellte auch Gennats Amtszimmer im ersten Stock des Berliner Polizeipräsidiums dar, gegenüber der Trasse der Stadtbahn an der Dircksenstraße. „[Es war eine] unvergleichliche Mischung aus plüschig-gemütlichem Wohnzimmer und Gruselkabinett […]. Kein zweites Büro einer Mordkommission dürfte derart originell ausgestattet sein.“ (Regina Stürickow). Den Mittelpunkt in Gennats Büro bildeten ein durchgesessenes grünes Sofa und zwei ebenfalls durchgesessene grüne Plüschsessel. Einen Meter darüber hing eine Konsole, auf der ein präparierter Frauenkopf stand, der einmal in Papier gewickelt aus der Spree geborgen worden war und von den Kriminalbeamten als Zigarettenspender zweckentfremdet wurde. In der Ecke neben dem Sofa lehnte eine Axt, die einst Tatwerkzeug in einem Tötungsdelikt war. Fotografien männlicher und weiblicher Mörder und Opfer sowie ein vom Zigarrenrauch vergilbter Pharus-Plan von Groß-Berlin vervollständigten die Dekoration.

Fortschritte in der Ermittlungstechnik

Aufbauend auf der von Hans Gross begründeten wissenschaftlichen Kriminalistik erkannte Ernst Gennat als einer der ersten die Wichtigkeit einer genauen Spurensicherung am Tatort. Vor seiner Zeit war es keineswegs ungewöhnlich gewesen, dass die zuerst eintreffenden Schutzmänner am Tatort erst einmal „Ordnung schafften“ oder die Leiche pietätvoll hinbetteten. Gennat legte genaue Richtlinien für das Vorgehen am Tatort fest und setzte als unverbrüchliches Prinzip durch, dass vor dem Eintreffen der Ermittler nichts angefasst oder verändert werden durfte.

Um eine gründliche und schnelle Ermittlungsarbeit zu ermöglichen, ließ Gennat nach eigenen Plänen von der Daimler-Benz AG einen Mordbereitschaftswagen, umgangssprachlich „Mordauto“ genannt, anfertigen, einen mit Büro- und Kriminaltechnik ausgestatteten Personenkraftwagen (auf Basis der Mercedes-Benz-Limousine 16/50 PS). Das Publikum durfte anlässlich der „Großen Polizeiausstellung 1926“ (25. September–17. Oktober 1926) in Berlin das Mordauto besichtigen.

Bei Bedarf konnte das Mordauto in ein behelfsmäßiges Büro umfunktioniert werden. Eine Schreibmaschine (mit Stenotypistin) gehörte ebenso zum Inventar wie ein Klapptisch und Klappstühle, damit auch im Freien gearbeitet werden konnte, sowie zwei im Inneren des Wagens angebrachte, versenkbare Tische. Der unmittelbaren Arbeit am Tatort dienten Materialien zur Spurensicherung, Markierungspfähle aus Stahl mit einem dreieckigen Feld und fortlaufenden Nummern. An alles war gedacht: Scheinwerfer, Taschenlampen, Fotomaterial, diverses Handwerkszeug, wie Scheren, Diamantschneider, Äxte und große Spaten, Schrittmesser, Messschieber und Meterstäbe, Gummihandschuhe, Gummischürzen, Pinzetten, Sonden und Pipetten, um ausgelaufene Flüssigkeiten aufzunehmen, sowie geeignete Deckelgläser, Kartons oder Flaschen zur Aufbewahrung von Beweisstücken. Gennat saß immer rechts hinter dem Beifahrer. Dort ließ er eine Spezialverstrebung einbauen. Seine drei Zentner hätten den Wagen sonst in eine Schieflage gebracht.

Die 1927 neu eingerichtete Mordkommission der Münchner Kriminalpolizei wurde auch mit einem „Mordwagen“ und entsprechendem Gerät ausgestattet.

Zu Weltruhm gelangte auch die von Gennat geschaffene „Zentralkartei für Mordsachen“ oder „Todesermittlungskartei“, die jahrzehntelang von dem Kriminalbeamten Otto Knauf betreut wurde. In ihr wurden systematisch alle bekannt gewordenen gewaltsamen Todesfälle, nicht nur aus Berlin, dokumentiert. Keine andere Polizeibehörde besaß bis 1945 eine so umfangreiche Sammlung von Fallbeschreibungen wie die Zentrale Mordinspektion. In kürzester Zeit konnten so länger zurückliegende Fälle rekonstruiert werden, um mögliche Verbindungen in der Tatausführung erkennbar werden zu lassen. Als Quellenmaterial dienten neben Originalakten auch Presseberichte und Fahndungsplakate. Ernst Gennat ließ sich auch Ermittlungsakten anderer Polizeidienststellen mit der Bitte um „Einsichtnahme“ zukommen – und gelegentlich „vergaß“ er sie dann zurückzugeben. Die systematisch aufgebaute Kartei umfasste nicht nur Kapitalverbrechen, sondern enthielt auch die Rubriken „Indirekter oder kalter Mord“ (Suizide aufgrund übler Nachrede oder falscher Anschuldigungen), „Existenzvernichtungen durch arglistige Täuschung“ (Suizide, die durch Betrüger, Hochstapler, obskure Hellseher oder Heiratsschwindler ausgelöst wurden) und „Existenzvernichtung durch Erpressung“. Gennat vertrat die Auffassung, dass auch die Verleitung zum Suizid unter Strafe gestellt werden müsste. Einige Stücke aus dem Gennatschen Archiv gingen in den Bestand der Polizeihistorischen Sammlung Berlin über.

In der Zeit des Nationalsozialismus

Nachdem 1933 das nationalsozialistische Regime an die Macht gekommen war, wurden durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ politisch unzuverlässige und „nichtarische“ Beamte aus dem Dienst entfernt. Im Bereich der Kriminalpolizei blieben die politischen Säuberungen aber eher oberflächlich. Das prominenteste Opfer war der Polizeivizepräsident („Vipoprä“) Bernhard Weiß als Jude und Repräsentant der Weimarer Republik.

Gennat verblieb auf seinem Posten. Ermittlungen führte er nur noch von seinem Dienstzimmer aus (daher die Bezeichnung „Schreibtischkriminalist“), da ihm aufgrund seiner Übergewichtigkeit das Gehen schwer fiel. Er kümmerte sich um den polizeilichen Nachwuchs, plante Ermittlungen präzise, verhörte Beschuldigte und Zeugen, fand nach wie vor mit schlafwandlerischer Sicherheit Fehler bei Ermittlungen, hielt Vorträge und schrieb Aufsätze wie die bekannte Artikelserie „Die Bearbeitung von Mord- (Todesermittlungs-) Sachen“. Auffällig ist, dass er in allen seinen nach 1933 verfassten Artikeln niemals Begriffe oder Floskeln der neuen Machthaber verwendet, nur einmal benutzte er das Wort „Machtübernahme“. Unter seinem Einfluss gab es nur wenige Beamte, die mit den Nationalsozialisten sympathisierten. Als liberaler Demokrat war Ernst Gennat für seine Kollegen die Personifizierung des klassischen Kriminalisten: undogmatisch, unbestechlich und immer bereit, die persönlichen Rechte des Einzelnen zu schützen.

Ab dem 6. November 1933 wurden die Mordinspektion „M I,“ die Sonder-Inspektion zur Bearbeitung von Sittlichkeitsverbrechen „M II“ und die Weibliche Kriminalpolizei (WKP) „M III“ zur „Kriminalgruppe M“ zusammengefasst. Die Leitung der Kriminalgruppe M übernahm Ernst Gennat, der trotz seiner distanzierten Haltung gegenüber den Nationalsozialisten 1934 zum Kriminaldirektor und 1935 zum Regierungs- und Kriminalrat befördert wurde, womit ihm die „ständige Vertretung des Leiters der Berliner Kriminalpolizei“ übertragen wurde.

Die Mordinspektion erhielt infolge dieser organisatorischen Veränderung zusätzliche Aufgaben. In eigens dafür geschaffenen Kommissariaten wurden zukünftig neben Branddelikten auch tödliche Verkehrsunfälle bearbeitet. 1936 bestand die Mordinspektion somit aus insgesamt neun Kommissariaten. Ab 1936 wurde die Berliner Kriminalpolizei aus dem Groß-Berliner Polizeiapparat herausgelöst und dem Deutschen Reich unterstellt, wobei die Kriminalgruppe M ihren Dienst noch im Dienstgebäude am Alexanderplatz versah und sich an den eigentlichen Aufgabengebieten nichts änderte.

Gennat schrieb am 7. November 1938 um 20 Uhr nicht nur Kriminal-, sondern auch Fernsehgeschichte: Nach dem Mord an einem Taxifahrer wurde die erste Fernsehfahndung mit Kriminalkommissar Theo Saevecke ausgestrahlt. Obwohl es zu diesem Zeitpunkt in Berlin erst 28 öffentliche Fernsehstuben gab, führten die zahlreichen eingehenden Hinweise zur Ergreifung des Täters.

Ernst Gennats Grab auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf
Die Todesanzeige Ernst Gennats vom 21. August 1939

„Der geniale Kriminalist Gennat, […] dieser nie die Ruhe verlierende, gutmütige, menschenfreundliche, stets schlampig gekleidete Herr […], den fast alle als eingefleischten Junggesellen charakterisierten“ (Dietrich Nummert), heiratete 1939 völlig überraschend eine Kriminalkommissarin der WKP, Elfriede Dinger. Da dies kurz vor seinem Tode am 20. August 1939 geschah (er litt an Darmkrebs, starb aber vermutlich an einem Schlaganfall), wurde mancherseits angenommen, er sei diesen Schritt nur deshalb gegangen, um der jungen Frau die beachtliche Witwenrente zu sichern. Belegt ist diese Absicht freilich nicht.

Bernd Wehner, ein ehemaliger Kollege Ernst Gennats und späterer „Spiegel“-Autor, berichtete von der Beerdigung: „Hinter dem Sarg schritten, wie zum Hohn des humanen Mannes, die inzwischen großgewordenen Kriminalbeamten vom Werderschen Markt und der Leitstelle Berlin, seine einstigen Schüler, zumeist in SS-Uniform. Weit hinten in der Reihe erst kamen seine Mord-Kommissare mit ihrem Inspektionsleiter Werneburg. Alle im Zylinder. Keiner von ihnen war bisher für würdig befunden, die Uniform zu tragen. Unübersehbar folgten die Beamten.“

2.000 Berliner Kriminalbeamte folgten dem Sarg Gennats.

Literatur

  • Karl Berg: Der Sadist. Der Fall Peter Kürten. Belleville, München 2004, ISBN 3-923646-12-7 (Gerichtsärztliches und Kriminalpsychologisches zu den Taten des Düsseldorfer Mörders Peter Kürten).
  • Ernst Gennat: Die Düsseldorfer Sexualmorde. In: Kriminalistische Monatshefte 1930, ZDB-ID 206467-4, S. 2–7, 27–32, 49–54, 79–82.
  • Philip Kerr: Das letzte Experiment. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2009, ISBN 978-3-8052-0869-7 (Historischer Kriminalroman).
  • Volker Kutscher: Der nasse Fisch. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, ISBN 3-462-04022-7 (Historischer Kriminalroman).
  • Volker Kutscher: Der stumme Tod. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, ISBN 3-462-04074-X (Historischer Kriminalroman).
  • Dietrich Nummert: Buddha oder der volle Ernst. Der Kriminalist Ernst Gennat (1880–1939). In: Berlinische Monatsschrift 1999, Heft 9, S. 64–99.
  • Franz von Schmidt: Vorgeführt erscheint. Erlebte Kriminalistik. Stuttgarter Hausbücherei, Stuttgart 1955.
  • Franz von Schmidt: Mord im Zwielicht. Erlebte Kriminalgeschichte. Verlag Deutsche Volksbücher, Stuttgart 1961.
  • Regina Stürickow: Habgier. Berlin-Krimi-Verlag, Berlin-Brandenburg 2003, ISBN 3-89809-025-6 (Historischer Kriminalroman, basierend auf dem authentischen Mordfall Martha Franzke von 1916).
  • Regina Stürickow: Der Kommissar vom Alexanderplatz. Aufbau Taschenbuch-Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-7466-1383-3 (Biografie).
  • Regina Stürickow: Mörderische Metropole Berlin. Kriminalfälle 1914–1933. Militzke, Leipzig 2004, ISBN 3-86189-708-3.
  • Regina Stürickow: Mörderische Metropole Berlin. Kriminalfälle im Dritten Reich. Militzke, Leipzig 2005, ISBN 3-86189-741-5.

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