Fraktion im Europäischen Parlament

Fraktion im Europäischen Parlament

Das Europäische Parlament zeichnet sich unter den existierenden supranationalen Institutionen dadurch aus, dass es – ebenso wie ein nationales Parlament – nicht entlang nationaler Gruppen, sondern weltanschaulicher Fraktionen organisiert ist. Diese Fraktionen des Europäischen Parlaments setzen sich aus Europaabgeordneten mit ähnlichen politischen Ansichten zusammen.

Im Allgemeinen bilden sich die Fraktionen aus den europäischen politischen Parteien. Allerdings entsprechen sie einander nicht hundertprozentig, da häufig verschiedene Europaparteien eine gemeinsame Fraktion bilden (z. B. die Europäische Grüne Partei mit der Europäischen Freien Allianz oder die Europäische Liberale, Demokratische und Reformpartei mit der Europäischen Demokratischen Partei). Außerdem sind in mehreren Fraktionen parteilose Abgeordnete vertreten.

Inhaltsverzeichnis

Anforderungen zur Bildung einer Fraktion

Die Konstituierung als Fraktion bringt den Abgeordneten verschiedene Vorteile, insbesondere zusätzliche parlamentarische Rechte – etwa die Repräsentation in den Ausschüssen des Europaparlaments oder die Einbringung von Beschlussvorlagen – sowie finanzielle Zuwendungen.

Die Anforderungen zur Bildung einer Fraktion im Europaparlament sind in Art. 30 der Geschäftsordnung des Europaparlaments niedergelegt.[1] Demnach sind mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel (d. h. sieben) der Mitgliedstaaten erforderlich; kein Abgeordneter kann Mitglied zweier verschiedener Fraktionen sein. Sollte eine Fraktion im Verlauf einer Legislaturperiode durch den Austritt von Mitgliedern kleiner werden, so darf sie den Fraktionsstatus weiter behalten, sofern sie noch Mitglieder aus mindestens einem Fünftel (d. h. sechs) Mitgliedstaaten hat und zuvor mindestens ein Jahr lang als Fraktion existierte.

Bis zur Europawahl 2009 waren lediglich 19 Abgeordnete aus einem Fünftel der Mitgliedstaaten zur Bildung einer Fraktion erforderlich. Allerdings wurden diese Anforderungen nach der Bildung der rechtsextremen Fraktion ITS im Jahr 2007 auf Initiative der beiden größten Fraktionen (EVP-ED und SPE) ausgeweitet. Diese Verschärfung der Anforderungen sollte die Bildung links- und rechtsradikaler Fraktionen erschweren.

Darüber hinaus müssen Fraktionen eine gemeinsame weltanschauliche Ausrichtung besitzen, es kann daher keine „gemischten“ oder „technischen“ Fraktionen geben, durch die sich eigentlich fraktionslose Abgeordnete nur zu dem Zweck zusammenschließen, sich die Privilegien des Fraktionsstatus zu sichern. Eine solche gemischte Fraktion existierte bis 2001, wurde dann aber nach einem Urteil[2] des Europäischen Gerichtshofs aufgelöst. Ob die Parteien einer Fraktion tatsächlich eine gemeinsame Weltanschauung vertreten, wird vom Parlamentspräsidium jedoch im Regelfall nicht geprüft. Nur wenn die Fraktionsmitglieder selbst ihre politische Zusammengehörigkeit verneinen, kann dies ein Grund für die Auflösung der Fraktion sein.

Organisation der Fraktionen

Fraktionen können sich entweder auf eine einzelne Europapartei stützen (wie die sozialdemokratische Fraktion S&D) oder mehrere europäische und nationale Parteien sowie parteilose Mitglieder umfassen (wie die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa oder die Fraktion der Grünen/EFA).

Jede Fraktion ernennt einen Fraktionsvorstand (der meist „Präsident“, „Koordinator“ oder „Sprecher“ genannt wird), der die Standpunkte der Fraktion nach außen vertritt. Allerdings gibt es im Europäischen Parlament keinen formalen Fraktionszwang; kein Abgeordneter kann zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten verpflichtet werden. Dies bewirkt, dass es traditionell häufig zu einem uneinheitlichen Abstimmungsverhalten innerhalb der Fraktionen kommt (indem etwa einzelne Abgeordnete oder Landesgruppen vom Mehrheitsverhalten der Fraktion abweichen). Allerdings hat die Einheitlichkeit innerhalb der Fraktionen seit den Kompetenzerweiterungen und der „Professionalisierung“ des Parlaments in den neunziger Jahren deutlich zugenommen. Die Vorstände der verschiedenen Fraktionen bilden zusammen die so genannte „Konferenz der Präsidenten“, die unter anderem die Tagesordnung der Parlamentssitzungen entwirft.

Unterhalb der Fraktionsebene organisieren sich die Abgeordneten meist in nationalen Delegationen, die jeweils die Mitglieder einer nationalen Partei umfassen. Die Delegationsleiter sind üblicherweise die Spitzenkandidaten der jeweiligen Partei bei der Europawahl. In den Fraktionen, die sich aus mehreren Europaparteien zusammensetzen, gibt es meist noch eigene Arbeitsgruppen, die jeweils die Abgeordneten derselben Europapartei umfassen.

Gegenwärtig existierende Fraktionen im Europaparlament

Seit der Europawahl 2009 existieren folgende Fraktionen im Europäischen Parlament (Stand: 30. Juni 2011):

Fraktion Untergruppen/Mitgliedsparteien Vorsitzende(r) Gründung Mitglieder
  Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten)
(EVP)
Europäische Volkspartei (EVP)
5 selbstständige nationale Parteien
1 parteiloses Mitglied
Joseph Daul 1952 264
  Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament
(S&D)
Sozialdemokratische Partei Europas (SPE)
3 selbstständige nationale Parteien
Martin Schulz 1952 185
  Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa
(ALDE)
Europäische Liberale, Demokratische und Reformpartei (ELDR)
Europäische Demokratische Partei (EDP)
3 selbstständige nationale Parteien
Guy Verhofstadt 2004 85
  Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament
(Grüne/EFA)
Europäische Grüne Partei (EGP)
Europäische Freie Allianz (EFA)
2 selbstständige nationale Parteien
2 parteilose Mitglieder
Rebecca Harms
Daniel Cohn-Bendit
1999 56
  Europäische Konservative und Reformisten
(ECR)
Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (AECR) Jan Zahradil 2009 56
  Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke
(GUE–NGL)
Partei der Europäischen Linken (EL)
11 selbstständige nationale Parteien
Lothar Bisky 1994 34
  Europa der Freiheit und der Demokratie
(EFD)
9 selbstständige nationale Parteien Nigel Farage
Francesco Speroni
2009 27
  Fraktionslose selbstständige nationale Parteien 29
Quelle: Europäisches Parlament Gesamt 736

Abgeordnete aus Deutschland und Österreich finden sich in folgenden Fraktionen:

Deutschland
Österreich

Koalitionen

Da das Europaparlament – anders als nationale Parlamente – keine Regierung im traditionellen Sinn wählt, ist die Gegenüberstellung von Regierungskoalition und Oppositionsfraktionen hier weniger stark ausgeprägt. Statt Konfrontation herrscht zwischen den großen Parteien ein weitgehender Konsens. Auch hat bisher noch niemals eine einzelne Fraktion eine absolute Mehrheit im Europaparlament gestellt; allerdings gab es stets eine Mehrheit von 50–70 % für die „Große Koalition“ aus der konservativ-christdemokratischen EVP-ED und der sozialdemokratischen SPE. Diese Fraktionen dominieren daher traditionell das Geschehen im Europaparlament. Bis 1999 stellten die Sozialdemokraten die größte Fraktion, seither die EVP-ED.

Diese informelle Große Koalition wird noch verstärkt durch die institutionellen Regelungen für die EU-Rechtsetzung: Da im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren für die Verabschiedung eines Beschlusses in zweiter Lesung jeweils eine absolute Mehrheit der gewählten (nicht der anwesenden) Mitglieder des Europäischen Parlaments notwendig ist, kann das Parlament faktisch nur durch eine Zusammenarbeit aus EVP und SPE die notwendigen Mehrheiten organisieren. Für kleinere Koalitionen wäre es notwendig, dass regelmäßig fast alle Abgeordneten der Koalitionsfraktionen an den Plenarsitzungen teilnehmen, was im parlamentarischen Alltag kaum möglich ist.

Ein deutliches Kennzeichen der Großen Koalition ist auch ihre Vereinbarung, das fünfjährige Mandat des Parlamentspräsidenten aufzuteilen, sodass das Parlament jeweils für die Hälfte der Legislaturperiode von einem Sozialdemokraten und für die andere Hälfte von einem EVP-Mitglied geleitet wird. Allerdings ist die Große Koalition nach wie vor nicht formalisiert, es gibt weder einen Koalitionsvertrag noch ein festes gemeinsames „Regierungsprogramm“. Im Arbeitsalltag des Europäischen Parlaments werden Entscheidungen daher weiterhin grundsätzlich mit wechselnden Mehrheiten aus verschiedenen Fraktionen getroffen, wenn auch fast immer ausgehend von einem Kompromiss zwischen EVP und SPE.

Die Praxis der Großen Koalition wurde von den Mitgliedern der kleineren Fraktionen, insbesondere von Liberalen und Grünen, kritisiert. Während der Legislaturperiode 1999–2004 kam es in Folge des Korruptionsskandals um die Kommission Santer zu einem Bruch der Großen Koalition und einer Kooperation zwischen EVP und Liberalen. Bei der Diskussion um die Ernennung von Rocco Buttiglione zum Justizkommissar im Jahr 2004 distanzierten sich EVP und Liberale allerdings wieder voneinander, sodass es – trotz der Differenzen zwischen EVP und SPE – letztlich zu einer neuen informellen „Großen Koalition“ kam. Vor dem Europawahlen 2009 kündigte Graham Watson, der Fraktionsvorsitzende der Liberalen, sein Ziel an, in der nächsten Legislaturperiode mit seiner Fraktion an einer stabilen Koalition mit EVP oder SPE teilzuhaben.[3] Allerdings ließ das Wahlergebnis keine solche „kleine Koalition“ zu, da weder EVP und ALDE noch SPE und ALDE allein eine Mehrheit besitzen.

Geschichte

Fraktionen in den Wahlperioden seit 1979. Von links nach rechts:
  • (Post-)Kommunisten und Sozialisten, GUE/NGL
  • Sozialdemokraten, S&D
  • Grüne/Regionalisten (1984–1994 „Regenbogen“), Grüne/EFA
  • Grüne (ohne Regionalisten, 1989–1994)
  • „technische“ Fraktion (1979–1984, 1999–2001)
  • Fraktionslose
  • Liberale, ALDE
  • Radikale Allianz (1994–1999)
  • Christdemokraten, EVP
  • Forza Europa (1994–1995)
  • Konservative (1979–1992, seit 2009), ECR
  • Europaskeptiker, EFD
  • Gaullisten, Nationalkonservative (1979–2009)
  • Rechtsextreme (1984–1994)

Die ersten drei Fraktionen bildeten sich bereits in den ersten Tagen nach Gründung des Europaparlaments 1952. Dabei handelte es sich um die Sozialdemokratische Fraktion (heute S&D), die Christdemokratische Fraktion (heute EVP) und die Fraktion der Liberalen und Nahestehenden (aus der die Partei ELDR hervorging, die heute Teil der Fraktion ALDE ist). Offizieller Teil des Parlaments wurden sie im Jahr 1953 mit der Verabschiedung der ersten Geschäftsordnung. Ein wichtiger Punkt hierbei war die Wahl des ersten Parlamentspräsidenten. Der Belgier Paul-Henri Spaak erklärte seine Bereitschaft zur Kandidatur gegen Heinrich von Brentano nur unter der Bedingung, dass alle sozialistischen Vertreter in der Versammlung geschlossen für ihn stimmten[4]. Dies hat die Bildung von Fraktionen verstärkt, was auch später durch Spaak als Präsidenten gefördert wurde.

In der weiteren Entwicklung des Parlaments entstanden neue Fraktionen. Nationalkonservative gaullistische Abgeordnete aus Frankreich traten 1965 aus der Liberalen Fraktion aus und gründeten die Fraktion der Europäischen Demokratischen Union (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen christdemokratisch-konservativen Parteibündnis EDU, das 1978 gegründet wurde). Diese existierte unter verschiedenen Namen und mit unterschiedlichen Mitgliedsparteien weiter und bildete den Kern der UEN, die bis 2009 existierte. Einen Sonderfall bildete die italienische Partei Forza Italia, die 1994/95 mehrere Monate lang eine eigene Fraktion namens Forza Europa bildete, ehe sie sich zunächst der UEN und 1999 der EVP anschloss.

Nach dem Beitritt von Dänemark und Großbritannien entstand 1973 die Konservative Fraktion, die sich 1979 in die Fraktion der Europäischen Demokraten (ED) umbenannte und von 1992 bis 2009 mit der EVP zur EVP-ED-Fraktion vereinigte. Nach der Europawahl 2009 traten die ED-Parteien aus dieser gemeinsamen Fraktion aus und gründeten zusammen mit ehemaligen UEN-Mitgliedern die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR).

1973 entstand auch erstmals eine Kommunistische Fraktion im Europaparlament. Diese spaltete sich 1989 in die zwei Fraktionen, von denen sich eine jedoch 1993 auflöste, nachdem ihre italienische Mitgliedspartei sich der SPE angeschlossen hatte. Die verbleibende Fraktion bildete nach mehreren Namensänderungen schließlich den Kern der heutigen Europäischen Linkspartei (EL). Nach dem Beitritt von Finnland und Schweden 1995 bildeten die skandinavischen Linksparteien ein eigenes Bündnis (die Nordische Grüne Linke), das jedoch eine Fraktionsgemeinschaft mit der EL einging (Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke).

1984 bildete sich ferner die so genannte „Regenbogen“-Fraktion zwischen den europäischen Grünen und verschiedenen Regionalparteien, die sich in der Europäischen Freien Allianz (EFA) zusammengeschlossen hatten, um sich für eine stärkere politische Dezentralisierung einzusetzen. 1989 traten die Grünen jedoch aus diesem Bündnis aus und bildeten eine eigene Fraktion. Die verbleibenden Mitglieder des „Regenbogens“ schlossen sich 1994 mit einer Gruppe französischer und italienischer linksliberaler Parteien, die sich aus der ELDR-Fraktion abgespalten hatten, zu der „Radikalen Allianz“ zusammen. 1999 zerbrach diese Radikalliberale Fraktion jedoch: Während sich die Regionalparteien der EFA erneut einer gemeinsamen Fraktion mit den Grünen anschlossen (Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament), kehrten die linksliberalen Parteien in die ELDR-Fraktion zurück. 2004 gründeten sie allerdings eine eigene Europapartei (die EDP), die nun mit der ELDR formal eine Fraktionsgemeinschaft namens Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) bildet.

1984 entstand auch erstmals eine rechtsextreme Fraktion im Europaparlament, die Fraktion der Europäischen Rechten. Diese erwies sich jedoch als instabil, da die wechselseitigen nationalistischen Vorbehalte ihrer Mitglieder die Zusammenarbeit mit Abgeordneten der anderen Staaten erschwerten. Um sich von der supranationalen Zusammenarbeit abzusetzen und den rein pragmatischen Charakter des Bündnisses zu unterstreichen, benannte sich die Fraktion 1989 in Technische Fraktion der Europäischen Rechten um; 1994 zerbrach sie vollständig. 2007 kam es zu einem neuen Versuch zur Gründung einer rechtsextremen Fraktion unter dem Namen Identität, Tradition, Souveränität (ITS), die sich jedoch nach nur wenigen Monaten wieder auflöste.

1994 wurde schließlich zum ersten Mal eine europaskeptische Fraktion im Europaparlament gegründet, die nach mehreren Umbildungen und Namensänderungen in die heutige Fraktion Europa der Freiheit und der Demokratie (EFD) mündete.

Von 1979 bis 1984 sowie von 1999 bis 2001 existierten außerdem so genannte „technische“ oder „gemischte“ Fraktionen, die Abgeordneten verschiedener Parteiströmungen umfassten, die sich keiner anderen Fraktion anschließen, aber dennoch nicht auf die Vorzüge des Fraktionsstatus verzichten wollten. Dies entspricht der parlamentarischen Praxis mancher europäischer Länder, ist jedoch von der Geschäftsordnung des Europaparlaments nicht gestattet. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs wurde die Technische Fraktion der Unabhängigen Abgeordneten daher 2001 aufgelöst.

Weblinks

Literatur

  • Franz C. Heidelberg: Das Europäische Parlament, Baden-Baden, Verlag August Lutzeyer, 1959

Einzelnachweise

  1. Art. 30 der Geschäftsordnung auf der Homepage des Europäischen Parlaments.
  2. Das Urteil im Wortlaut Judgment of the Court of First Instance (Third Chamber, extended composition) of 2 October 2001.
  3. EurActiv, 6. November 2008, Interview: Europäisches Parlament braucht ‚ideologische Koalition‘.
  4. Vgl. Heidelberg 1959, S. 32

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