Spiel über Bande

Spiel über Bande

Das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist ein geläufiges Schlagwort, mit dem die Einschätzung bezeichnet wird, dass die Europäische Union für ihr politisches Handeln nicht ausreichend demokratisch legitimiert ist.[1] Die Kritiker lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, die das behauptete Demokratiedefizit jeweils unterschiedlich verstehen: Die Kritiker des sogenannten „strukturellen Demokratiedefizits“ sprechen davon, dass es kein europäisches Staatsvolk gebe; die des „institutionellen Demokratiedefizits“ sehen dagegen Mängel im institutionellen Aufbau der EU.

Umgangssprachlich werden diese Sachverhalte gelegentlich auch als „Eurokratie“ bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Strukturelles Demokratiedefizit

Kritiker des strukturellen Demokratiedefizits werfen der EU vor, es fehle ihr an einem einheitlichen Staatsvolk, das sie demokratisch legitimieren könnte.[2]

Aufgrund der Sprachenvielfalt und des Fehlens „europäischer Medien“ gebe es keinen gesamteuropäischen politisch-öffentlichen Diskurs: Die Medien würden nicht nur in der jeweiligen nationalen Sprache berichten, sondern dabei auch noch eine bestimmte, nationale Sichtweise einnehmen. Ohne eine europaweite Öffentlichkeit könne aber auch keine gemeinsame Identität als „europäisches Staatsvolk“ entstehen. Daraus ergebe sich Bürgerferne und letztlich ein Demokratiedefizit der EU. Bislang gebe es nur vereinzelte Ansätze, dieses Problem zu beseitigen, etwa den deutsch-französischen Sender ARTE oder euronews. Auch die englische Sprache als Lingua Franca könne das Problem der Sprachenvielfalt nicht überwinden, da vielen Menschen das entsprechende Fachvokabular fehle, um politisch substanzielle Auseinandersetzungen zu führen.

Kritiker des strukturellen Demokratiedefizits sind daher oft in den Reihen der sogenannten Intergouvernementalisten zu finden, die die EU auf eine reine zwischenstaatliche Zusammenarbeit beschränken wollen und weitere Kompetenzen für die supranationalen Organe (etwa Europäische Kommission und Europäisches Parlament) ablehnen.

Ein wichtiger Vertreter dieser Kritik ist Prof. Karl Albrecht Schachtschneider, der unter anderem 1993 Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht war. Im sogenannten Maastricht-Urteil befasste sich das Verfassungsgericht daher auch mit der Frage, ob die Teilnahme der Bundesrepublik an der Europäischen Union mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes vereinbar ist, und ging dabei auf die Problematik des fehlenden europäischen Staatsvolks ein. Das Urteil führt für die EU die Bezeichnung „Staatenverbund“ ein und fordert als Voraussetzung für eine Mitgliedschaft Deutschlands, dass „eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb eines Staatenverbundes gesichert ist“. Dabei ging das Verfassungsgericht zwar nicht von der Existenz eines europäischen Staatsvolkes aus, sah dies aber auch nicht als notwendige Bedingung für die demokratische Legitimation der EU an: Vielmehr erhalte die EU Legitimation für hoheitliche Aufgaben über die nationalen Parlamente, die die Staatsvölker der einzelnen Mitgliedstaaten repräsentieren. Allerdings räumte das Verfassungsgericht ein, dass „insoweit demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden [kann] wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung“. Das Europäische Parlament wurde vom Verfassungsgericht als eine Vertretung der Staatsvölker aufgefasst, „von der ergänzend eine demokratische Abstützung der Politik der Europäischen Union ausgeht“. Die Europäische Union ist nach dieser Sichtweise also kein Staat, der sich unmittelbar auf ein europäisches Staatsvolk stützt, gleichwohl aber vereinbar mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes.[3] Damit lehnte das Bundesverfassungsgericht die Kritik eines strukturellen Demokratiedefizits der Europäischen Union ab.

Institutionelles Demokratiedefizit

Weiter verbreitet als die Kritik eines strukturellen Demokratiedefizits ist diejenige eines institutionellen Demokratiedefizits. Diese sieht die Europäische Union nicht als grundsätzlich mit demokratischen Prinzipien unvereinbare Institution an, sondern kritisiert lediglich den inneren Aufbau der EU, der in der derzeitigen Form nicht genügend Mitsprachemöglichkeiten für die europäischen Bürger ermögliche. In dem 1988 verabschiedeten sogenannten Toussaint-Bericht zum „Demokratiedefizit in der Europäischen Gemeinschaft“ definierte das Europäische Parlament dieses als

„Kombination zweier Phänomene: (i) die Übertragung von Vollmachten von den Mitgliedstaaten auf die Europäischen Gemeinschaften; (ii) die Ausübung dieser Vollmachten auf Gemeinschaftsebene durch andere Institutionen als das Europäische Parlament, auch wenn vor der Übertragung die nationalen Parlamente die Vollmacht hatten, in den betroffenen Bereichen Gesetze zu verabschieden.“

Toussaint-Bericht 1988[4]

In der Praxis ist dabei vor allem der Ministerrat der EU von Bedeutung. Dieser ist das wichtigste Gesetzgebungsorgan der EU, wird aber von den nationalen Regierungen gebildet. Dies führt dazu, dass im Rat die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive – ein Grundprinzip der Demokratie – aufgehoben wird. Typisch ist deshalb das sogenannte Spiel über Bande, das nationalen Regierungen über den Umweg der EU erlaubt, europaweit Gesetze zu erlassen, die aufgrund des demokratischen Prozesses in den Mitgliedsländern so nicht möglich gewesen wären.

Dabei versucht ein nationales Ministerium, das ein Gesetzesvorhaben – beispielsweise durch fehlende Unterstützung des nationalen Parlaments – nicht verwirklichen kann, die Europäische Kommission dazu zu bewegen, einen entsprechenden Gesetzesentwurf zu initiieren. Da die Mitglieder des Ministerrats, der maßgeblich am Gesetzgebungsprozess in der EU beteiligt ist, gerade diejenigen Fachminister der nationalen Regierungen sind, die das Gesetz anstreben, ist ein Zustandekommen des Gesetzes wahrscheinlich – insbesondere in denjenigen Politikbereichen, in denen das Europäische Parlament keine Mitspracherechte hat und der Ministerrat allein beschließt. Die nationalen Parlamente haben danach keine Möglichkeit mehr, die europaweite Gesetzgebung zu verhindern. Als Beispiel kann die Einführung von biometrischen Reisepässen mit Fingerabdruck genannt werden, die etwa von der deutschen Bundesregierung angestrebt und letztlich über den Umweg der EU verwirklicht wurde.

Die Kritiker des institutionellen Demokratiedefizits teilen sich in zwei große Gruppen: Während die Intergouvernementalisten sich gegen die Übertragung weiterer Kompetenzen an die EU aussprechen und dafür eine Stärkung der nationalen Parlamente fordern, setzen sich die europäischen Föderalisten für eine Umgestaltung der europäischen Institutionen ein, durch die das Europäische Parlament gestärkt würde. Die beiden Lösungsansätze befinden sich dabei teilweise im Widerspruch zueinander: Überspitzt formuliert setzen sich die Intergouvernementalisten eher für „weniger“, die Föderalisten eher für „mehr Europa“ ein.

Intergouvernementalistische Kritik

Intergouvernementalisten, die mit dem institutionellen Demokratiedefizit argumentieren, werfen der EU meist vor, sich Kompetenzen in Politikbereichen anzueignen, die nach dem Subsidiaritätsprinzip sinnvoller auf nationalstaatlicher Ebene geregelt werden sollten. Dabei spielen insbesondere folgende Kritikpunkte eine Rolle:

  • eine zu weitreichende Regulierung durch gut gemeinte Versuche und/oder ein Streben nach Macht. Als Beispiel dient hier etwa die am 20. März 2000 erlassene Seilbahnrichtlinie (Richtlinie 2000/9/EG), nach der auch flachländische Länder wie Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern Gesetze für Seilbahnen erlassen müssen (siehe etwa das Landesseilbahngesetz Mecklenburg-Vorpommern).
  • das oben dargestellte „Spiel über Bande“, durch das den Kritikern zufolge den nationalen Parlamenten eine effektive Kontrolle ihrer eigenen Regierung unmöglich gemacht wird.
  • sogenannte Paketbeschlüsse im Ministerrat, bei denen sachfremde Themen zusammengefasst und gemeinsam beschlossen werden. Hierdurch kommen aus Sicht der intergouvernementalistischen Kritiker viele Beschlüsse zustande, die sonst keine Mehrheit gefunden hätten. Auch dies trage zur Überregulierung bei.
  • die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Dieser ist vertraglich der „Verwirklichung einer immer engeren Union“[5] verpflichtet. Den Kritikern zufolge neige er daher in seinen Urteilen dazu, die EU-Verträge zentralistisch zu interpretieren und der EU immer mehr Zuständigkeiten zuzusprechen.

Als Lösung dieser Demokratie- bzw. Subsidiaritätsprobleme wird von intergouvernementalistischer Seite vorgeschlagen, den Rat seiner Funktion als „Subsidiaritätswächter“ zu entheben und statt seiner vier neue Subsidiaritätswächter zu errichten. Diese wären:

  1. Ein Kompetenzkatalog, der den Umfang der EU-Zuständigkeiten festlegt.
  2. Ein Kompetenzgerichtshof, der über Maßnahmen der Kommission, des Parlaments und auch über die Urteile des Europäischen Gerichtshofes entscheidet. Wichtig wäre dabei, dass die nationalen Parlamente klagebefugt wären.
  3. Ein Rückholungsrecht, mit dem es den Mitgliedstaaten über den Rat möglich wäre, bestimmte Politikbereiche wieder der nationalen Verantwortung zu übertragen. (Bereits jetzt wäre es den Mitgliedstaaten möglich, Kompetenzen auf die nationale Ebene zurückzuholen, allerdings nur durch eine – relativ aufwendige – Änderung des EU-Vertrags.)
  4. Die Anwendung des Diskontinuitätsprinzips, nach dem Gesetzgebungsverfahren nach Ablauf einer Legislaturperiode verfallen würden.

Föderalistische Kritik

Auch die europäischen Föderalisten, die einen europäischen Bundesstaat anstreben, kritisieren den institutionellen Aufbau der EU. Dabei wird von den Föderalisten als Lösung allerdings nicht eine Rückgabe von Kompetenzen an die Nationalstaaten, sondern eine Demokratisierung des europäischen Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesses angestrebt, um das Niveau an demokratischer Legitimation zu verbessern.

Ein wesentlicher Punkt dieser föderalistischen Kritik ist die Machtverteilung zwischen den drei wichtigsten EU-Organen, nämlich Europaparlament, Kommission und Ministerrat. So wird kritisiert, dass das Europäische Parlament – als die einzige direkt gewählte Institution der EU – in einigen Politikbereichen keine vollen Mitspracherechte in der Gesetzgebung besitzt. Während des Gesetzgebungsprozesses kann das Parlament nur in einem der vier Rechtsetzungsverfahren, dem Mitentscheidungsverfahren, die üblichen Funktionen eines Parlaments wahrnehmen. Dieses Mitentscheidungsverfahren gilt inzwischen zwar für die große Mehrheit, aber noch nicht für alle Politikbereiche der EU. In einzelnen Bereichen, etwa der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, besitzt das Europaparlament nach wie vor kein Mitspracherecht.

Außerdem besitzt das Europäische Parlament auch im Mitentscheidungsverfahren kein Initiativrecht; es kann also keine Gesetzesvorschläge selbst einbringen. Vielmehr gehen Gesetzesinitiativen in der EU bisher nur von der Kommission aus. Dies wäre wiederum nur ein geringeres Problem, wenn die Europäische Kommission vom Europaparlament gewählt würde: Auch auf nationaler Ebene gehen Gesetzesinitiativen oft nicht vom Parlament, sondern von der Regierung aus; da aber die Regierung vom Parlament gewählt ist und sich für ihre Tätigkeit auf die Mehrheitsfraktionen stützt, decken sich die Zielsetzungen von beiden Institutionen meist. Die Mitglieder der Europäischen Kommission hingegen werden von den nationalen Regierungen bestimmt und müssen vom Europaparlament lediglich geschlossen bestätigt werden. Auch wenn das Europaparlament die Kommission durch ein Misstrauensvotum abwählt, sind es letztlich wieder die nationalen Regierungen, die eine neue Kommission einsetzen. Das Europaparlament hat daher nur indirekt Einfluss auf die Tätigkeit der Kommission.

Außerdem besitzt das Europäische Parlament bisher nur ein eingeschränktes Mitspracherecht bei der Festlegung des EU-Etats. Dieser ist in „obligatorische“ und „nicht-obligatorische“ Ausgaben unterteilt, wobei es sich bei Ersteren um die Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik handelt, die etwa 40% des Gesamtetats ausmachen. Während bei den nicht-obligatorischen Ausgaben das Parlament neben dem Ministerrat gleichrangige Budgetierungsrechte besitzt, sind die obligatorischen Ausgaben lediglich Sache des Rates.

Das Parlament wird nach dem Prinzip der fallenden Proportionalität gebildet – ein häufig genannter Kritikpunkt.

Ferner wird auch die Wahl des Europäischen Parlaments kritisiert, bei der jedem Mitgliedstaat ein gewisses Kontingent an Sitzen zusteht. Dabei stellen gemäß dem Prinzip der „fallenden Proportionalität“ kleine, bevölkerungsarme Ländern wie Malta anteilsmäßig wesentlich mehr Abgeordnete als bevölkerungsreiche Länder wie Deutschland. Ein Abgeordneter aus Malta vertritt etwa 76.000 Europäer, während ein deutscher Abgeordneter 826.000 EU-Bürger repräsentiert.[6] Dieser Disproportionalitätsfaktor wird als Bruch mit dem demokratischen Grundprinzip der Gleichheit angesehen.

Ein weiterer Kritikpunkt sind schließlich die intransparenten Entscheidungsstrukturen im EU-Ministerrat. Da die Verhandlungen des Rates bisher hinter verschlossenen Türen und teilweise auf informellen Treffen stattfinden, gebe es keine hinreichende öffentliche Kontrolle seiner Arbeit. Dies erleichtere etwa Aktivitäten wie das „Spiel über Bande“, da das Entscheidungsverhalten der nationalen Regierungen nicht zu erkennen sei.

Als Lösung des Demokratiedefizits wäre es aus föderalistischer Sicht daher vor allem notwendig, das Europäische Parlament zu einem vollwertigen Parlament auszubauen. Dies könnte beispielsweise im Rahmen der Errichtung eines Zwei-Kammer-Systems geschehen, in dem der Rat als Vertretung nationaler Interessen fungieren würde, das Parlament allerdings in sämtlichen Bereichen der Gesetzgebung ebenbürtig wäre – etwa nach dem Vorbild des Verhältnisses zwischen Bundestag und Bundesrat in Deutschland. Politikbereiche, die bisher noch der intergouvernementalen Zusammenarbeit unterliegen, müssten „vergemeinschaftet“, also Teil der regulären EU-Kompetenzen werden, damit auch hier das Mitentscheidungsverfahren gelten würde. Weitergehende Forderungen wären die Wahl der Europäischen Kommission durch das Parlament sowie die Wahl des Parlaments nicht nach nationalen Sitzkontingenten, sondern etwa mit europaweiten Parteilisten.

Historische Entwicklung

Die Geschichte der Europäischen Union war bisher im Wesentlichen durch eine zunehmende Verlagerung von Kompetenzen auf europäische Ebene geprägt – zugleich aber auch durch eine Stärkung der demokratischen Elemente innerhalb der EU. Dies zeigt sich insbesondere an der veränderten Rolle des Europäischen Parlaments: Dieses war zunächst lediglich eine beratende Institution, die nicht direkt gewählt wurde und die europäische Gesetzgebung im sogenannten Anhörungsverfahren lediglich verzögern konnte. Seit der Einführung der Direktwahl des Parlaments 1979 und des Mitentscheidungsverfahrens durch die EEA 1987 wurden die Kompetenzen des Parlaments in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza immer wieder erweitert: Das Mitentscheidungsverfahren wurde zum wichtigsten und meistangewendeten Gesetzgebungsverfahren; das Parlament erhielt das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen; der Vorschlag des Rates für eine neue Kommission muss nun vom Parlament abgesegnet werden.

Veränderungen durch den Vertrag von Lissabon

Auch der Vertrag von Lissabon folgt im Wesentlichen dieser Tendenz, sowohl die Kompetenzen der EU als auch die demokratischen Elemente innerhalb der EU zu stärken. Während föderalistische Kritiker daher einige ihrer Forderungen erfüllt sehen, befürchten intergouvernementalistische Kritiker eine Verfestigung der bestehenden Defizite. Diese Befürchtungen werden auch als einer der Gründe für das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags 2005 angesehen.

Intergouvernementalistische Argumente

Aus intergouvernementalistischer Sicht droht durch den Lissabon-Vertrag eine weitere Zentralisierung der EU. So sei der im Vertrag aufgeführte Katalog der EU-Kompetenzen nicht eindeutig genug; durch die „gemischten Kompetenzen“ sei eine dynamische Aneignung von Zuständigkeiten durch die EU möglich.

Das in den Vertrag aufgenommene Bekenntnis der EU zum Subsidiaritätsprinzip geht den meisten intergouvernementalistischen Kritikern dabei nicht weit genug. Zwar sollen die nationalen Parlamente nun bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip Rügen aussprechen können, diese sind jedoch nicht bindend. Ein weiterer Kritikpunkt ist die sogenannte Passerelle-Regelung, durch die es künftig möglich werden soll, im Ministerrat Einstimmigkeits- in Mehrheitsentscheidungen umzuwandeln. Die nationalen Parlamente besitzen dagegen zwar ein sechsmonatiges Widerspruchsrecht; allerdings wird befürchtet, dass sich die praktische Umsetzung dieses Rechts schwierig gestalten werde.

Auch die Forderung nach einem Kompetenzgerichtshof wurde nicht in den Lissabon-Vertrag aufgenommen; das von intergouvernementalistischen Kritikern gesehene Problem der pro-europäischen Parteilichkeit des Europäischen Gerichtshofes bliebe daher weiterhin bestehen.

Schließlich wird kritisiert, dass außer in Irland in keinem EU-Mitgliedsstaat eine Volksabstimmung zu dieser wesentlichen EU-Reform stattgefunden hat.

Föderalistische Argumente

Das Fehlen einer Volksabstimmung zum Lissabon-Vertrag ist auch ein wesentlicher Kritikpunkt der Föderalisten; allerdings wird von diesen statt einer Vielzahl nationaler Referenden meist eine gemeinsame europaweite Abstimmung gefordert, durch die der Vertrag ratifiziert werden solle.

Inhaltlich bringt der Vertrag aus föderalistischer Sicht zahlreiche Vorteile. Als entscheidend wird dabei meist die neuerliche Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments angesehen. So soll das Mitentscheidungsverfahren nun in mehr Politikbereichen angewendet werden, insbesondere in der bisher rein intergouvernemental organisierten polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Außerdem soll durch den Vertrag von Lissabon die Unterscheidung in „obligatorische“ und „nicht-obligatorische“ Ausgaben wegfallen; das Parlament hätte dadurch also volle Mitbestimmungsrechte über den gesamten EU-Etat einschließlich der Agrarausgaben.

Des Weiteren soll durch den Lissabon-Vertrag die Transparenz der Entscheidungen im Ministerrat erhöht werden: Dieser muss nun immer, wenn er legislativ tätig wird, öffentlich tagen. Durch diese Maßnahme und durch die erweiterten Kompetenzen des Parlaments werde das „Spiel über Bande“ deutlich erschwert.

Andere föderalistische Forderungen, etwa das Initiativrecht für das Europaparlament, die Wahl der Kommission durch das Parlament oder die Wahl des Parlaments nach europaweiten Listen, um die degressive Proportionalität der Sitzverteilung zu überwinden, finden sich im Vertrag von Lissabon jedoch nicht.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Johannes Pollak: Repräsentation ohne Demokratie. Springer, Wien 2007, S. 22. ISBN 978-3-2116-9915-7
  2. Näher dazu Demokratische Legitimation der Tätigkeit internationaler Organisationen, S. 11 f. mit weiteren Nachweisen.
  3. Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 12. Oktober 1993: BVerfGE 89, 155
  4. hier Übersetzung des engl. Zitats bei Bogdanor/Woodcock 1991, S.482
  5. Art. 1 und Art. 5 Vertrag über die Europäische Union
  6. Melanie Piepenschneider: Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren, in: Informationen zur politischen Bildung (Heft 279), bpb, 2005, S. 23.

Literatur


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