- Antisemitismus in der Thüringer evangelischen Kirche
-
In der Thüringer evangelischen Kirche haben sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die altkirchlichen antijudaistischen Interpretationen des Neuen Testaments und die antisemitischen Affekte und Stereotypen aus der mittelalterlichen Kirchengeschichte erhalten und zur religiösen Rechtfertigung des rassistischen Vernichtungswahns der Nationalsozialisten verdichten können.
Inhaltsverzeichnis
Zwischen 1918 und 1933: Völkischer Zeitgeist und antisemitischer Kulturkampf
Die Revolution von 1918 hatte den evangelischen Kirchen - wie überall im Deutschen Reich, so auch in den Kirchengebieten der thüringischen Großherzogtümer - einen tiefen Kulturschock versetzt. Plötzlich sahen sie sich in die Lage gekommen, dass ihnen ihr oberster summus episcopus durch Abdankung oder Verjagung abhanden gekommen war. Verschärfend kam hinzu, dass das Drängen der monarchieverdrossenen proletarischen Massen nach der Macht im Staat, großteils durchdrungen von revolutionären Hoffnungen auf eine neue sozialistische Ordnung, nichts Gutes für den Fortbestand einer Amtskirche verhieß, die sich seit der Reformationszeit an das jeweilige Landesfürstentum gebunden hatte. All diese neuen demokratischen, revolutionären Vorgänge in der Jahreswende von 1918 auf 1919 mündeten ein in die Verfassung von Weimar, die von Hugo Preuß, einem linksliberalen Demokraten jüdischen Glaubens entworfen worden war. Neben vielen weiteren Phobien gehörte diese Personalie in den folgenden Jahren zu den Standards der konservativen, monarchistischen wie der kirchlichen Rechten, mit denen sie die Weimarer Republik als eine „Judenrepublik“ schmähten.
Auch die Thüringer evangelische Kirche, die sich nach mühevollen Vorarbeiten endlich 1920 aus den Teilkirchen der untergegangenen kleinen Fürstentümer zusammengeschlossen hatte, konnte sich mit der Weimarer Verfassung nie wirklich anfreunden, hatte diese doch prinzipiell die Ära des Staatskirchentums für beendet erklärt. Der erhebliche Verlust an staatlicher Machtbeteiligung und das nunmehr ungestrafte Walten atheistischer und kirchenferner bis kirchenfeindlicher Politiker in Parlamenten und öffentlichen Körperschaften erzeugten in den maßgeblichen Kirchenkreisen Ängste und Blockaden der Feindseligkeit gegenüber dieser von ihnen so empfundenen „gottlosen“, „jüdischen“ oder „marxistisch verseuchten“ Republik. Das in der evangelischen Kirche damals maßgebliche Personal - die leitenden Geistlichen, die Pfarrer, Kirchenjuristen und Oberkirchenräte - war verwurzelt in autoritärem, monarchistischem Denken, geprägt von nationalistischen bis völkischen Überzeugungen und erfüllt von antisozialistischen und antijüdischen Ressentiments.
Markantestes Beispiel für die Bündelung dieser oben beschriebenen Haltungen ist die kirchliche und politische Tätigkeit des Eisenacher Rittergutsbesitzers Friedrich von Eichel-Streiber, der seit 1920 Mitglied des Thüringer Landeskirchentags und von 1926 bis 1933 zweimal hintereinander dessen Präsident war. Auch wenn er nach der NS-Machtübertragung in eine partielle Distanz zu den Staatslenkern geriet und ab 1935 sogar Mitglied in der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft (LBG) in Thüringen wurde, blieb doch sein Anteil an der verhängnisvollen Rechtsentwicklung bis hin zur Faschisierung der Kirche unübersehbar. Das verdeutlichen seine politischen Prämissen als Spitzenkandidat der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) bei den Wahlen zum Thüringer Landtag. In einer Wahlannonce sah er Thüringen und die Thüringer Kirche akut gefährdet durch eine Mehrheit der Sozialdemokratie und eine angebliche "Vorherrschaft" der Juden.[1]
Auf einer größeren Missionstagung, die im Frühjahr 1924 in Hildburghausen stattfand, referierte der Direktor der Leipziger Mission, Pastor von Harling, über die "Judenfrage".[2] Auch die "völkische Frage" wurde zum Thema in den Ausbildungsveranstaltungen des sogenannten "Volksdienstes", einer kirchlichen Schulungsabteilung zur politischen Orientierung der Kirchenmitglieder. In Neudietendorf behandelte ein Vortrag im Januar 1925 "Kirche und völkische Frage".[3] Als der Evangelisch-lutherische Missionsverein Gotha im Jahre 1926 sein Missionsfest feierte, ließ er als Referenten den Missionar Pfarrer Reichardt auftreten, der von der Existenz höherer und niederer Rassen überzeugt war. Das Fazit seines Vortrages gab das berichtende Kirchenblatt bereits in seiner Überschrift wieder:[4]
„Primitive Rassen Südindiens als Bild vorgeschichtlichen Menschenlebens - das Christentum ihre Rettung.“
Für die Kirchenwahlen im Jahre 1926 zum 2. Landeskirchentag - dem Thüringer "Kirchen-Parlament" - traten unter den fünf Bewerbergruppen bereits die Vertreter der sogenannten "Deutsch-Kirche" an, die einen dezidierten Rassen-Antisemitismus vertraten. Soweit sie in den Wahlkreisen eigene Kandidaten vorschlugen - und das war in allen Kreisen außer Gotha der Fall - , betrug die Zahl der Kandidaten zwischen fünf und acht Prozent von der Gesamtzahl der Vorgeschlagenen. Auffällig ist allerdings, dass die kirchlichen Antisemiten der Deutsch-Kirche auf den Landeslisten immerhin bereits 30% der Kandidaten, und damit die größte Gruppierung überhaupt ausmachten.[5]
Der in der Thüringer Kirche für Statistik-Fragen zuständige Oberpfarrer Johannes Dobenecker aus Sonneberg, der das kirchliche Leben aufgrund statistischer Erhebungen auszuwerten hatte, erklärte in seinem 1928 verfassten Bericht u.a.:[6]
„Der Austausch <gemeint ist die wechselseitige Konversion; d.Vf.> mit dem Judentum ist in Thüringen von ganz untergeordneter Bedeutung, von den Juden kamen zwei zu uns. Die Übertritte gehen überhaupt im allgemeinen zurück: noch immer hat's die Juden dorthin gezogen, wo maßgebende Macht liegt! Wenn Christen Juden werden - in Thüringen 1926 keine, auch diese Übertritte gehen zurück -, dann dürften hierbei wohl am allerwenigsten religiöse Motive mitsprechen: es sind Einheiraten, also rein Geldfragen!“
Auch Dobenecker gehörte nicht etwa zur Gruppe der Deutschen Christen, sondern wie Landeskirchentags-Präsident von Eichel-Streiber später zur Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft und war sogar zeitweise amtsenthoben. Ein Disziplinarverfahren gegen ihn wurde allerdings wieder fallen gelassen.[7]
Im Jahre 1929 trat der mehrheitlich konservativ-völkisch gesinnte Landeskirchentag mit einer Entschließung "Gegen die Entsittlichung" an die Öffentlichkeit. Darin wurde nicht nur gegen die zunehmende Freizügigkeit in Kunst und Kultur protestiert, die viele protestantische Theologen allein schon wegen ihrer Leib- und Lustfeindlichkeit dagegen aufbrachte. Im Kampf gegen die "Seuche der Unsittlichkeit" mobilisierte das Kirchenparlament die Kirchenmitglieder so:[8]
„Der Landeskirchentag ruft alle Verantwortungsbewussten in unserem Thüringer Volke auf, der Entartung und Zersetzung unseres Volkes entgegenzuwirken. <...> durch Verbreitung guten deutschen Schrifttums und überhaupt durch Pflege des wertvollen deutschen Kulturgutes und veredelnde Fortbildung des deutschen Volkstums.“
Obgleich in diesem Text keine "undeutschen" Autoren und "artfremden" Künstler mit Namen genannt wurden, wusste der Kenner des zeitgenössischen Diskurses sofort die passenden Namen zuzuordnen, die vom völkischen Zeitgeist als "jüdisch-zersetzend" apostrophiert wurden: Schriftsteller wie Carl Zuckmayer und Kurt Tucholsky, Künstler wie Kandinsky und Klee, deren und vieler anderer Werke später mit Ausstellungen über die "Entartete Kunst" dem Volke zum Gruseln präsentiert wurden. Die Kirche hat daran einen unübersehbaren Anteil.
Der Missionsdirektor Pastor von Harling wurde 1930 mehrfach aktiv. Für die Theologisch-kirchliche Arbeitsgemeinschaft hielt er im evangelischen Gemeindesaal Rudolstadt im Januar 1930 einen Vortrag über "Die neuen Aufgaben der evangelischen Kirche in der Arbeit für das Volk Israel".[9] Im September des gleichen Jahres beteiligte er sich für das Lutherische Einigungswerk in Augsburg an einer "Spezialkonferenz der Judenmission".[10]
Schon längere Zeit hatte der "Tannenbergbund" des Antisemiten Erich Ludendorff seine Angriffe gegen die Kirche verbunden mit dem Vorwurf, sie segelten im Kielwasser des Judentums, aus dem sie schließlich hervorgegangen wären. Daraufhin beeilte sich der Volksdienst der Thüringer Kirche, seine Distanz zum Judentum zu versichern, indem er 1931 mit einem Flugblatt der Apologetischen Zentrale Spandau antwortete. Schon der Titel war ein defensiver Rechtfertigungsversuch gegenüber dem Antisemitismus von Rechtsaußen:[11]
„Ist Christentum wirklich Judenmache?“
Der Pfarrer Otto Henneberger verbreitete sich in Pfarrerkreisen in den Jahren vor der Machtübertragung an das Kabinett Hitler auffallend häufig über solche Themen wie "Völkische Religiosität oder Evangelium" oder "Deutschchristentum und Deutschkirche".[12]
Als schließlich der völkisch-nationalistische Zeitgeist die politische Macht erobert hatte, hörte sich die Stellung der Thüringer Kirchenleitung so an:[13]
„So begrüßt es die Kirche aufs freudigste, dass jetzt die Staatsgewalt Maßnahmen trifft zur Reinigung und Erneuerung unseres Volkslebens und zur Erhaltung der Ehrfurcht vor dem, was unserm Volk heilig bleiben muss.“
Zwischen 1933 und 1945: Judenfeindliche Ambitionen, Aktionen und Kirchengesetze
Im März 1933 begrüßte die Thüringer evangelische Kirche in einem "Wort zur Zeitlage" die Machtübertragung an Hitler.[14] Im April 1933 hob der Landeskirchenrat das noch in der Zeit der Weimarer Republik(!) erlassene Verbot der politischen Betätigung der Pfarrer auf, was einer Ermunterung gleichkam, sich im "nationalen Staat" Adolf Hitlers in seinem Sinn nun wieder politisch zu engagieren, denn alle anderen Parteien waren verboten.[15]
Im Mai 1933 folgte die Verabschiedung mehrerer Gesetze zur Gleichschaltung der Kirche mit dem NS-Regime durch Abgeordnete jenes Landeskirchentags, der immerhin noch aus den freien Kirchenwahlen vom Januar 1933 hervorgegangen war.
So entmachtete sich das Kirchenparlament selbst, indem es in Parallele zur Reichsentwicklung dem Landeskirchenrat in einem "Ermächtigungsgesetz" das Recht zum Erlass von Kirchengesetzen einräumte.[16] In einem weiteren Gesetz wurde jegliche marxistische Betätigung in der Kirche verboten.[17]
Seit Mai 1933 waren die Thüringer evangelischen Pfarrer und Kirchenbeamten eingebunden in das System der Ausgrenzung von Deutschen jüdischer Herkunft, indem sie auf Verlangen sogenannte "Nachweise über arische Abstammung" auszustellen hatten. Damit beteiligten sie sich im negativen Ausschlussverfahren an der Entscheidung über den sozialen Aufstieg oder Abstieg im Berufsleben, denn mit dem Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und paralleler Bestimmungen wurden Menschen jüdischer Herkunft von bestimmten Berufen ausgeschlossen.[18] Bald wurden die Pfarrer auch angehalten, die "Anlegung von Ahnen- und Sippschaftstafeln zu fördern", um die Bestrebungen nach "Rassenhygiene" zu unterstützen.[19]
Nunmehr folgte das erste rassistisch-judenfeindliche Gesetz:
- Die Thüringer Kirche versagte der Ehe von Christen mit Juden ihren Segen
Am 5. Mai 1933 wurde ein Gesetz zur Änderung der Kirchenordnung verabschiedet, wonach in die Kirchenordnung im Paragraf 6 eingefügt wurde, dass eine Verweigerung der kirchlichen Trauung möglich wurde...[20]
„...wenn infolge zu großer Verschiedenheit der Rasse der Eheschließenden die Voraussetzungen für eine sittlich hochstehende eheliche Gemeinschaft fehlen...“
Damit wurde der tatsächlichen oder behaupteten völkischen Zugehörigkeit eines Kirchenmitglieds der Vorrang vor der Geltung biblisch-ethischer Maßstäbe eingeräumt. Das war eine Verletzung der kirchlichen Bekenntnisschriften, gegen die sich in mehreren Landeskirchen ein sogenannter "Pfarrernotbund" bildete, der auch in der Thüringer Kirche seine Anhänger fand. Die Einführung des "Arierparagraphen" in die Kirche war der Anlass zur Entstehung der Bekennenden Kirche, die nunmehr gegen die Geltung judenfeindlicher Bestimmungen in der Kirche stritt. Sie hatte in diesem Kampf zwar keinen Erfolg, aber bewirkte doch im Gefolge der nun einsetzenden jahrelangen Kämpfe und Auseinandersetzungen, dass die Kirchen - auch die voll gleichgeschalteten wie die Thüringer - zu einem Unsicherheitsfaktor für das faschistische Regime wurden.
- Die Thüringer Kirche versagte "nicht-arischen" Theologen oder mit "nicht-arischen" Frauen verheirateten Theologen die Ausübung des Pfarramtes
Nachdem die von Hitler favorisierte und von seinem Kirchenminister angeordnete neuerliche Kirchenwahl vom Juli 1933 einen fast ausschließlich DC-besetzten Landeskirchentag hervorgebracht hatte, wurde am 12. September 1933 mit dem "Gesetz über die Stellung der kirchlichen Amtsträger zur Nation" der staatliche "Arierparagraph" für die Kirche übernommen.[21] Dieses Gesetz bestimmte, dass diejenigen nicht mehr Pfarrer der Thüringer evangelischen Kirche werden durften, die entweder selber oder deren Ehepartner "nicht arischer Abstammung" waren. Jüdische Pfarrer konnten in den Ruhestand versetzt oder sogar entlassen werden. So erging es z.B. dem Pfarrer Werner Sylten. Eine Ausnahme bestimmte lediglich, dass Weltkriegsteilnehmer oder durch Kriegseinwirkung Betroffene davon noch ausgenommen waren.
Als der von den Deutschen Christen inzwischen zum Landesbischof erhobene Landesoberpfarrer Wilhelm Reichardt am Ende seiner Amtszeit seine Bischofszeit Revue passieren ließ, hieß es in seinem deswegen erstatteten Tätigkeitsbericht unter Punkt 40 über die soziale Arbeit u.a.:[22]
„Am 25.9.<1933> hielt der Präsident des Thür. Landesamtes für Rassewesen Dr.med. Astel aus Weimar vor dem LKR und von ihm gebetenen Gästen einen aufklärenden Vortrag über die Tätigkeit des Thür. Landesamts für Rassewesen. <Als Fazit fügte Reichardt an:> ...und so war die Thür. Kirche wohl mit eine der ersten von den ev. Landeskirchen gewesen, die auch die Fragen der Rassenhygiene in die Amtsarbeit der Pfarrer hineinbezog... “
Über den Gemeindedienst berichtete er:[23]
„<Es> wechselte die Arbeit <von Kirchenrat Leutheuser> in Gemeinden und an den Formationen der SA und HJ ab... Die Teilnahme an den von den DC gehaltenen Schulungskursen für deutsches Christentum wurden den Teilnehmern durch Gewährung auf Beihilfe ermöglicht... In die Fragen der Bevölkerungspolitik, der Rassenkunde und Erbgesundheitslehre wurden die Teilnehmer eingeführt durch Vorträge des Präsidenten des Amtes für Rassenkunde und Gesundheitslehre, Dr.med. Astel, Weimar.“
Als im September 1935 die Nürnberger Rassengesetze erlassen waren, die vor allem die Ehe zwischen Juden und "Ariern" unter Strafe stellten, sah sich auch die Thüringer Kirchenleitung genötigt, bei den Pfarrern auf die Einhaltung ihrer rassistischen Kirchenordnung zu drängen. In einer Anordnung zum Begriff der "Mischehe" stellte sie klar, dass es sich dabei nicht etwa um eine konfessionsverschiedene Ehe handele, sondern...[24]
„...dass darunter nur eine zu einer Rassenmischung führende Ehe zu verstehen ist, <...> die zwischen einem Arier und einer Nichtarierin oder umgekehrt geschlossen wird.“
Kirchenzeitungen gaben sich für eine breite Unterstützungskampagne zur Rassengesetzgebung her. So druckten die "Heimatklänge" - ein Vorläufer von "Glaube und Heimat" - in ihrer Dezemberausgabe 1935 auf einer ganzen Zeitungsseite einschlägige Worte Adolf Stöckers zum Antisemitismus ab.[25] Man brauchte also keinen außerkirchlichen Judenhasser zu bemühen, sondern konnte auf die ureigenen kirchlichen Äußerungen eines Antisemiten zurückgreifen, der Jahrzehnte zuvor als Oberhofprediger mit seinen antijüdischen Thesen im Kirchenvolk Anklang gefunden hatte.
- Die Thüringer Kirche versagte Juden und Judenabkömmlingen die Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft
Der Pogrom vom 9. November 1938 bot einen weiteren Anlass zur Aufladung kirchlich-theologischer Positionen mit antisemitischen Inhalten. In einer Entschließung vom 17. November 1938 bekräftigten die Thüringer Oberpfarrer, auch künftig den Gegensatz zwischen dem christlichen und dem "jüdischen Geist" herauszuarbeiten:[26]
„Christus hat den jüdischen Geist in jeder Form auf das schärfste bekämpft.“
Wenige Tage später gab der deutsch-christliche Landesbischof Martin Sasse ein sechzehnseitiges Pamphlet heraus, in dem er aus den judenfeindlichen Kampfschriften Luthers zitierte und diese mit aktuellen Kommentaren versah. Schon der Titel der Schrift ließ nichts an Eindeutigkeit vermissen: "Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!", die in hoher Auflage gedruckt und über alle kirchlichen Vertriebswege unter das Volk gebracht wurde.[27]
Nachdem die Vernichtungsphase des Judentums eingeleitet war, sah sich die Thüringer evangelische Kirche wieder vor die Notwendigkeit gestellt, sich durch einen weiteren Gesetzgebungsschritt dem staatlichen Kampf gegen das Judentum anzuschließen, indem sie nicht nur jüdische Pfarrer, sondern nunmehr auch christliche Gemeindemitglieder der rassistischen Verfolgung preisgab, die laut Globke-Definition als Juden oder "Judenstämmlinge" galten. Das "Gesetz über die kirchliche Stellung evangelischer Juden" vom 10. Februar 1939 bestimmte, dass Juden nicht Kirchenmitglieder werden könnten, dass Amtshandlungen für sie verboten wurden und dass Kirchensteuern von ihnen nicht mehr zu erheben waren.[28]
Im Mai 1939 veröffentlichte der Landeskirchenrat eine Stellungnahme zu Fragen des Religionsunterrichts, der zu diesem Zeitpunkt von Partei- und Regierungsstellen bereits mit Misstrauen bedacht und in zahlreichen Fällen behindert wurde. Um der geschwundenen Reputation dieses von Staatsstellen beargwöhnten Unterrichts aufzuhelfen, legte die Kirchenleitung Grundsätze fest, die eine Einpassung der Lehrinhalte in die NS-Ideologie sicherstellten. Danach sollte dieser Religionsunterricht...[29]
„... die Erkenntnis vermittel<n>, dass zwischen Christentum und Judentum ein unüberbrückbarer religiöser Gegensatz besteht, und demgemäß die volksmäßige Säuberung des deutschen Wesens von jeglichem jüdischen Einfluss eine entsprechende Säuberung der christlichen Verkündigung von allen jüdischen Formen und Fesseln und Fälschungen mit sich bringen muss...“
Im gleichen Jahr wurde von mehreren DC-regierten Landeskirchen, darunter federführend der Thüringischen, auf der Wartburg bei Eisenach das "Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben" mit einem Festakt ins Leben gerufen.
Als sich Deutschland bereits im Krieg befand und die Zulieferung von Buntmetallen für die Rüstungsproduktion schwierig wurde, ist die Deutsche Evangelische Kirche von Rüstungsminister Göring gedrängt worden, ihre Glockenbestände zu reduzieren und für den "Endsieg" bereitzustellen. Auch die Thüringer evangelische Kirche, die sich solchen Forderungen am allerwenigsten versagen wollte, fand für die erneute Auslieferung solcher wertvollen liturgischen Stücke - wie bereits im Ersten Weltkrieg erfolgt, aber nicht immer umgeschmolzen - eine passende Begründung:[30]
„... diesmal werden unsere Glocken nicht unverwendet verschwinden in Lagerstätten für jüdische Schiebergewinne.“
- Die Thüringer Kirche versagte ihren Pfarrern, im Falle einer Wiederverheiratung eine Frau zu heiraten, die bereits einmal mit einem "Nicht-Arier" verheiratet war
Mit Überzeugung beteiligten sich die Verantwortlichen der Amtskirche an der Aufgabe, die Gemeinde Jesu Christi auch bis in die letzte Verästelung "judenfrei" zu machen. Das führte zu solch kasuistischen Winkelzügen wie dem, dass sich die Thüringer Kirchenleitung genötigt sah, im November 1943 ihren Pfarrern und Kirchenbeamten per Runderlass einzuschärfen, dass die Wiederverheiratung mit einer "arischen" Person, die vorher mit einer "nicht-arischen" Person verheiratet war, als unzulässig zu gelten hätte.[31]
- Die Thüringer Kirche versagte Juden und ihren Abkömmlingen das Verbleiben in der kirchlichen Gemeinschaft
Den letzten Schritt zur Einpassung in die antisemitische Vernichtungsstrategie des NS-Staates ging die Kirche, indem sie am 28. Dezember 1941 ein "Kirchengesetz über den Ausschluss rassejüdischer Christen aus der Kirche" erließ:[32]
„Juden... sind samt ihren Abkömmlingen im Bereich der Thüringer evangelischen Kirche von jeder kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen.“
Ein letztes Mal schärfte die Kirchenleitung im Juli 1944 ihren Pfarrern und Gemeinden die Geltung der Thüringer Kirchenordnung ein, die die Zustimmung ihrer Gemeindemitglieder zu einem "positiven Christentum" zur Grundbedingung für den Anspruch auf kirchliche Versorgung erhob - unabhängig von der Kirchenmitgliedschaft. Ausnahmen bildeten der Paragraph 6 über Trauversagung bei Rasseverschiedenheit sowie der Paragraph 44, in dem es hieß:[33]
„Volljuden bleiben von der kirchlichen Versorgung... in jedem Fall ausgeschlossen.“
Einzelnachweise
- ↑ Apoldaer Tageblatt 19. Juni 1920
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1924 B Nr.9, S.157
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1925 B Nr.1, S.2
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1925 B Nr.9, S.91
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1926 B Nr.21a, S.270ff.
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1928 B Nr.18, S.177
- ↑ Erich Stegmann: Der Kirchenkampf in der Thüringer Evangelischen Kirche 1933–1945; Berlin 1984, S.90
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1930 B Nr.22, S.22f.
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1930 B Nr.2, S.12
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1930 B Nr.16, S.122
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1931 B Nr.7, S.97
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 B Nr.4, S.46 und 51
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 B Nr.6, S.122
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 B Nr.6, S.121f.
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 A Nr.6, S.15
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 A Nr.7, S.17
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 A Nr.7, S.17f.
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 B Nr.11, S.164 bzw. 1934 B 4, S. 23
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1934 B Nr.6, S.38
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 A Nr. 7, S. 18
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1933 A vom 12. September 1933
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1934 B Nr.6, S.83
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1934 B Nr.6, S.97
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1935 B Nr.17, S.109
- ↑ Heimatklänge aus dem Weimarischen Kreise, 12/1935
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1938 B Nr.22a, S.165
- ↑ Heimatklänge aus dem Weimarischen Kreise, 1/1939
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1939 A Nr.2, S.3
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1939 B Nr.9a, S.69f.
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1941 B Nr.24, S.149
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1943 B Nr.23, S.90
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1942 A Nr.1, S.1
- ↑ Thüringer Kirchenblatt 1944 A Nr.4, S.45ff.
Literatur
- Erich Stegmann: Der Kirchenkampf in der Thüringer evangelischen Kirche 1933-1945. Ein Kapitel Thüringer Kirchengeschichte, Berlin 1984
- Thomas A.Seidel (Hg.): Thüringer Gratwanderungen. Beiträge zur 75jährigen Geschichte der evangelischen Landeskirche Thüringen, Leipzig 1998, ISBN 3-374-01699-5
- Evangelisches Pfarrhausarchiv Eisenach (Hg.): Wider das Vergessen. Schicksale judenchristlicher Pfarrer in der Zeit von 1933-1945. Beiheft zur Sonderausstellung im Lutherhaus Eisenach, April 1988 bis April 1989
- Ricklef Münnich: Die Stadtkirchgemeinde Weimar und die Weimarer Juden im Nationalsozialismus, in: Erika Müller/Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar. Ihre Verfolgung und Vernichtung, Weimar 1998, S.217ff., ISBN 3-910053-31-9
Kategorien:- Kirchengeschichte
- Antisemitismus
- Thüringer Geschichte
- Antijudaismus
- Christentum in Deutschland (NS-Zeit)
Wikimedia Foundation.