Deutsche Kriegsversehrte im 20. Jahrhundert

Deutsche Kriegsversehrte im 20. Jahrhundert
Versehrte des 2. Weltkrieges

Kriegsversehrte werden Menschen genannt, deren Versehrtheit eine Folge kriegerischer Einwirkungen ist. Hierzu zählen auch die gesundheitlichen Folgeerscheinungen einer Kriegsgefangenschaft. Dieser Artikel thematisiert die Situation deutscher Kriegsversehrter im 20. Jahrhundert.

Amputierte, Gelähmte, Hirnverletzte und diejenigen werden unter dem Begriff Kriegsversehrte zusammengefasst, deren Fähigkeit zu hören oder sehen im Gefolge kriegerischer Auseinandersetzungen dauerhaft beeinträchtigt wurde.

Zu den Versehrten des Ersten Weltkrieges gehörten der deutsche Sozialdemokrat Kurt Schumacher und der Hamburger Schulsenator Heinrich Landahl. Der spätere Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg wurde im Zweiten Weltkrieg, 1943, zum Kriegsversehrten.

Inhaltsverzeichnis

Anzahl der Kriegsversehrten

Das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert zweier Weltkriege, ist auch das Jahrhundert der Kriegsversehrten. Gemessen an vorangegangenen Kriegen wurde im Ersten Weltkrieg durch den vermehrten Einsatz von Explosivgeschossen eine größere Anzahl von Soldaten verwundet – seit 1915 trugen Soldaten zum Schutz einen Stahlhelm. Zugleich überlebten mehr Verwundete durch die nunmehr mögliche aseptische Wundbehandlung.

Als Folge des medizinischen Fortschritts erhöhte sich die Anzahl körperlich behinderter Menschen, da Schussbrüche teilweise Gliedmaßenverkürzungen beziehungsweise -versteifungen nach sich zogen. In Deutschland lebten nach dem Ende des Ersten eine halbe Million und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eineinhalb Millionen Menschen, die staatlich anerkannte Kriegsversehrte waren. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 25 % musste vorliegen, um als kriegsversehrt zu gelten.

Gesetzliche Regelungen

Kriegsversehrter Klempner

Die Kriegsbeschädigtenfürsorge wurde in Deutschland ab 1920 mithilfe des Reichsversorgungsgesetzes geregelt. Grundgedanke des Reichsversorgungsgesetzes war es, den Versehrten eine Geldentschädigung durch Renten zu gewähren und ihnen die Rückkehr in das Arbeitsleben zu ermöglichen. Insofern stand der Anspruch der Beschädigten auf Heilbehandlung im Vordergrund des Gesetzes. Den kriegsversehrten Arbeitnehmer, nicht Almosenempfänger, hatte zuvor insbesondere der Berliner Orthopäde Konrad Biesalski propagiert.

Die in der Weimarer Republik gelegten Grundlinien der Kriegsopferversorgung wirkten nach 1945 fort. An die Stelle des Reichsversorgungsgesetzes trat in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1950 das Bundesversorgungsgesetz (siehe auch: Kriegsopferfürsorge).

Zur Förderung der Integration Kriegsversehrter in das Erwerbsleben wurde 1953 in der Bundesrepublik das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter erlassen. Das Gesetz orientierte sich am Schwerbeschädigtengesetz der Weimarer Republik, das 1920 inkraft getreten war, und legte wie dieses Pflichtquoten für die Beschäftigung Schwerbeschädigter fest. Arbeitgeber, die wenigstens sieben Arbeitsplätze stellten, hatten einen Schwerbeschädigten zu beschäftigen. Öffentliche Verwaltungen waren verpflichtet, 10% der Arbeitsplätze mit Schwerbeschädigten zu besetzen. Für Unternehmen galt eine Quote von 8%.

Um Kriegsversehrten Mobilität und die Teilhabe am öffentlichen Leben zu sichern, wurden so genannte Versehrtheitsausgleichsrechte gewährt. Freifahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln und vergünstigte Eintrittspreise für Museen, Theater etc. konnten diejenigen in Anspruch nehmen, welche sich einen Schwerbeschädigtenausweis (2011: Schwerbehindertenausweis) ausstellen ließen (siehe auch: Unentgeltliche Beförderung und darüber hinaus zur allgemeinen Situation 2011: Soldatenversorgungsgesetz).

Medizinische Versorgung

Als Krankenkassenmitglieder hatten Kriegsversehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Anspruch auf Heilbehandlung, die in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis standen.

Das Bundesversorgungsgesetz sicherte diesen Anspruch auch nichtversicherten Kriegsversehrten zu. Die Gemeinschaft der Krankenkassenmitglieder garantierte nach 1950 die medizinische Versorgung nichtversicherter Kriegsversehrter: Nichtversicherte wurden für die Behandlung ihres Kriegsbeschädigungsleidens einer Krankenkasse zugeteilt. Die medizinische Versorgung dieser so genannten Zugeteilten erfolgte auf der Grundlage des vom Bundesarbeitsministerium ausgegebenen Bundesbehandlungsscheines für Zugeteilte nach einem Bundestarif für Kriegsbeschädigte, dem Bundesversorgungstarif. Die Bundesbehandlungsscheine hatten die behandelnden Ärzte nach Ablauf eines Behandlungsvierteljahres den zuständigen Abrechnungsstellen der Kassenärztlichen Vereinigung zuzustellen. Diese rechneten im Weiteren mit den Kassen ab.

Kriegsversehrte, deren Erwerbsminderungsgrad mindestens 50% betrug und Zugeteilte befreite das Bundesversorgungsgesetz darüber hinaus von der so genannten Verordnungsblattgebühr (2011: Selbstbeteiligung, Zuzahlungen, Medikamente und Hilfsmittel).

Die medizinische Behandlung Kriegsversehrter erfolgte in Deutschland auch in speziell hierfür eingerichteten Krankenhäusern, z. B. in der BDH-Klinik Elzach, der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf und im Krankenhaus Hohe Warte Bayreuth.

Die Versorgung mit Prothesen war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunächst unzureichend. Als Gründe hierfür sind fehlende Materialien und eine mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Handwerk und Industrie zu nennen. Auch so genannte Selbstfahrer standen in nur begrenzter Anzahl zur Verfügung.

Das Gehen mit Kunstbeinen lernten Beinamputierte, indem sie an Gehschulkursen teilnahmen. Diese wurden beispielsweise von der Gehschule des Versorgungskrankenhauses Bad Pyrmont und der Gehschule Malente angeboten. 1952 eröffnete die Hamburger Arbeitsbehörde in Wentorf eine Gehschule für Beinamputierte. Die dort stattfindenden vierwöchigen Kurse wurden kostenfrei angeboten. Das Alter der Teilnehmer des ersten Gehschulkurses, zu denen auch zwei Frauen gehörten, lag zwischen 13 und 67 Jahren.

Unterstützung durch einen Blindenführhund konnten kriegsbeschädigte Blinde gemäß dem Bundesversorgungsgesetz erhalten. Für den Unterhalt des Hundes wurde ein monatlicher Zuschuss von 25.- DM gewährt.

Soziale Situation

Kriegsversehrter Straßenmusikant 1949

Im Zeitraum 1945 bis 1950 erfolgte die Versorgung Kriegsversehrter in der Britischen Besatzungszone Deutschlands / Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des 1938 in Kraft getretenen Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetzes, der Sozialversicherungsrichtlinien Nr. 11 (1946), der Sozialversicherungs-Direktive Nr. 27 (1947) und des Bundesversorgungsgesetzes sowie seitens der Fürsorge; wobei zwischen fürsorge- und versorgungsberechtigten Versehrten zu unterscheiden ist.

Für das Jahr 1950 kann die soziale Situation Kriegsversehrter am Beispiel der zur Britischen Besatzungszone gehörenden Stadt Hamburg veranschaulicht werden: Die Höhe des mittleren monatlichen Einkommens lag für einen vier-Personen-Arbeitnehmerhaushalt in der Bundesrepublik Deutschland im betreffenden Jahr bei 343.- DM. Die durchschnittliche monatliche Unterstützung je Kriegsversehrtem seitens der Fürsorge betrug 1950 in Hamburg 34.- DM, mithin lediglich 40% dessen, was den einzelnen Mitgliedern eines westdeutschen Arbeitnehmerhaushaltes zur Verfügung stand. Inwieweit die Lücke durch Leistungen geschlossen werden konnte, die Kriegsversehrten auf Grundlage der Sozialversicherungs-Direktive Nr. 27 / des Bundesversorgungsgesetzes zustanden, ist nicht zu beantworten. Zu sagen ist lediglich, dass Kriegsversehrte Ende der vierziger Jahre in der Britischen Besatzungszone monatlich zwischen 10.- und 100.- DM Rente erhielten.

Durch die einsetzende Hochkonjunktur in der Bundesrepublik Deutschland und das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter veränderte sich die Lage Kriegsversehrter Mitte der fünfziger Jahre positiv. Die Anzahl der mit Versehrten abgeschlossenen Beschäftigungsverhältnisse erhöhte sich deutlich. 1953 waren circa 48.000 Schwerbeschädigte arbeitslos. Bis zum Ende des Jahres 1956 verringerte sich die Arbeitslosigkeit unter den Schwerbeschädigten um nahezu die Hälfte. Kriegsversehrte Blinde arbeiteten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges u. a. als Masseure und Telefonisten.

Zur beruflichen (Wieder-)Eingliederung Kriegsversehrter existierten in Deutschland verschiedene Einrichtungen; zu nennen sind u. a. das Berufsförderungswerk Bad Pyrmont, das Berufsförderungswerk Birkenfeld (Elisabeth-Stiftung) und das Berufsförderungswerk Weser-Ems sowie die Hamburger Werkstatt für Erwerbsbeschränkte (HAWEE).

Auch verfügten die Arbeitsämter nach 1945 über technische Beratungsstellen, die dazu beitrugen, Arbeitsplätze behindertengerecht zu gestalten, um die Integration Kriegsversehrter zu fördern.

In den Betrieben wurden zudem Vertrauensmänner eingesetzt, welche mit über die Einstellung Versehrter entschieden und die die besonderen Belange Kriegsversehrter zu vertreten hatten (2011: Schwerbehindertenvertretung).

Im Rahmen von Großdemonstrationen machten Kriegsversehrte in der Bundesrepublik Deutschland öffentlich auf ihre soziale Lage aufmerksam; u. a. 1950 in Düsseldorf.

Wohnraum für Kriegsversehrte hielt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Hamburg die Sozialverwaltung bereit. Nissenhüttenlager und Kasernen dienten als Unterbringungsmöglichkeiten. Darüber hinaus wurden nach beiden Kriegen in Deutschland gesonderte Siedlungen für Kriegsversehrte errichtet.

Künstler wie die Maler Otto Dix und Heinrich Zille oder der Schriftsteller Ernst Toller (vgl. die Tragödie Hinkemann) thematisierten in ihren Werken das Schicksal Versehrter des Ersten Weltkrieges.

Organisationen

Um ihre Lebenssituation zu verbessern, organisierten sich Kriegsversehrte: Der Reichsbund der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen (1917, 2010: Sozialverband Deutschland), der Bund der Kriegsblinden Deutschlands (1916) und der Bund hirnverletzter Kriegs- und Arbeitsopfer (1917) wurden bereits während des Ersten Weltkrieges gegründet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kamen in Hamburg die Union der Schwerbeschädigten beider Weltkriege und überregional der Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (1948/50, 2011: Sozialverband VdK Deutschland) als Interessenvertretungen hinzu.[1]

Siehe auch

Literatur

  • Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V. (Hrsg.): 75 Jahre Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V., 1916-1991. Bonn 1991, ISBN 3937179933
  • Deborah Cohen: The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914-1939. Berkeley / Los Angeles / London 2001, ISBN 0520220080
  • Rainer Hudemann: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik. Mainz 1988, ISBN 377581177X
  • Uta Krukowska: Erwerbsminderungsrente und Erwerbstätigkeit. Aspekte der Kriegsversehrtenversorgung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In: Fachprosaforschung - Grenzüberschreitungen. Baden-Baden 2009, S. 425-434, ISBN 9783868880052
  • Uta Krukowska: Kriegsversehrte. Allgemeine Lebensbedingungen und medizinische Versorgung deutscher Versehrter nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Britischen Besatzungszone Deutschlands – dargestellt am Beispiel der Hansestadt Hamburg. Hamburg 2006, ISBN 3833447257
  • Helmut Rühland: Entwicklung, heutige Gestaltung und Problematik der Kriegsopferversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Köln 1957
  • Klaus-Dieter Thomann: Das behinderte Kind. "Krüppelfürsorge" und Orthopädie in Deutschland 1886–1920. Stuttgart / Jena / New York 1995, ISBN 3437116991

Einzelnachweise

  1. Neuere Deutsche Geschichte. (Die Website bietet Hintergrundinformationen zum Artikel, http://www.gratis-webserver.de/neuere-deutsche-geschichte/index.html).

Weblinks


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