- Gift der Tollkirsche
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Strukturformel Allgemeines Name Atropin; (±)-Hyoscyamin Andere Namen - (±)-Tropintropat
- (RS)-Tropintropat
- rac-Tropintropat
- (±)-β-Phenyl-γ-hydroxypropionsäuretropylester
- (RS)-β-Phenyl-γ-hydroxypropionsäuretropylester
Summenformel C17H23NO3 CAS-Nummer 51-55-8 PubChem 174174 ATC-Code DrugBank APRD00807 Kurzbeschreibung farblose Prismen Arzneistoffangaben Wirkstoffklasse Fertigpräparate - Bellafit® (CH)
- Atropin EDO® (D)
- Dysurgal® (D)
- Minims Atropin® (A)
- div. Generika (D)
Verschreibungspflichtig: Ja Eigenschaften Molare Masse 289,38 g·mol−1 Aggregatzustand fest
Schmelzpunkt Löslichkeit gut löslich in Wasser (2,2 g·l−1 bei 25 °C) [1]
Sicherheitshinweise Gefahrstoffkennzeichnung aus RL 67/548/EWG, Anh. I [2]
T+
Sehr giftigR- und S-Sätze R: 26/28 S: (1/2)-25-45 Bitte beachten Sie die eingeschränkte Gültigkeit der Gefahrstoffkennzeichnung bei Arzneimitteln LD50 75 mg·kg−1 (Maus, oral) [1]
WGK 3 (stark wassergefährdend) [3] Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen. Atropin (abgeleitet von Atropos, griechische Schicksalsgöttin) ist ein giftiges Tropan-Alkaloid. Es handelt sich um ein Racemat (1:1 Mischung) aus den Isomeren (R)- und (S)-Hyoscyamin, das sich bei der Isolierung durch Racemisierung aus (S)-Hyoscyamin bildet. (S)-Hyoscyamin kommt in Nachtschattengewächsen wie Alraunen (Mandragora), Engelstrompete (Brugmansia) und Stechapfel (Datura stramonium) vor. Seinen Namen verdankt das Alkaloid der Schwarzen Tollkirsche (Atropa belladonna).
Inhaltsverzeichnis
Atropin als chirale Verbindung
Atropin ist die racemisierte Form des natürlich vorkommenden (S)-Hyoscyamins. Die Racemisierung findet bereits bei der Isolierung statt, wenn Laugen zum Einsatz kommen; hierbei bildet sich intermediär ein Enolat [4]. Durch eine Aufarbeitung unter neutralen Bedingungen (pH-Wert 7) kann die Racemisierung von (S)-Hyoscyamin unterdrückt werden. Der Bedeutung der Enantiomerenreinheit von Arzneistoffen wird zunehmend die gebührende Beachtung eingeräumt, denn die beiden Enantiomeren eines chiralen Arzneistoffes zeigen fast immer eine unterschiedliche Pharmakologie und Pharmakokinetik. Das wurde früher aus Unkenntnis über stereochemische Zusammenhänge oft ignoriert[5]. Insofern ist es erstaunlich, dass (R/S)-Hyoscyamin (= Atropin) weiterhin als Pharmazeutikum und vor allem als Mydriatikum eingesetzt wird.
Für die Verwendung als Edukt in chemischen Synthesen ist es vorteilhaft, von reinem natürlichem (S)-Hyoscyamin oder (R)-Hyoscyamin [Herstellung durch Racematspaltung von] auszugehen.
Das (S)-Hyoscyamin ist ein Ester der Tropasäure mit α-Tropin und zählt somit zu den Tropan-Alkaloiden. Allein das 1:1 Gemisch von (R)- und (S)-Hyoscyamin wird Atropin genannt (vgl. Cahn-Ingold-Prelog-Konvention zur Benennung). Ein dem Hyoscyamin strukturell nah verwandtes Alkaloid ist das Scopolamin (Hyoscin).
Atropin als Gegengift
In der Medizin findet Atropin Verwendung, um den Parasympathikus zu blockieren. Es unterbricht die Signalübertragung in der Nervenleitung. Atropin ist also ein Parasympatholytikum („Anticholinergikum“, „Antiparasympathomimetikum“) bzw. Vagolytikum (Vagus = Größter Nerv des Parasympathikus). Atropin hemmt die muskarinartigen Wirkungen des Acetylcholins durch kompetitive Inhibition der Acetylcholinrezeptoren an der postsynaptischen Membran. In sehr hohen Dosen hemmt Atropin vermutlich auch einige Subtypen des nikotinischen Acetylcholinrezeptors.[6]
Aus diesem Grund wird es als Antidot bei Vergiftungen mit bestimmten Pflanzenschutzmitteln (Insektiziden) und Nervenkampfstoffen eingesetzt, deren toxische Wirkung auf einer irreversiblen Hemmung der Acetylcholinesterase beruht (z.B. organische Phosphorsäureester und Phosphonsäureester wie Parathion, Tabun oder Paraoxon). Patienten (z.B. mit Sarin kontaminierte Soldaten) werden per Autoinjektor Gaben von 2 mg Atropinsulfat bzw. 2 mg Atropinsulfat plus 220 mg Obidoximchlorid verabreicht. Atropin muss in ausreichenden Mengen im Notfalldepot jeder Apotheke vorhanden sein.
Atropin vermindert die Speichel- und Schleimsekretion, was bei Operationen im Mund und Rachenbereich sowie bei fiberoptischen Intubationen und Bronchoskopien genutzt werden kann.
Narkose
Es kann bei der Einleitung oder während einer Narkose vor allem bei niedriger Herzfrequenz verwendet werden. Es hemmt vor allem die M1-, M2- und M3-Rezeptoren und verursacht so eine Anhebung der Herzfrequenz (M2), eine Reduktion der Magensäureproduktion (M1) sowie eine Speichelreduktion (M3). Weiter eine dezente Bronchodilatation (M3), was alles in allem einen Vorteil für die Narkoseeinleitung bedeutet. Als Asthmamittel wird es nicht mehr verwendet, stattdessen werden besser verträgliche Derivate eingesetzt.
Medizinische Anwendung
Atropin wird in der Augenheilkunde zur diagnostischen und therapeutischen Akkommodationslähmung und als Mydriatikum zur Erweiterung der Pupillen eingesetzt. Seltener findet es Anwendung im Bereich des Magen-Darm-Trakts bei Krämpfen der glatten Muskulatur. Zusätzlich kann Atropin bei erschwerter Blasenentleerung, bei Harninkontinenz und zur Behandlung einer Reizblase gegeben werden. In der Frauenheilkunde wurde Atropin selten bei Dysmenorrhoe (schmerzhafte Regelblutung) eingesetzt. Den gleichen Effekt erzielt man heute mit Butylscopolamin, einem chemisch weiterentwickelten Derivat des Scopolamins, das entspannend auf die verkrampfte glatte Muskulatur wirkt und aufgrund der geringeren Nebenwirkungen frei erhältlich ist. Außerdem wird Atropin auch gegen übermäßiges Schwitzen (Hyperhidrose) eingesetzt (Off-Label-Use). Weiter hat es einen festen Platz in der kardio-pulmonalen Reanimation bei Asystolie und pulsloser elektrischer Aktivität (PEA).
Wirkungen
Es hat folgende Wirkungen:
- Blockade des Parasympathikus (= Vagus und sakrolumbale Nervenfasern), genannt Vagolyse, daher ein Gegenmittel bei Vergiftungen durch Phosphorsäureester z.B. Tabun, Sarin oder Parathion
- Beschleunigung der Herzfrequenz
- Weitstellung der Bronchien
- Weitstellung der Pupillen (vgl. auch Atropa Belladonna, Schwarze Tollkirsche)
- Austrocknung der Schleimhäute und stark verminderte Schweißbildung
Missbrauch, Überdosierung, Vergiftung
Vor einer Einnahme als Rauschdroge ist zu warnen. Die therapeutische Breite des Stoffes ist gering, die Wirkungen auf Herz und Kreislauf stehen im Vordergrund und sind schon bei geringen Dosen nachweisbar (z. B. 0,5 mg zur Narkoseeinleitung, 3 mg als Maximaldosis bei der Reanimation). Psychische Wirkungen sind also erst in einem Stadium zu erwarten, bei dem Herz und Kreislauf maximal überlastet sind.
Als Vergiftungssymptome wird wie bei anderen Vergiftungen (siehe anticholinerges Syndrom) von Rötungen der Haut, Mydriasis, Herzrasen und Verwirrtheit wie Halluzinationen berichtet. Anschließend tritt eine schwere Bewusstlosigkeit ein; bei einer Atemlähmung sind die Vergiftungen in der Regel tödlich. Als Obduktionsergebnisse sind typischerweise Leberverfettung und subepikardiale Ekchymosen erwähnt worden. Ansonsten sind die Befunde uncharakteristisch. Ab 10 mg treten Delirien und Halluzinationen auf. Bei 100 mg setzt eine tödliche Atemlähmung ein. Insbesondere Kinder reagieren bei viel geringeren Dosen: Schon 2 mg (entsprechen drei bis fünf Tollkirschen) genügen für eine tödliche Dosis.
Neben Vergiftungen durch freiwilligen oder unfreiwilligen Verzehr von Pflanzenteilen (zum Beispiel Tollkirsche) kommen medizinale Vergiftungen infolge Überdosierung, Verwechslung oder falscher Anwendung vor.
Die Erste Hilfe bei Atropin-Vergiftung besteht in sofortiger Entleerung des Magen-Darm-Traktes (Erbrechen, Magenspülung) sowie erforderlichenfalls künstlicher Beatmung bzw. Atemspende. Die erweiterten Maßnahmen zielen auf die medikamentöse Hemmung der Acetylcholinesterase, durch Physostigmin oder Neostigmin als Antidot, wodurch der Abbau des Acetylcholins verzögert wird. Folglich erhöht sich die Konzentration im synaptischen Spalt. Am Rezeptor selbst wird somit indirekt eine parasympathische Wirkung erzielt. Das Atropin wird aus dem Bereich der Rezeptoren verdrängt und die Reizleitung ist wiederhergestellt.
Geschichte – Renaissance
Große Pupillen galten während der Renaissance unter europäischen Frauen als schön („bella donna“). Gerade in höchsten Gesellschaftsschichten war die Einnahme der (S)-Hyoscyamin enthaltenden Tollkirsche nicht selten.
Quellen
- ↑ a b c Atropin bei ChemIDplus
- ↑ Eintrag zu CAS-Nr. 51-55-8 im European chemical Substances Information System ESIS
- ↑ Eintrag zu Atropin in der GESTIS-Stoffdatenbank des BGIA, abgerufen am 29.12.2007 (JavaScript erforderlich)
- ↑ Schneider, Archiv der Pharmazie (Weinheim) 284, 306 (1951)
- ↑ E. J. Ariëns, Stereochemistry, a basis for sophisticated nonsense in pharmacokinetics and clinical pharmacology, European Journal of Clinical Pharmacology 26 (1984) 663-668.
- ↑ Zwart, Vijverberg: Potentiation and inhibition of neuronal nicotinic receptors by atropine: competitive and noncompetitive effects. Experiment an Froschoozyten (englisch); PMID 9351980.
Siehe auch
Das strukturell ähnliche Tropan-Alkaloid Scopolamin.
Weblinks
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