Homo sapiens neanderthalensis

Homo sapiens neanderthalensis
Neandertaler
Schädel eines Neandertalers
(1908 im französischen La Chapelle-aux-Saints entdeckt)
Zeitraum
Pleistozän
130.000 bis 30.000 Jahre
Fossilfundorte
Systematik
Altweltaffen (Catarrhini)
Menschenartige (Hominoidea)
Menschenaffen (Hominidae)
Hominini
Homo (Menschen)
Wissenschaftlicher Name
Homo neanderthalensis
King, 1864

Der Neandertaler (Homo neanderthalensis, früher auch „Neanderthaler“) ist ein ausgestorbener Verwandter des heutigen Menschen (Homo sapiens) aus der Gattung Homo.

Die Bezeichnung Neandertaler geht auf das „Neandertal“ zurück, einen zwischen den Städten Erkrath und Mettmann gelegenen Talabschnitt der Düssel. Dieses Tal ist seit dem 19. Jahrhundert nach dem Kirchenlieddichter Joachim Neander (1650–1680) benannt, da dieser während der Zeit seines Aufenthalts in Düsseldorf gern in dem damals noch wildromantischen Tal spazieren ging.

Zeitweise wurde der Neandertaler nicht als eigene Art angesehen, sondern als Unterart von Homo sapiens; er stand seinerzeit als Homo sapiens neanderthalensis neben dem modernen Menschen, der Homo sapiens sapiens genannt wurde.

Sowohl die Fossilfunde als auch in jüngster Zeit vorgenommene DNA-Analysen belegen, dass der Neandertaler kein Vorfahre des heutigen Menschen ist, sondern dass beide unabhängig voneinander aus einer gemeinsamen afrikanischen Vorläuferart hervorgegangen sind.

Inhaltsverzeichnis

Entdeckung

Mitte August 1856 entdeckten italienische Steinbrucharbeiter in einem heute dem Kalkabbau zum Opfer gefallenen Abschnitt des Neandertals 16 Knochenfragmente. Sie wurden zunächst achtlos zum Abfall geworfen. Erst als der Schädel gefunden wurde, holte man auch die Knochen wieder hervor. Knochen und Schädel wurden von dem Mitbesitzer des Steinbruchs, Wilhelm Beckershoff, an Johann Carl Fuhlrott zur näheren Untersuchung gegeben. Fuhlrott zog zwei Bonner Wissenschaftler hinzu, den Anatomen Franz Josef Mayer und den Anthropologen Hermann Schaaffhausen. Krankheitsbedingt überließ Mayer seinem Bonner Kollegen die Fossilien, der bei den Untersuchungen schließlich zu demselben Ergebnis wie Fuhlrott kam, es handele sich um eine urtümliche Form des Menschen. Allerdings wollte der Bonner Wissenschaftler im Gegensatz zu Fuhlrott ihm kein eiszeitliches Alter zugestehen.

Fuhlrott und Schaaffhausen präsentierten den Fund im Juni 1857 auf der Generalversammlung des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande. Ihre Interpretation wurde jedoch durch das Fachpublikum nicht geteilt. Rudolf Virchow, der zu dieser Zeit bedeutendste deutsche Pathologe, untersuchte 1872 den Fund heimlich während einer Reise Fuhlrotts. Er interpretierte die Kopfform als eine krankhafte Deformation und verwarf die These des „Urmenschen“. Gegen das Urteil dieser Autorität kämpften Fuhlrott und Schaaffhausen in Deutschland bis zum Tode Virchows vergeblich an. [1] 1877 erwarb das Rheinische Landesmuseum in Bonn den Fund von der Erbin Fuhlrotts.

Auftreten, Zeitraum und Aussterben

Stammbaum-Modell
Fundorte von „Präneandertalern“ (= Homo heidelbergensis) und früher Neandertaler

Die Neandertaler lebten im Mittelpaläolithikum in der Zeit von vor ca. 160.000 bis mindestens vor 30.000, vielleicht sogar vor 24.000 Jahren. Die ältesten Funde stammen aus Kroatien (nahe der Stadt Krapina) und Italien; sie sind etwa 130.000 bzw. 120.000 Jahre alt. Der Fund aus dem Neandertal wird heute auf ein Alter von 42.000 Jahren datiert. Die Fossilfunde konzentrieren sich auf Süd- und Mitteleuropa und den Nahen Osten (Israel), doch gibt es auch Funde aus dem Nordirak, Usbekistan und dem Altaigebirge (Okladnikow-Höhle). Gelegentlich wird das Entstehen der Neandertaler als eigenes Taxon sogar auf die Zeit vor 500.000 Jahren datiert, also formal eine frühere Abgrenzung vom Homo erectus vorgenommen.[2]

Homo neanderthalensis stammt aller Wahrscheinlichkeit nach vom Homo heidelbergensis ab. Hierfür spricht auch, dass nach DNA-Analysen an dem Typus-Exemplar die letzten gemeinsamen Vorfahren von ihm und Homo sapiens vor etwa 600.000 Jahren lebten. Untersuchungen an einem anderen Exemplar aus dem Kaukasus (Georgien) sprechen für eine Auftrennung vor ca. 250.000 Jahren. Die Analysen zeigten eine sehr hohe genetische Übereinstimmung zwischen den untersuchten Exemplaren.

Der verbreiteten Ansicht, dass der Neandertaler besonders an die Kaltzeiten der Würm-Eiszeit angepasst war, scheint zu widersprechen, dass er bereits lange vor dem Kältemaximum ausstarb. Als es nach dem Interstadial 5 (vor ca. 30.000 Jahren) sehr kalt wurde, gab es nördlich der Alpen keine Neandertaler mehr, die letztdatierten Funde (Zafarraya vor 30 Tsd., Vindija-Höhle 28 Tsd., Mesmaiskaja-Höhle 29 Tsd. Jahren) liegen alle deutlich südlicher und sprechen daher eher für eine Kälteflucht.

Noch vor dem Kältemaximum der letzten Eiszeit drang Homo sapiens aus Afrika über den Nahen Osten nach Norden vor (vor 40.000 Jahren, nach Auffassung von Paul Mellars, Universität Cambridge, bereits vor 46.000 Jahren) und besetzte in der Folgezeit den bisherigen Lebensraum des Neandertalers (gemeinsam für nur etwa 6.000 Jahre). Wie viel Zeit verging, bis Homo sapiens bis zur Atlantikküste vorgedrungen war, ist unklar, zumal die Anwesenheit von Cro-Magnon-Menschen in Mittel- und Westeuropa frühestens für die Zeit vor 32.000 Jahren durch Knochenfunde belegt ist.

Welche Gründe im Einzelnen Homo sapiens Vorteile gegenüber dem Neandertaler verschafften, ist nicht bekannt.

Viele Wissenschaftler sind der Meinung, der Neandertaler sei keineswegs ausgestorben, weil er „primitiver“ als der moderne Mensch gewesen sei. In puncto Körperkraft war er ihm sogar überlegen. Ein durchschnittlicher Neandertaler-Mann hatte etwa die Kraft eines heutigen Gewichthebers (bei einer Körpergröße der europäischen Neandertal-Männer von durchschnittlich 1,65 m und der nahöstlichen von durchschnittlich 1,75 m). Belege für die größere Körperkraft der Neandertaler findet man in einem stärkeren Knochenbau und davon ausgehend in größeren Ansatzstellen der Sehnen, was auf stärkere Muskeln schließen lässt. Neandertaler-Frauen waren im Durchschnitt um ca. 5 % kleiner, doch im Wesentlichen ebenso robust und stark bemuskelt wie die Männer.

Dass er in Bezug auf die Intelligenz dem modernen Menschen ebenbürtig gewesen sein dürfte, kann nicht schon aus dem größeren Gehirnvolumen des Neandertalers geschlossen werden (dies wurde vielmehr als ein weiteres Symptom der Kälteanpassung gedeutet). Vielmehr bezeugen kulturelle Hinterlassenschaften eine dem Homo sapiens ebenbürtige Entwicklungsstufe. Da dem Neandertaler lange Zeit nur eine geringe Intelligenz zugestanden wurde, sind früher solche Kulturspuren des Neandertalers generell Homo sapiens zugeschrieben oder im Abraum der Ausgrabungen übersehen worden, weswegen diese neuere Erkenntnis ganz überwiegend auf erst in jüngerer Zeit entdeckten Funden beruht.

Ein Grund für das Aussterben des Neandertalers könnte eine Anpassung an ein sesshaftes Leben gewesen sein, während der Homo sapiens ein Nomade gewesen ist. Das Klima in Europa wurde nach kurzer relativer Erwärmung vor 30.000 Jahren bis zum Kältemaximum vor 18.000–20.000 Jahren immer rauher, so dass eine Überwinterung in der Tundralandschaft (Kältesteppe) Mitteleuropas immer schwieriger wurde. Vor 30.000 Jahren wichen viele Tiere nach Südeuropa aus, und Rentierherden drangen bis nach Spanien vor. Möglicherweise folgten die Neandertaler ihnen.

Körperlich besaß der moderne Mensch eine schnellere Beweglichkeit und längere Ausdauer bei weiten Gehstrecken; vor allem benötigte er aufgrund seiner geringeren Muskulatur erheblich weniger fleischliche Nahrung. Der Kalorienbedarf der Neandertaler hingegen muss schon im Ruhezustand beträchtlich gewesen sein. Der leichtere Körperbau – so diese Theorie – des modernen Menschen sicherte diesem sein Überleben, während der Neandertaler ausstarb. Hiergegen könnte jedoch eingewandt werden, dass Neandertaler das vorletzte Kältemaximum vor 60.000–70.000 Jahren trotz mutmaßlich noch geringerer Überlebenstechniken überstanden hatten.

Fundorte des klassischen Neandertalers

In weiten Teilen der Iberischen Halbinsel, auf der südlichen Krim und im Vorderen Orient war das Klima milder. Hier sind Neandertaler noch für die Zeit vor ca. 30.000 Jahren (Mesmaiskaja-Höhle) nachgewiesen. Der Fundplatz mit den möglicherweise jüngsten Funden ist die Gorham-Höhle, in der Steinwerkzeuge aus der Zeit um 28.000 gefunden wurden, die den Neandertalern zugeordnet wurden. Für noch jüngere Funde aus der Zeit um 24.000 gilt die Zuordnung zu Neandertalern derzeit als nicht gesichert.[3]

Entscheidend für das Aussterben könnte gewesen sein, dass der moderne Mensch früher geschlechtsreif wurde und mehr Nachkommen hatte.[4] So schätzen Forscher, dass eine Neandertalerin nur ungefähr alle vier Jahre ein Kind zur Welt brachte. Dies ist wohl auch ein Grund, warum nie mehr als einige tausend Neandertaler zur gleichen Zeit gelebt haben dürften. Statistische Bevölkerungsmodelle zeigen, dass schon Unterschiede von wenigen Prozent ausreichen, um in wenigen tausend Jahren eine Menschengruppe völlig in einer anderen aufgehen zu lassen bzw. zum Aussterben der weniger begünstigten Gruppen führen.

Eine Möglichkeit, dass sich die beiden Unterarten im Laufe der Zeit, während der sie nebeneinander existierten, durchmischt (gekreuzt) haben, wird kontrovers diskutiert und müsste gentechnisch zuverlässig nachgewiesen werden. Eine Studie von Pääbo u. a. 2004 (s. Weblinks) aufgrund von Vergleichen der Mitochondrialen DNA des Neandertalers mit jener von Homo sapiens ergab keine Hinweise auf eine Vermischung mit der Folge fortpflanzungsfähiger gemeinsamer Nachkommen. Dies würde auch dafür sprechen, dass der Neandertaler eine eigenständige Art Homo neanderthalensis ist und keine Unterart Homo sapiens neanderthalensis. Einige Wissenschaftler gehen jedoch weiterhin von einer Vermischung beider Formen aus.

In der Oase-Höhle in Rumänien fand man die zur Zeit als früheste Funde betrachteten Schädelteile eines modernen Menschen. Sie weisen anatomische Merkmale beider Menschenformen auf. Von Bedeutung ist die Jagdstation Buhlen von Edertal-Buhlen. Dieser 1908 entdeckte Fundort ist gekennzeichnet durch seine zahlreichen Tierknochenfunde, Tierknochenartefakte und Keilmesser.

Anatomie

Unser Wissen um die Neandertaler-Anatomie stammt ausschließlich von Knochenfunden, d. h. alle über das Skelett hinausgehende Aussagen sind Rekonstruktionen bzw. Interpretationen, die aus den Kenntnissen um den Zusammenhang vom Knochenbau heutiger Lebewesen und ihren Weichteilen abgeleitet sind. Die Regelhaftigkeit dieser Zusammenhänge ermöglicht es uns zudem, Rückschlüsse auf die Umwelt und die Lebensweise des Neandertalers zu ziehen, denn der Aufbau eines Lebewesens steht in direkter Beziehung zu beidem.

Die typischen europäischen – sogenannten klassischen – Neandertaler-Skelette zeichnen sich durch hohe Robustheit aus, d. h. die Gelenke und Knochenquerschnitte sind im Verhältnis zur Knochenlänge breiter als beim modernen Menschen und die Muskelansätze am Knochen sind stärker ausgeprägt. Weiterhin lassen die Knochenfunde auf Körperhöhen von ca. 1,60 bis 1,70 m schließen; die Männer brachten etwa 70, die Frauen 55 kg auf die Waage. So lässt sich eine gedrungene, sehr muskulöse Konstitution als Kälteanpassung in Europa rekonstruieren. Funde aus wärmeren Gegenden (zum Beispiel dem Nahen Osten) weisen auf schlankere Individuen hin, ihre Züge waren weniger stark „neandertalerartig“ ausgeprägt. Der Thorax der Neandertaler war tonnenförmig; auch Frauen hatten keine deutlich erkennbare Taille. Die Hüftgelenke lagen weiter seitlich als beim modernen Menschen, vielleicht bedingt durch den Platzbedarf der starken Oberschenkelmuskulatur.

Schädel

Die deutlichsten Unterschiede zum modernen Menschen lassen sich am Schädel feststellen, unterliegen jedoch einer erheblichen Variationsbreite.

Einige Schädelmerkmale

Die Schädelform ist lang und wirkt vor allem durch die dominanten Kiefer und die Überaugenwülste archaischer als die des Jetztmenschen. Die größte Schädelbreite liegt auf Höhe der unteren Schädelbasis (beim modernen Menschen: über den Ohren). Dadurch und durch den verhältnismäßig niedrigen, breiten Hirnschädel erscheint der Umriss in der Ansicht von hinten als halbkreisförmig (beim modernen Menschen: abgerundet trapezförmig). Am Gesichtsschädel fällt außerdem die hervortretende Nasen- und Gebisspartie ins Auge. Eine Crista sagittalis, d. h. ein Scheitelkamm, der bei früheren Menschenformen und den Menschenaffen zu beobachten ist, kommt hingegen nicht mehr vor.

Schädel eines Neandertalers

Die Stirn ist flach und fliehend. Die Region über den Augen zeigt typischerweise einen deutlichen Überaugenwulst (Torus supraorbitalis). Jedoch sind die Überaugenwülste nicht bei allen Individuen stark ausgeprägt, kamen zudem auch beim archaischen Homo sapiens vor und sind daher nicht immer ein verlässliches Kriterium. Diese Knochenverdickung wird als stabilisierende Anpassung gedeutet, denn der Schädel war – durch den kräftigen Kauapparat – starken statischen Belastungen ausgesetzt. Das Merkmal tritt bereits bei den frühen Vertretern der Hominiden auf und ist heute noch bei den Menschenaffen zu beobachten.

Die Nasenöffnung im Neandertalerschädel ist breit und hoch, die Nasenwurzel sehr kräftig und breit. Der Nasenboden mündet, im Gegensatz zum modernen Europäer, abgerundet in die Gesichtsebene. Diese Merkmale deuten auf eine große, fleischige Nase hin und lassen sich als Anpassung an die eiszeitliche Kälte erklären, denn eine große, lange Nase wärmt die Atemluft vor, bevor diese die Lungen erreicht und unterstützt dadurch die Aufrechterhaltung der Körper-Kerntemperatur. Dazu steht im Widerspruch die Tatsache, dass heutige Menschen in äquatorfernen Gegenden eine eher schmal-hohe, in den Tropen dagegen eher breit-niedrige Nase aufweisen (Schwidetzki 1974). Die Riechschleimhaut scheint weiter vorne angeordnet zu sein als beim Jetztmenschen. Dies deutet auf einen besseren Geruchssinn – sicher ein Vorteil bei der Jagd.

Das Gebiss ist wesentlich kräftiger als das des modernen Menschen. Bedingt durch die verhältnismäßig hohen und langen Kiefer wirken Neandertalerschädel prognath, d. h. die untere Gesichtshälfte springt hervor. Die Unterkieferäste sind breiter, der Winkel zwischen Unterkieferästen und -körper steiler. Als gutes Unterscheidungsmerkmal zum modernen Menschen kann das fliehende Kinn gelten. Die Anzahl und Form der Zähne sowie die Kronenformen stimmen mit den unsrigen überein, jedoch sind die Schneidezähne vergrößert und die hinteren Backenzähne durch das Merkmal der Taurodontie gekennzeichnet, d. h. die Wurzeln trennen sich erst kurz vor den Spitzen in Äste auf. Weiterhin ist die sogenannte „Neandertaler-Lücke“ typisch, die regelmäßig zwischen dem letzten Molaren (Backenzahn) und dem Unterkieferast auftritt. Eine Hypothese geht davon aus, dass die Form des Schädels durch die starke Beanspruchung der Schneidezähne zustandekam. Sie wurden nämlich – bewiesenermaßen – nicht nur zur Nahrungsaufnahme, sondern auch als eine Art Werkzeug, gleich einer „dritten Hand“, benutzt. Die sog. Teeth-as-tool-Hypothese von Smith besagt, dass die Zähne als Schraubstock und Zange eingesetzt wurden. Wie ein Fossilienfund in der Kebara-Höhle bei Kebara in Israel im Jahre 1983 belegt, verfügte der Neandertaler über ein nahezu identisches Zungenbein wie das moderner Menschen und damit zumindest über die anatomische Voraussetzung einer Sprechfähigkeit.

Auch das Gleichgewichtsorgan im Innenohr des Neandertalers zeigt Unterschiede zum modernen Menschen: Die Bogengänge sind kleiner als die des modernen Menschen. Der hintere Bogengang des Labyrinthorgans liegt beim Neandertaler tiefer als bei Homo sapiens. Daraus lässt sich schließen, dass der Neandertaler nicht so beweglich war. Laufen und springen gehörten wohl nicht zu den alltäglichen Bewegungsabläufen des Neandertalers.

Hirnkapazität: Im Durchschnitt besaßen Neandertaler einen größeren Hirnschädel als der Jetztmensch. Das Gehirnvolumen des Neandertalers betrug etwa 1300 – 1750 cm³, das des heutigen Menschen etwa 1200 – 1400 cm³. Aussagekräftig ist jedoch immer nur die Relation des Hirnvolumens zur Körpermasse eines Menschen. Die Größe des Neandertalergehirns könnte Ausdruck einer gesteigerten stoffwechselbedingten Effizienz sein und somit einer Anpassung an das Eiszeitklima entsprechen. Ein ähnliches Phänomen ist bei den Inuit zu beobachten, deren Gehirngröße tendenziell ebenfalls größer als bei anderen Menschen ist.

Untere Extremitäten

Auch die Längenrelation der Beine beim Neandertaler wird als Anpassungsprozess an das kalte Klima gedeutet. Entscheidend soll hierbei das Längenverhältnis von Unter- zu Oberschenkel sein. Dieses Längenverhältnis betrug beim Neandertaler etwa 71 Prozent. Bei Menschen aus Lappland liegt ein Längenverhältnis von 79 Prozent vor, bei Menschen aus Afrika 86 Prozent.

Jedoch besteht die Anpassung eher im Verhältnis von der Länge der Extremitäten zur Länge des Rumpfes bzw. letzten Endes in der Größe der Körperoberfläche bei gleichem Körpergewicht.

Sprache

Im israelischen Karmelgebirge wurde Mitte der 1980er-Jahre das bisher einzige Zungenbein eines Neandertalers entdeckt. Durch paläogenetische Untersuchungen wurde im Oktober 2007 ferner festgestellt, dass der Neandertaler über das gleiche FOXP2-Gen wie der moderne Mensch verfügte. Das für die Entwicklung der Sprache als wichtig gedeutete FOXP2-Gen wurde durch DNA-Sequenzierung aus Knochen eines Neandertalers, die in einer spanischen Höhle gefundenen wurden, isoliert und analysiert.[5] [6] Auch wenn somit bestimmte anatomische und genetische Voraussetzungen für sprachliche Kommunikation beim Neandertaler gegeben waren, sind diese jedoch kein Beweis für eine tatsächliche Nutzung der Sprache.[7]

Als wenig aussagekräftig gelten ferner Rückschlüsse aus Gehirnmaßen (Broca- und Wernicke-Zentrum; siehe auch Sprachzentrum) auf das Sprachvermögen. Derartige Rückschlüsse waren Anfang des 20. Jahrhundert verbreitet, sind jedoch heute nicht mehr wissenschaftlich anerkannt.

Kultur

Neandertaler fertigten Speere und Keilmesser an und nutzten, wie bereits ihre Vorgänger, das Feuer. Ein wichtiger Fundort in Deutschland, an dem besonders zahlreiche Steinartefakte des Mittelpaläolithikum sowie auch mehrere Fundschichten entdeckt wurden, ist die Balver Höhle in Westfalen. Diese Höhle wurde in der ersten Hälfte der Weichsel-Eiszeit vor 100.000 bis 40.000 Jahren immer wieder von Neandertalern aufgesucht. Aber auch auf der Schwäbischen Alb und auf zahlreichen Fundplätzen im Freiland wurden Spuren von Jagdlagern des Neandertalers gefunden.

Neandertaler aus dem Harz stellten offenbar bereits Pech als Klebstoff aus Birken her. Dies ist insofern erstaunlich, als die Destillation des Birkenpechs eine konstante Temperatur von etwa 350 °C erfordert.

Im Fundmaterial aus der Balver Höhle konnten zahlreiche Geräte aus Knochen und Mammutelfenbein identifiziert werden.

Der Neandertaler fertigte vermutlich – als erste Menschenart – Kleidung an. Aus Untersuchungen der Isotopenverhältnisse von Knochenproteinen lässt sich schließen, dass sich die Neandertaler fast ausschließlich von Fleisch ernährt haben. Das Sediment der mittelpaläolithischen Fundschichten in der Balver Höhle waren mit den Knochen vom Mammut, darunter vor allem Kälber und Jungtiere, regelrecht durchsetzt. Es kann von einer sehr großen Anzahl von Tieren ausgegangen werden, die im Umfeld der Höhle erlegt wurden.

In der Gudenushöhle (Kleines Kremstal, Niederösterreich) lässt die untere Kulturschicht (70.000 Jahre) Jagd auf Mammut, Nashorn, Ren, Wildpferd und Höhlenbär vermuten. Erste künstlerische Äußerungen des Neandertalers sind unter anderem in Frankreich zu finden (siehe: Maske von La Roche-Cotard). Ebenfalls in Frankreich, bei Ausgrabungen in Pech de l'Azé, wurden manganhaltige Pigmentklumpen gefunden, die auf eine Körperbemalung der Neandertaler schließen lassen.[8]

Bedeutende Fundstellen befinden sich auch in Sachsen-Anhalt im Geiseltal, in der neuerdings Artefakte des Neandertalers von vor etwa 90.000 Jahren (frühe Weichselkaltzeit), sowie an anderer Stelle eine Fundschicht, die älter als die Eem-Warmzeit (ca. vor 100.000 Jahren) ist, entdeckt wurden. Die Knochenfunde stammen von Rindern, Pferden, Hirschen und Rehen, in den älteren Funden auch vom Waldelefanten; auch Kleinsäuger, Vögel und Fische sowie zahlreiche Molluskenschalen kommen vor. Die Steinartefakte sind klein und scharfkantig, in ausgeprägter Levallois-Technik, sowie sogenannte Wolgograder Messer, die auf den östlichen Bereich der Keilmessergruppe verweisen.

Die sehr umfangreichen Funde auf der Krim, die in jüngster Zeit untersucht worden sind, lassen die Steinzeitliche Kulturentwicklung über einen sehr langen Zeitraum verfolgen. Danach bleiben die Artefakte über etwa 100.000 Jahre ziemlich unverändert mittelpaläolithisch: Flache Klingen, die meist beidseitig durch Oberflächenretuschen über lange Zeit funktionstüchtig gehalten wurden. Sie befanden sich bereits in Holz- oder Knochengriffen (Stielen) und wurden sogar montiert geschliffen bzw. überarbeitet. Diese „Ak-Kaya-Industrie“ genannte Kultur ähnelt dem Micoquien Mitteleuropas. Erst mit dem allmählichen Absinken der Temperaturen zum Höhepunkt des letzten Glazials vor etwa 60.000 Jahren änderte sich die Kultur. Es wurden nun aus Feuersteinknolle durch geschickte Abschlagstechnik Werkzeuge erzeugt, die nach Abnutzung weggeworfen, also nicht mehr nachgeschliffen wurden. Es war offenbar einfacher geworden, durch Abschlag neue Klingen und Werkzeuge zu schaffen. Die Kultur ähnelte dem Aurignacien des Homo sapiens in Mitteleuropa, obwohl dieser auf der Krim erst vor 30.000 Jahren auftrat. Der Neandertaler hatte hier wichtige Innovationen des Modernen Menschen vorweggenommen. Die zahlreichen Knochenfunde von Wildeseln machen deutlich, dass der Neandertaler es bereits beherrschte, planmäßig bei den Beutezügen vorzugehen. Meist wurden ganze Familien bzw. Herden von Eseln mit Eltern- und Jungtieren überfallen, während diese am nahen Flusslauf ungeschützt zur Tränke waren. Die Beute wurde an Ort und Stelle zerlegt, aber wesentliche Teile der Tiere wurden im Stück abtransportiert und an anderer Stelle zerteilt, zubereitet und verzehrt. Beobachtet wurde auch eine über unterschiedliche Lagerplätze verteilte Arbeitsteilung: So gab es Lagerplätze, wo das Wild zerlegt und die Steinwerkzeuge hergestellt wurden sowie andere, wo offensichtlich länger gewohnt und verzehrt wurde, wo es mehr Schutz vor Unwetter gab usw. Eine deutliche planmäßige Arbeitsteilung und Organisation, jahreszeitlich ausgerichtete Spezialisierung auf einzelne Tierarten und auf die ganze Gruppe bezogene Lagerplätze konnten ausgemacht werden. Dennoch gibt es eine ganze Reihe von jungpaläolithischen Merkmalen wie besondere Geweih- und Knochenbearbeitungen oder Werkzeuge wie Stichel und Kratzer, die hier noch fehlen. Man gewinnt den Eindruck von mittelpaläolithischen Menschen, die gewisse jungpaläolithische Errungenschaften bereits entwickelt hatten, andere aber noch nicht kannten.

Während die biologische Durchmischung von Neandertaler und Homo sapiens umstritten ist, ist ein Kulturaustausch als wahrscheinlich anzunehmen. Die Dauer der Koexistenz von Neandertaler und Homo sapiens in den gemäßigten Zonen beträgt mindestens 2.000 bis 10.000 Jahre (nach Paul Melart nur etwa 6.000 Jahre). In dieser Zeit sind ähnliche kulturelle Erscheinungen bei beiden Arten zu beobachten. Eine Begegnung ist daher wahrscheinlich, aber nicht eindeutig nachgewiesen.

Religion

Eine Vielzahl von Bestattungsfunden von Neandertalern im Gebiet des heutigen Israel und Europas hat dazu geführt, dass die große Mehrheit der Wissenschaftler dem Neandertaler mindestens Vorstufen der Emergenz von Religion, also der Auseinandersetzung mit Fragen des Jenseits und der Transzendenz zubilligen. Allerdings bleiben die Bestattungen schlichter als zeitähnliche Funde von Homo sapiens. Auch wird bezweifelt, ob umliegende Artefakte als Grabbeigaben zu werten sind und ob Blütenpollen im Grab von Shanidar (Irak) durch bestattende Neandertaler oder nachfolgend durch Mäuse eingebracht wurden. Als unstrittig aber gilt, dass ein Bestatteter von Shanidar trotz schwerer Verletzungen noch länger lebte, was als wahrscheinlicher Hinweis auf Unterstützung in der Gruppe gewertet wird. Ob das Fehlen des Schädels beim ansonsten unversehrten Grab in Kebara (Berg Karmel, heutiges Israel) auf eine bewusste Mitführung des Schädels (etwa für Rituale oder eine Sekundärbestattung) zurückzuführen ist, bleibt ebenfalls ungeklärt.

Skizze bestatteter Neandertaler, Kerbara (Berg Karmel)

Als gesichert können also bisher allenfalls Ansätze einer Bestattungskultur gelten.

Weitergehende Interpretationen blieben jedoch bisher mangels eindeutig interpretierbarer Funde Spekulation.

So wurden in der Schweizer Drachenloch-Höhle Knochen von Höhlenbären gefunden, die zwischen Steinplatten angeordnet waren – deshalb spekulierte die ältere Forschung (und in jüngerer Zeit die Schriftstellerin Jean M. Auel) über einen „Höhlenbären-Kult“ beim Neandertaler. Die Felsen können freilich auch ohne menschliche Einwirkung von der Höhlendecke herabgefallen, die „ausgerichtete“ Anordnung der Funde etwa durch Wassereinwirkung erfolgt sein. Zumal es keine weiteren Belege für einen so frühen Bärenkult gibt (etwa Ritualgegenstände, vergemeinschaftete Bestattungen etc.) und existierende Bärenkulte sehr komplex sind, wird dessen Existenz heute als wenig wahrscheinlich bzw. widerlegt bewertet.

Siehe auch: Steinzeit · Ur- und Frühgeschichte zwischen Alpen und Maingebiet · Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas

Verwandtschaft zum modernen Menschen

Die Verwandtschaft von Neandertaler und modernem Menschen gilt heute als weitestgehend geklärt. Unter den Paläoanthropologen herrscht Einvernehmen darüber, dass beide im Homo erectus vor 2 Millionen Jahren einen gemeinsamen afrikanischen Vorfahren hatten. Nach der Besiedelung Europas durch Homo erectus entwickelte sich dieser in Europa zum Neandertaler, während in Afrika vor ca. 200.000 Jahren aus Homo erectus der moderne Mensch hervor ging.

Durch Fossilien- und Werkzeugfunde gilt heute als erwiesen, dass Homo erectus Afrika „während der ersten Ausbreitungswelle vor rund 2 Millionen Jahren“ Richtung Levante, Schwarzmeerraum und Georgien sowie über Nordwestafrika Richtung Südspanien verließ [9] und danach keinen Kontakt mehr zu den in Afrika verbliebenen Populationen hatte. Der moderne Mensch und die mitteleuropäischen Populationen von Homo erectus bzw. des Neandertalers waren somit ab dieser ersten Ausbreitungswelle bis zur Einwanderung des modernen Menschen vor rund 40.000 Jahren räumlich und genetisch voneinander getrennt.

Die Vermischungshypothese

Allerdings gibt es in der Levante ein enges Nebeneinander von Fundstellen der modernen Menschen und der Neandertaler, die belegen, „dass die beiden Hominidengruppen mindestens 60 000 Jahre ohne Probleme nebeneinander existiert haben.“ [10] Daher war die Frage naheliegend, ob trotz der langen Separierung beider Gruppen noch gemeinsame fruchtbare Nachkommen möglich gewesen sein könnten. Die große Mehrheit der Paläoanthropologen lehnt heute jedoch diese Vermischungshypothese ab: „Sehr wahrscheinlich hat sich der Neandertaler nicht mit dem aus Afrika stammenden H. sapiens vermischt.“ [11] Diese Auffassung kann als gut abgesichert gelten, denn „der Neandertaler ist heute der am besten erforschte Urzeitmensch. 400 Fossilfunde gibt es in Europa.“ [12] In Mitteleuropa hat die Zeitspanne der Koexistenz möglicherweise nur 5000 Jahre betragen.

Der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk, ein Experte speziell für den Homo erectus-Vorläufer Homo rudolfensis, begründet die Ablehnung der Vermischungshypothese vor allem mit der Unterscheidbarkeit der Knochenfunde:

„Spuren eines solchen möglichen Intermezzos wären dann aber deutlich in der Anatomie nachzuweisen, wenn man bedenkt, dass der stämmige Neandertaler der Eiszeit trotzte und der grazilere Homo sapiens der Sonne Afrikas entflohen war. Doch sämtliche gefundenen Schädel- und Skelettteile wurden – wenn auch nach einigen Irrungen und Wirrungen – entweder als eindeutig modern oder eindeutig neandertaloid eingestuft.“[13]

Vertreter der Vermischungshypothese ist vor allem der US-amerikanische Forscher Erik Trinkaus,[14] der – trotz gegenteiliger Befunde aus DNA-Analysen – auch für Asien einen gleitenden Übergang von Homo erectus zu Homo sapiens annimmt.[15] Trinkaus deutet beispielsweise ein 1998 im Lapedo-Tal in Zentralportugal gefundenes Kinderskeletts („Kind von Lagar Velho“) als „Mischlingskind“ und interpretiert auch zahlreiche andere Neandertaler-Funde als Beleg für seine Hypothese. [16] Das fast vollständig erhaltene Skelett eines etwa vier Jahre alten Kindes war vor ca. 25.000 Jahren in einem Bett aus verbrannten Kiefernzweigen und bedeckt mit rotem Ocker bestattet worden, wie dies für die Beerdigungsrituale des modernen Menschen üblich war. Auch die meisten anatomischen Merkmale weisen es als modernen Menschen aus. So gleicht beispielsweise die Lage der Bogengänge des Innenohrs der des modernen Menschen und nicht des Neandertalers. Das Kinderskelett besitzt allerdings drei Auffälligkeiten: Sein nach hinten fliehender Unterkiefer, bestimmte Ansätze der Brustmuskulatur und relativ kurze Unterschenkel. Diese drei Merkmale können auch bei Neandertalern auftreten. [17]

Eine Publikation von Erik Trinkaus und rumänischen Kollegen aus dem Jahre 2006 versucht gleichfalls nachzuweisen, dass die 1952 in der Höhle von Pestera Muierii in Rumänien entdeckten fossilen Knochen auf Gemeinsamkeiten zwischen Neandertaler und modernem Menschen hinweisen. [18] Die 30.000 Jahre alten Fossilien zeigen Merkmale des Homo sapiens ebenso wie die des Neandertalers. Auf den Homo sapiens weisen die vergleichsweise kleine Kinnlade mit den ausgeprägten Eckzähnen hin sowie kleine Augenbrauenbögen und enge Nasenöffnungen. Für den Neandertaler charakteristisch sind bei diesen Fossilien der große Augenabstand und die fliehende Stirn mit großen Augenbrauenwülsten.

Über die Variationsbreite dieser Merkmale in den damaligen Populationen ist bis heute allerdings wenig Sicheres bekannt. Die von Trinkaus herausgestellten Merkmale werden von der überwiegenden Mehrzahl der Paläoanthropologen als Hinweis auf die gemeinsame Abstammung von Neandertaler und modernem Menschen aus Homo erectus gedeutet und nicht als Resultat einer genetischen Vermischung. [19]

Ein unverhofftes Argument gegen die Vermischungshypothese ergab sich aus einer 2004 publizierten Genanalyse von Kopfläusen, die ein Team um David Reed von der University of Florida vorlegte.[20] Demnach gibt es bei den Läusen zwei Abstammungsgruppen, deren Entwicklung – geschätzt anhand der molekularen Uhr – seit mehr als 1,1 Millionen Jahre getrennt voneinander verlief. Heute kommt die eine Population auf allen Kontinenten vor, die zweite nur in Amerika. Da die Trennung der beiden Läuse-Populationen annähernd in jene Zeitspanne fällt, in der Homo erectus aus Afrika auswanderte, vermuten die Forscher, dass Homo erectus die Vorfahren der einen Population mitbrachte und dass sie die aus Homo erectus hervorgegangenen Neandertaler ebenfalls besiedelten. Als Jahrzehntausende später der in Afrika aus Homo erectus hervorgegangene Homo sapiens aus Afrika auswanderte, brachte er die zweite Population mit, die sich zwischenzeitlich in Afrika – wie er selbst – genetisch verändert hatte. Während es in Europa offenbar keinen Kontakt zwischen den beiden Homo-Arten gab, bei denen die ausschließlich auf dem menschlichen Kopf lebenden Läuse übertragen werden konnten, muss es – so die Deutung von David Reed – in Asien zu engeren Kontakten gekommen zu sein: Die später nach Amerika weitergewanderten Gruppen von Homo sapiens scheinen jedenfalls beide Läuse-Populationen mitgeführt zu haben, die eigenen und die mutmaßlich von Homo erectus übernommenen.

Das Neandertaler-Genom

Rekonstruktion des Aussehens eines Neandertalerkindes durch Prof. Christoph Zollikofer, Zürich

Nach den jüngsten Untersuchungen der mtDNA von zahlreichen Neandertaler-Skeletten, frühen Homo sapiens-Funden und der vermuteten Mosaikformen sind allerdings bisher keine Anhaltspunkte dafür gefunden worden, dass Gene von Homo neanderthalensis in Populationen des Homo sapiens übergingen. Neandertaler und moderner Mensch können daher auch weiterhin als unterschiedliche biologische Arten beschrieben werden.

Von der Arbeitsgruppe um Svante Pääbo konnten zunächst jedoch nur 370 bis 600 Basenpaare verglichen werden, [21] so dass ein Genaustausch auch nicht vollständig ausgeschlossen werden konnte. Im Mai 2006 berichtete der Forscher jedoch, dass man aus einem in Kroatien gefundenen, 45.000 Jahre alten, männlichen Neandertaler rund eine Million Basenpaare sequenzieren konnte. [22] Ersten Analysen zufolge unterscheidet sich das Y-Chromosom des Neandertalers stärker vom Y-Chromosom des modernen Menschen und von dem des Schimpansen als die anderen Chromosomen. Es gilt daher – zumindest für die späten Neandertaler – als wahrscheinlich, dass kaum Vermischung mit modernen Menschen stattgefunden hat. [23]

Im Februar 2009 wurde mitgeteilt, dass 60 Prozent des Genoms entschlüsselt seien.[24] Bis 2010 soll das gesamte Genom entschlüsselt sein.[25] Die Genome des Menschen und des Neandertalers unterscheiden sich um weniger als 0,5 %. Anhand der bisher vorliegenden Daten schlossen die Wissenschaftler auf eine Aufspaltung von modernen Menschen und Neandertalern zwischen 706.000 und 516.000 Jahren vor heute. [26] [27] Die Genauigkeit der so genannten molekularen Uhr, die solchen Abschätzungen zugrunde liegt, ist allerdings umstritten.

Eine Analyse des Gens mc1r und des von ihm codierten Rezeptorproteins MC1R ergab Hinweise darauf, dass möglicherweise einzelne Neandertaler eine sehr geringe Hautpigmentierung aufgewiesen haben könnten, vergleichbar der Pigmentierung von heute lebenden rothaarigen und zugleich hellhäutigen Menschen. MC1R reguliert nicht nur beim Menschen, sondern auch bei vielen anderen Wirbeltieren die Färbung der Haut. [28]

Siehe auch: Mitochondriale Eva · aDNA

Forschungsgeschichte

Johann Carl Fuhlrott

Die Stätte der ersten Neandertaler-Funde ist nicht mehr erhalten; die so genannte Kleine Feldhofer Grotte wurde im Rahmen des Kalkabbaus (der letztlich auch zur Entdeckung führte) zerstört. Zwei Arbeiter waren dort im August 1856 etwa 60 cm tief im Lehm auf fossile Knochen gestoßen, die zunächst unbeachtet mit Gesteinsschutt zu Tal geworfen wurden. Dort fielen sie dem Besitzer des Steinbruchs auf, der sie für Überreste eines Höhlenbären hielt und die größeren Knochenfragmente aus dem Schutt aufsammeln ließ. Anschließend wurden sie dem Elberfelder Lehrer Johann Carl Fuhlrott übergeben. Er erst erkannte auf Anhieb, dass die Überreste (einige Rippen, mehrere Bein- und Armknochen, ein Schädeldach, Becken-Fragmente) einem Menschen zuzuordnen waren, der sich allerdings vom heute lebenden Menschen unterschied. Seine letztlich korrekte Deutung wurde jedoch von den Gelehrten seiner Zeit (unter anderem auch von dem deutschen Pathologen Rudolf Virchow) nicht ernst genommen. Mehr Anerkennung fand Fuhlrotts Deutung in England, wo das um diese Zeit erschienene Werk Charles Darwins den Weg zu einer neuen Denkrichtung bereitet hat.

Dass Virchow den Neanderthaler für einen modernen Menschen hielt, lag vor allem daran, dass dieses Skelett auch rachitisch verformt war, was zu einer falschen Rekonstruktion des Neandertalers (zum Beispiel gebückte Haltung) führte, die erst im 20. Jahrhundert korrigiert wurde.

Heute befindet sich an der Stelle des Fundorts, 14 m unter dem Niveau von 1856 gelegen, ein kleiner Park, der auf die Entdeckung hinweist. Er gehört zum etwa 500 m entfernt liegenden Neanderthal-Museum, das einen Einblick in die Geschichte der Menschheitsentwicklung gibt.

Nachgrabungen im Neandertal unter der Leitung des Tübinger Urgeschichtlers Ralf W. Schmitz und seines Kollegen Jürgen Thissen haben seit 1997 neue, spektakuläre Funde am Standort der ursprünglichen Höhle (51° 13′ 38″ N, 6° 56′ 40″ O51.2272222222226.94444444444457) zutage gefördert. Zum einen konnten weitere Skelettteile des „Ur-Neandertalers“ geborgen werden, zum anderen wurden die Überreste von zwei weiteren Neandertaler-Individuen gefunden. Unter den mehr als 60 Knochen und Knochensplittern konnten die Forscher die Armknochen eines erwachsenen Neandertalers sowie den Milchzahn eines Kindes nachweisen. Die aufgefundenen Knochen und Steinwerkzeuge sind rund 40.000 Jahre alt, was mit dem ersten Fund übereinstimmt.

Im Jahr 2004 wurde aufgedeckt, dass der damalige Leiter des inzwischen aufgelösten Instituts für Anthropologie der Universität Frankfurt, Prof. Reiner Protsch, wiederholt Datierungen von vermuteten Neandertalerschädeln bewusst gefälscht bzw. wissentlich Alterbestimmungen mit grob fehlerhafter Kalibrierung der Geräte durchgeführt haben soll. Der Fall Protsch erweckte weltweites Aufsehen, weil seinetwegen zahllose Fundstücke auf Unstimmigkeiten überprüft werden müssen.

Siehe auch

Quellenangaben

  1. „Der Irrtum des Rudolf Virchow – Vor 150 Jahren wurde der Neandertaler entdeckt“.Deutsche Stiftung Denkmalschutz
  2. Eric Delson, Katerina Harvati: Return of the last Neanderthal. in: Nature. 443.2006, (19. Oktober), S.762f. ISSN 0028-0836 – Jeffery Wall publizierte mit 707.00 Jahren sogar eine noch frühere Trennung: J.D. Wall, S.K. Kim: Inconsistencies in Neanderthal genomic DNA sequences. in: PLoS Genet. San Francisco CA 2007. ISSN 1553-7404 doi:10.1371/journal.pgen.0030175.eor
  3. Eric Delson, Katerina Harvati, S.?
  4. idw-online.de „Geburt war schon bei Neandertalern schwierig“; „Neanderthal brain size at birth provides insights into the evolution of human life history“: PNAS Band 105, Nr. 37, 16. September 2008, S. 13764–13768, doi:10.1073/pnas.0803917105
  5. J. Krause u.a., The derived FOXP2 variant of modern humans was shared with Neandertals. In: Current Biology, 17/2007, S.1908-12. PMID 17949978
  6. M. Inman, Neandertals Had Same „Language Gene“ as Modern Humans. In: National Geographic News, 18. Oktober 2007
  7. „There's no reason to assume that they weren't capable of spoken language, but there must be many other genes involved in speech that we yet don't know about in Neanderthals.“ Svante Pääbo, Co-Autor der Studie zumFOXP2-Gen, zitiert in: New Scientist vom 16. August 2008, S. 40
  8. wissenschaft.de: Schminke für die Neandertaler vom 28. März 2008
  9. Friedemann Schrenk, Stephanie Müller: Die Neandertaler. C. H. Beck, München 2005, S.42. ISBN 3-406-50873-1
  10. F. Schrenk, S. Müller: Die Neandertaler. C. H. Beck, München 2005, S.107. ISBN 3-406-50873-1
  11. Ruth Omphalius: Der Neandertaler. Neues von einem entfernten Verwandten. Rowohlt, Reinbek 2006, S.236. ISBN 3-498-03227-5
  12. Süddeutsche Zeitung. Nr. 154 vom 7. Juli 2006, S. 16
  13. F. Schrenk, S. Müller: Die Neandertaler. C. H. Beck, 2005, S.107. ISBN 3-406-50873-1
  14. zur Übersicht siehe: Erik Trinkaus: European early modern humans and the fate of the Neandertals. PNAS, Band 104, 2007, S. 7367–7372; doi:10.1073/pnas.0702214104
  15. Hong Shang, Haowen Tong, Shuangquan Zhang, Fuyou Chen, Erik Trinkaus: An early modern human from Tianyuan Cave, Zhoukoudian, China. PNAS, Band 104, 2007, S. 6573–6578
  16. Dan Jones: The Neanderthal within. New Scientist, Band 193, 2007, S. 28–32; doi:10.1016/S0262-4079(07)60550-8
  17. Auch neuere Datierungen von Funden aus der Gorham-Höhle (Nature vom 14. September 2006) könnten, sobald sie als gesichert angesehen werden, als Stütze der Vermischungs-Hypothese herangezogen werden. Steinwerkzeuge und Überreste von Kochstellen, die dem Neandertaler zugeschrieben wurden, werden den publizierten Datierungen zufolge auf 24.000 bis 28.000 Jahre geschätzt.
  18. Andrei Soficaru u. a.: Early modern humans from Pestera Muierii, Baia de Fier, Romania. in: Proceedings of the National Academy of Sciences. Washington 2006. ISSN 0027-8424
  19. Bericht über einen weiteren Neandertaler-Fund, dessen individuelle Besonderheiten von Trinkaus gleichfalls als Beleg für seine Mischlingshypothese gedeutet wird.
  20. David L. Reed et. al.: Genetic Analysis of Lice Supports Direct Contact between Modern and Archaic Humans. PLoS Biol. 2(11), 2004: e340, doi:10.1371/journal.pbio.0020340
  21. M. Krings u. a., in: Cell. Cell Press, Cambridge Mass 90.1997, 19–30. ISSN 0092-8674
  22. Nature. London 441.2006 (18. Mai), S.260f. ISSN 0028-0836
  23. Im Originalwortlaut: „This suggests that little interbreeding occurred, at least among the more recent Neanderthal species.“
  24. eurekalert.org:„Erste Version des Neandertaler-Genoms vollendet“
  25. Genom des Neandertalers soll rekonstruiert werden
  26. http://www.nature.com/nature/journal/v444/n7117/full/444254a.html R. Dalton: Neanderthal genome sees first light. in: Nature 444, 16 November 2006, S. 254, DOI 10.1038/444254a
  27. http://www.nature.com/nature/journal/v444/n7117/full/444275a.html David M. Lambert1 & Craig D. Millar: Evolutionary biology: Ancient genomics is born, Nature 444, 16 November 2006, S. 275-276, DOI 10.1038/444275a
  28. Carles Lalueza-Fox u.a.: A melanocortin 1 Receptor allele suggestes varying pigmentation among Neanderthals. Science 318, 2007, S. 1453–1455. Die Autoren der Studie äußern sich sehr zurückhaltend (S.1454): „1% of homozygous Neanderthal individuals may have had reduced pigmentation levels, possibly even similar to the pale skin color and/or red hair observed in modern humans.“

Literatur

  • Michael Bolus, Ralf W. Schmitz: Der Neandertaler. Thorbecke, Ostfildern 2006. ISBN 978-3-7995-9088-4
  • Bärbel Auffermann, Jörg Orschiedt: Die Neandertaler – Auf dem Weg zum modernen Menschen. Theiss, Stuttgart 2006. ISBN 3-8062-2016-6
  • Dirk Husemann: Die Neandertaler - Genies der Eiszeit. Campus, Frankfurt a.M. 2005. ISBN 978-3-593-37642-4
  • Martin Kuckenburg: Als der Mensch zum Schöpfer wurde. Klett-Cotta, Stuttgart 2001. ISBN 978-3-608-94034-3
  • Martin Kuckenburg: Der Neandertaler. Auf den Spuren des ersten Europäers. Klett-Cotta, Stuttgart 2005. ISBN 978-3-608-94137-1
  • Markus Gross (Hrsg.): Neandertaler, Ötzi und mehr …. Aurel, Wegberg 2005. ISBN 3-938759-00-3
  • Ian Tattersall: Neanderthaler. Der Streit um unserer Vorfahren. Aus dem Amerikanischen von Hans-Peter Krull. Birkhäuser, Heidelberg 1999. ISBN 3-7643-6051-8
  • Ina Wunn u.a.: Die Religionen in vorgeschichtlicher Zeit. Kohlhammer 2005. ISBN 3-17-016726-X
  • Ralf W. Schmitz, Jürgen Thissen: Neandertal – Die Geschichte geht weiter. Spektrum, Berlin/Heidelberg 2002. ISBN 3-8274-1345-1
  • Friedemann Schrenk, Stephanie Müller: Die Neandertaler. Beck, München 2005. ISBN 3-406-50873-1
  • D. Serre, A. Langaney, M. Chech, M. Teschler-Nicola, M. Paunovic (u. a.): No evidence of Neandertal mtDNA contribution to early modern humans. In: Public Library of Science Biology. San Francisco CA 2.2004, 3 (März). ISSN 1545-7885
  • Ewe Thorwald: Der Untergang der Neandertaler. in: Bild der Wissenschaft. Konradin, Leinefelden-Echterdingen 2005,6, 16–32. ISSN 0006-2375
  • Thorsten Uthmeier: Späte Neandertaler auf der Krim. in: Archäologie in Deutschland (AiD). Theiss, Stuttgart 2005,6, 62ff. ISSN 0176-8522
  • V.P. Chabai, J. Richter, T. Uthmeier, A.I. Yevtushenko: Neue Forschungen zum Mittelpaläolithikum auf der Krim. in: Germania. Deutsches Archäologisches Institut. Zabern, Mainz 80.2002, 441–473. ISSN 0016-8874
  • Joachim Schüring: Von der anderen Art. in: Abenteuer Archäologie. Kulturen, Menschen, Monumente. Spektrum der Wissenschaft Verl.-Ges., Heidelberg 2006,1, 32ff. ISSN 1612-9954
    (zu Neanderthaler und Homo, out of africa und Genanalyse).
  • Reinhard Ziegler: 150 Jahre Neandertaler. in: Naturwissenschaftliche Rundschau. 59.2006,10, S.529–539. ISSN 0028-1050
  • Karl J Narr und Gerd C Weniger: "Der Neanderthaler und sein Entdecker: Johann Carl Fuhlrott und die Forschungsgeschichte", Neanderthal Museum 2001, ISBN 3-935624-02-6

Filme

  • Neandertaler. (OT: Neanderthal.) Dokumentation in zwei Teilen, Großbritannien, 2000, 100 Min., Regie: Tony Mitchell, Produktion: Wall to Wall Television Ltd., Channel 4, Inhaltsangaben von arte
  • Die Welt der Neandertaler. Dokumentation, 2006, Produktion: Quarks & Co, online (RealVideo)
  • Die Rekonstruktion eines Neandertalers. Dokumentation, 2006, Produktion: Quarks & Co: online (RealVideo), Inhaltsangabe des WDR

Weblinks

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