Sexologie

Sexologie

Die Sexualwissenschaft (auch Sexualforschung, Sexologie bzw. Sexuologie) befasst sich mit der Lehre vom Geschlechtsleben,[1] der Sexualität im weiteren und im engeren Sinne. Die Arbeitsschwerpunkte liegen neben der empirischen Forschung bei den physiologischen, psychischen und soziokulturellen Aspekten der Sexualität sowie der Entwicklung von pädagogischen und therapeutischen Angeboten.[2]

Inhaltsverzeichnis

Beschreibung

Die Sexualwissenschaft ist multidisziplinär und mit ihr befassen sich vor allem Medizin, Andrologie, Gynäkologie, Urologie, Innere Medizin, Biologie, Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Soziologie, Ethologie, Pädagogik, Kulturwissenschaft, Anthropologie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft und Rechtsmedizin. Gegenstand der Sexualwissenschaften sind unter anderem die sexuelle Entwicklung des Menschen, sein Sexualverhalten, Fragen der Sexualerziehung sowie Ursachen, Genese und Therapie von Sexualstörungen.

Im Mittelpunkt stehen die biologisch-sexuellen, die erotischen und die sozialen Bedingungen der menschlichen Intimbeziehungen. Das Interesse gilt sowohl dem so genannten „normalen“ Verhalten, das was jeweils als Soziale Norm erachtet wird, als auch dem außergewöhnlichen Verhalten. Die Unterscheidung fällt aber immer vor dem Hintergrund sich beständig wandelnder gesellschaftlich-kultureller und politischer Normen. Jede Sexualforschung ist letztendlich subjektiv und kann sich nicht auf eine vermeintliche Objektivität beziehen. Dies macht sie risikoanfällig, eröffnet aber zugleich auch Chancen. Nach Sigusch denkt eine seit den 1960ern entstandene kritische Sexualwissenschaft „vom Widerspruch her, geht beidem nach, Licht und Schatten, auch in sich selbst.“[3] Die Hauptaufgaben sieht er darin den Wandel, den man in der Kultur und in den persönlichen Verhältnissen beobachten kann zu erforschen und danach für die Störungen und Suchtformen Beratungs- und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.[4] Die Sexualwissenschaft hat auch immer ein praktisches, gesellschaftspolitisches Interesse und will etwas für die Menschen bewirken.

Geschichte

Vorläufer und Anfangsbedinungen

Vorläufer der Sexologie gibt es schon in der griechischen und römischen Antike, wo Philosophen wie Platon (428-348 v. Chr, gr.) und Aristoteles (384-382 v. Chr, gr.) und Ärzte wie Hippokrates von Kos (460-370 v. Chr., gr.), Soranos von Ephesos (ca. 100 n. Chr., röm.) und Galenos (129-216 n. Chr., röm.) Fragen der Sexualerziehung, Sexualgesetzgebung, Sexualethik, der sexuellen Reaktionen und Funktionsstörungen, der Fortpflanzung und Empfängnisverhütung diskutierten. Gemeinsam hatten sie, dass sie sich um theoretisches Wissen, also objektive, rationale Einsicht in biologische und soziale Tatsachen und Vorgänge bemühten. Dies im Gegensatz zu Werken, welche die ‚Liebeskunst‘ beschrieben und Anleitungen zum praktischen Tun, zu einem subjektiven und persönlichen Erleben, wie etwa Ars amatoria von Ovid (43 v. Chr - 17 n. Chr., röm.) oder dem Kama Sutra von Mallanaga Vatsyayana (etwa 250 n. Chr.).[5]

Arabische und jüdische Wissenschaftler wie Abu Bakr Muhammad Ibn Zakariya ar-Razi, Avicenna, Averroës, Moses Maimonides und andere setzten die wissenschaftliche Tradition fort.[6] In der Renaissance macht die wissenschaftliche Tradition auch in Europa wieder wesentliche fortschritte und Leonardo da Vinci wird zum Vater der modernen Anatomie. Er beschreibt dabei auch die inneren Sexualorgane, Coitus und Schwangerschaft und liefert davon genaue anatomische Zeichnungen. Danach veröffentlicht der Anatom Andreas Vesalius das erste exakte Lehrbuch der menschlichen Anatomie, Gabriele Falloppio beschreibt erstmals die Eileiter und verfasst die erste gesicherte Beschreibung der Syphilis, Reinier De Graaf beschreibt als erster die Ovarialfollikel und die Weibliche Ejakulation, Caspar Bartholin der Jüngere die Scheidenvorhofdrüse, William Cowper die Cowper-Drüse, 1642 schreibt der römische Arzt J. B. Sinibaldus mit Genanthropoeia ein umfassendes Lehrbuch, das auch die sexuelle Anatomie und die erotische Stimulation behandelt und 1677 sieht Antoni van Leeuwenhoek erstmals eine Spermazelle unter dem Mikroskop.[7]

Carl von Linné führte 1735 mit dem Werk Systema Naturae sein heute veraltetes Klassifizierungssystem von Pflanzen nach dem Charakter und der Anzahl ihrer Fortpflanzungsorgane ein, den methodus sexualis (→Sexualsystem der Pflanzen). Es beeindruckte Gelehrte und wurde von Moralisten heftig angegriffen, da es z.B. bei der gleichen Blüte die Kohabitation eines männlichen Staubgefäßes mit mehreren weiblichen Stempeln beschreibt. Es wurde als Verleumdnung Gottes angesehen, der unmöglich eine solche Unkeuschheit hat erschaffen können und Lehrer wurden beschworen das System nicht im Schulunterricht zu erwähnen.[8]

Vorstufen einer Neuordnung des Wissens auf diesem Gebiet waren die ausufernden Antimasturbations-Kampagnen ab dem 17. Jahrhundert. An der dabei hervorgebrachten Literatur lässt sich ablesen, wie sehr die moderne Erfindung der Sexualität einherging mit ihrer Regulierung und Disziplinierung durch schwarze Pädagogik und ebenso schwarze Medizin.[3] Der Quacksalber und Schriftsteller John Marten veröffentlichte in England 1712 sein Pamphlet Onania, welches nach und nach in alle europäische Sprachen übersetzt wurde. Darin wurde behauptet, dass exzessive Masturbation vielfältige Krankheiten wie Pocken und Tuberkulose verursachen könne. Gleichsam als Bibel der Antimasturbations-Kampagne kann die ab 1760 in unzähligen Auflagen verbreitete Schrift L'Onanisme des Lausanner Arztes Simon-Auguste Tissot gelten. Für die nächsten 150 Jahre wurde die Angst vor dem „Masturbationswahnsinn“ zu einem beherrschenden Thema der Gesundheitsvorsorge und der Sexualerziehung von Jugendlichen. Etwas später widmen sich deutsche Pädagogen wie J. Oest and J. H. Campe dem Kampf gegen die sexuelle Selbstbefriedigung.[8]

Der Genfer Pädagoge Jean-Jacques Rousseau veröffentlichte 1762 seinen einflussreichen Erziehungsroman Emile oder über die Erziehung, indem er die Bewahrung sexueller Unschuld bei Kindern und Jugendlichen verlangt. Der schottische Chirurg John Hunter veröffentlichte 1786 in seinem Buch A Treatise on the Venereal Disease („Abhandlung über venerische Krankheiten“) zum ersten Male eine ausführliche wissenschaftliche Sexualtherapie gegen Impotenz. Die englische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft veröffentlichte 1792 ihr Buch A vindication of the rights of woman, worin sie weibliche Gleichberechtigung sowohl im privaten Bereich, als auch im öffentlichen Leben forderte und die angeblich 'natürliche' weibliche Geschlechtsrolle als Produkt einer patriarchalischen Ideologie entlarvte.[8]

1798 veröffentlichte der englische Geistliche Thomas Malthus sein Essay über das Prinzip der Bevölkerung, wo er vor einer Übervölkerung des Planeten warnt.[8] Geschockt von der Bevölkerungsexplosion in England veröffentlicht Francis Place 1822 Principles of Population, wo er sich für Geburtenkontrolle und Empfängnisverhütung aussprach. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sind weitere bedeutende Vertreter dieser Forderungen: Charles Bradlaugh, Annie Besant, Charles Knowlton, Charles Drysdale und Alice Drysdale Vickery. Es steckt auch der Versuch dahinter, das Los der durch die vielen Geburten erschöpften Arbeiterfrauen zu verbessern, was von Karl Marx und Friedrich Engels nicht unterstützt wird.[9]

Der Berliner Wilhelm von Humboldt (1767-1835) skizzierte 1826-1827 den Plan für eine „Geschichte der Abhängigkeit im Menschengeschlechte“, die man heute durchaus als sexualwissenschaftlich bezeichnen kann, welche aber nie erschien. Der Plan umfasste neben speziellen Themen wie „Die Geschichte des Zeugungstriebes“ und „Geschichte der Hurerei“ auch Themen, welche das Verhältnis der Geschlechter zueinander insgesamt untersuchten, indem er der historisch-politisch erzeugten größeren Abhängigkeit der Frauen die relativ größere Freiheit der Männer gegenüberstellte.[5] Er klassifiziert auch erstmals wertfrei das menschliche Sexualverhaltens nach seinen vier möglichen möglichen Zielobjekten: 1.) Selbst, 2.) anderes Geschlechts, 3.) gleiches Geschlecht, 4.) Tier. Ebenfalls 1826 entdeckte Karl Ernst von Baer die Eizelle und 1837 liefert Parent-Duchatelet mit De la prostitution de la ville de Paris die erste große Studie über Prostitution.[9] Im beginnenden 19. Jahrhundert gibt es auch eine Anzahl an Hygiene- und Ehe-Ratgeber.

Von der religiösen Sünde zur medizinischen Perversion

Thomas von Aquin (1225-1274), einer der einflussreichsten Theologen des Mittelalters, fasste die gesamte Sexualethik in einer dreifachen Faustregel zusammen. Danach erlaubte Gott sexuelle Handlungen nur: erstens mit dem richtigen Partner (d. h. dem Ehepartner), zweitens auf die richtige Weise (d. h. durch Koitus) und drittens zum richtigen Zweck (d. h. zur Fortpflanzung).[10]

Michel Foucault sieht ab dem 19. Jahrhundert den schleichenden Übergang von der Ars erotica („erotische Kunst“) zur Scientia sexualis („Sexualwissenschaft“), welche charakterisiert ist durch eine Vermehrung der Diskurse über den Sex und als Folge daraus einer gleichzeitigen Tabuisierung desselben. Aus der christlichen Beichte entwickelte sich eine neue Form des Geständnisses und im Gegensatz zum Pastor wird es nicht gleich wieder vergessen, sondern fein säuberlich analysiert.[11] Es kommt zu einer „Medikalisierung der Sünde“, die Psychiatrie wird zur neuen moralischen Inquisition.[9]

1823 veröffentlichte Hermann Joseph Löwenstein seine Dissertation De mentis aberrationibus ex partium sexualium conditione abnormis oriundis („Über die aus dem abnormen Zustand der Geschlechtsteile herrührenden Verwirrungen des Geistes“) und 1826 Joseph Häussler sein Werk Über die Beziehungen des Sexualsystems zur Psyche überhaupt und zum Cretinismus ins Besondere.[12]

Der ungarische Arzt Heinrich Kaan veröffentlichte 1844 in Leipzig seine 124 Seiten starke lateinische Schrift Psychopathia sexualis. Sie steht in der Tradition der vorhergegangegnen ‚Onanie-Literatur‘, es war für ihn die Wurzel aller anderen Abweichungen des Geschlechtstriebes. In ihr wurden die Sündenvorstellungen des Christentums in medizinische Diagnosen umgewandelt. Die ursprünglich theologischen Schimpfwörter „Perversion“, „Aberration“ und „Deviation“ wurden so erstmals Teil der Wissenschaftssprache.[9] Bei Kaan galt bereits der heterosexuelle Beischlaf als psychopathologisch, wenn ihn ‚gewollte’ Phantasien begleiteten. Ausschweifende Phantasie war für ihn die wichtigste Ursache aller ‚verirrten’ Begierden. Er konstruiert darin noch keine Identitäten, die sich auf pathologisch qualifiziertes Begehren begründen, aber er spekulierte schon über erbliche Faktoren als Disposition zur Entstehung von widernatürlichen Begierden.[13]

Hatte Prosper Lucas in L’Hérédité naturelle (1847–1850) noch Probleme mit der Vererbung psychischer und psychopathologischer Merkmale, so gelingt dies scheinbar Bénédict Augustin Morel mit seiner 1857 erschienen Schrift Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine („Abhandlung über die physischen, intellektuellen und moralischen Entartungen des Menschengeschlechts“). Gegenüber früheren Verwendungen, etwa in der Zoologie, Pathologie oder Ethnologie ist seine Verwendung des Begriffs dégénérescence („Degeneration, Entartung“) Ausdruck seines religiösen Weltbildes. Seine Degenerationstheorie ist moraltheologischen Ursprungs. Grundursache allen Übels sei der Sündenfall, mit dem Bösen sei die Entartung in die Welt gekommen. Ein Teil der Menschen schafft es sich anzupassen und bleibt dem ‚type primitif‘ (Adam) ähnlich. Bei Entarteten führen Umwelteinflüsse zu fortschreitender Degeneration. Die ist erblich und unterliegt dabei einer Progressivität, welche immer schlimmere Krankheiten hervorruft und letztendlich zur völligen Unfruchtbarkeit führt. Mit der Progressivität begründete er auch die scheinbar zunehmende Häufigkeit von Entartungen. Abweichungen des Geschlechtssinns gehörten für ihn zu den schwersten Degenerationen.[13] Die Theorien verbreiten sich sehr rasch sowohl in Wissenschaft, als auch in der Öffentlichkeit. Bald konnte sich ein jeder auf die “natürlichen Gesetze“ berufen und die progressive Degeneration wurde zu einer offenkundigen Tatsache, die auf Schritt und Tritt sichtbar war: Alkoholismus, Armut, Kriminalität, volle Nervenheilanstalten.

In der deutschsprachigen Psychiatrie wurde Morels Degenerationsbegriff zunächst bis etwa 1880 entgegen der französischen Tradition von einer Zivilisationskritik entkoppelt rezipiert. Der Degenerationsbegriff von Wilhelm Griesinger in der 1961 erschienenen 2. Auflage seines Werkes Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten legitimierte „die Ausdehnung des Geltungsbereichs psychiatrischer Deutungen von sozial abweichendem Verhalten“ und „erlaubt die Thematisierung von psychopathologischen Übergangsformen zwischen gesunden und kranken Zuständen“. Auch wurden „viele Formen abweichenden Verhaltens, die bisher nicht als krankhaft galten, in die neue Sammelkategorie Degeneration eingegliedert“. Valentin Magnan, der in den Übersetzungen von Paul Julius Möbius in den 1880ern in Deutschland verbreitet wurde, nahm an, dass Degeneration auch durch „starke‚ zufällige() Einflüsse()‘“ bei einem „gesunde(n), normale(n) Mensch(en)“ entstehen könnte. Jacques Joseph Valentin Magnan (1835–1916) nimmt Morels Lehre auf, ersetzt aber den anthropologisch-religiösen Ausgangspunkt durch eine evolutionstheoretische Teleologie. Er unterstellte einen Drang aller Arten zur Perfektion und stellte den Idealtyp an das Ende der Entwicklung. Immanente Störelemente führten nicht nur zu einer Hemmung, sondern einer qualitativen Veränderung dieses Perfektionsprozesses, zur Umkehrung der Entwicklung, zur Regression.[14][13]

Die Thematisierung des Zusammenhangs zwischen modernen Lebensbedingungen und psychischen Krankheiten wurde in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch im deutschsprachigen Raum zunehmend durch Kollektivierung und Politisierung gekennzeichnet. 1886 prägte der bedeutendste Entartungstheoretiker Krafft-Ebing den Terminus vom „nervösen Zeitalter“. Zunächst unabhängig von der Degenerationstheorie konstruierte Zivilisationskrankheiten werden mit ihr verbunden. Es wurde nicht mehr nur die Entartung von Individuen diagnostiziert, sondern der gesamten Kultur. Die schwere psychische Erkrankung sexuell Perverser drückte sich auch durch Ausdrücke wie „moralische Idiotie“ und „originärer moralischer Schwachsinn“ aus.[13]

Im 19. Jahrhundert legten Ambroise Tardieu, Johann Ludwig Casper und Carl Liman die Fundamente für die moderne Rechtsmedizin als empirisch fundierte Wissenschaft. Dazu zählen auch die Vergehen gegen die Sittlichkeit. Tardieu veröffentlicht 1857 in Paris Etude médico-légal sur les attentats aux moeurs, welche 1860 unter dem Titel Die Vergehen gegen die Sittlichkeit in staatsärztlicher Beziehung auf deutsch erscheint. Darin heißt es unter anderem:

„Ich will nicht versuchen, das Unbegreifliche begreiflich zu machen und den Ursachen der Päderastie [damaliger Ausdruck für Homosexualität] nachzuforschen. Man darf aber wohl fragen, ob diesem Laster etwas Anderes als blosse moralische Verderbtheit zu Grunde liegt, ob es eine Form der Psychopathia sexualis ist, deren Beschreibung wir Kaan verdanken. Nur die zügelloseste Ausschweifung, die vollkommenste Abstumpfung gegen sinnliche Genüsse kann es erklärlich machen, dass Familienväter sich der Päderastie ergeben und neben Frauen auch noch diese Widernatürlichkeiten geniessen.“

Tardieu: 1860

Casper veröffentlichte 1858 in Berlin das Handbuch der gerichtlichen Medizin und der Arzt Paul Moreau (de Tours) veröffentlicht 1877 seine erste Aufflage des Werks Des aberrations du sens génésique („Die Abweichungen des Geschlechtstriebs“), eine der ersten „wissenschaftlichen“ Studien zur sexuellen Ausschweifung, welche wiederholt von Krafft-Ebing zitiert wird und von Moll kritisiert wird. Der in St. Petersburg arbeitende Syphilis-Experte Benjamin Tarnowsky veröffentlicht 1886 in Berlin seine Monographie Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns, wo er das häufige Vorkommen sexueller Perversionen vermerkt.

Im selben Jahr erscheint auch die erste Ausgabe der Psychopathia sexualis des österreichischen Psychiaters und Kriminal-Psychologen Richard von Krafft-Ebing. Bis 1924 erscheinen 17 überarbeitete Ausgaben und es wird in sieben Sprachen übersetzt. Sie wird zu einem Standardwerk, aber auch ein weit über die Fachgrenzen hinaus bekannter berühmt-berüchtigter Bestseller. Krafft-Ebing drückte in der Psychopathia sexualis die Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses am Ende des 19. Jahrhunderts aus und bot zugleich eine psychiatrische Diagnose und Deutung individueller und kollektiver Befindlichkeiten.[13] Er wendet sich gegen eine ausschließlich strafrechtliche Sanktionierung sexueller Pathologien und dass die Unzuchtstäter meist für voll zurechnungsfähig befunden werden. Er wirft der Rechtsprechung vor nur die Tat, nicht aber den Täter strafrechtlich zu würdigen. Er plädiert für eine stärkere Verankerung psychiatrischer bzw. medizinischer Gutachten. Er wirbt für die Entkriminalisierung psychisch Kranker, aber auch gleichzeitig für ihre Pathologisierung. „Die concrete perverse Handlung“ war für Krafft-Ebing nicht entscheidend, "„so monströs sie auch sein mag“. Vielmehr ging es ihm um eine „Unterscheidung zwischen Krankheit (Perversion) und Laster (Perversität)“ - und zwar auf Basis der „Gesamtpersönlichkeit des Handelnden“.[15] Nach der Veröffentlichung erhält er auch hunderte Briefe von Betroffenen, die sich vertraulich an ihn Wenden. Foucault sieht darin die ersten Opfer des medikalisierten Sexdiskurses. Nach dem Historiker Harry Oosterhuis sind sie nun auch eigenständige Subjekte, die erst durch Krafft-Ebings Buch erfuhren, dass sie mit ihrer Neigung nicht alleine auf der Welt sind.[16] Von Alfred Kind wird es 1908 als eine „rudimentäre Form der Moraltheologie“ bezeichnet.[17] Krafft-Ebing schreibt darin auch das von der Moraltheologie übernommene Dogma: „Als pervers muss jede Aeusserung des Geschlechtstriebs erklärt werden, die nicht den Zwecken der Natur, i.e. der Fortpflanzung entspricht.“ Alles andere wird pathologisiert. Im Vegleich zu Thomas von Aquin entfiel einzig die zwingende Ehe.

Pioniere

„Wie die Sexualform, die wir haben, ist die sexuelle Frage unterm Strich eine Frucht des Kapitalismus. Beide konnten nur heranreifen und abfallen, weil die Not der Menschen nicht mehr überwiegend Hungersnot war und gleichzeitig alle menschlichen Vermögen und Kräfte isoliert und als solche fetischisierend vergesellschaftet wurden.“

Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft, 2008, S. 17

Im 18. Jahrhundert tauchte das Adjektiv sexuell auf und Anfang des 19. Jahrhunderts der Begriff Sexualität. Zunächst wurden sie für die Geschlechtlichkeit von Pflanzen, dann in der Zoologie und schließlich beim Menschen verwendet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts begann sich der umfassende Begriff Sexualität allgemein einzubürgern. Die verschiedenen Komponenten zahlreicher Verhaltensweisen und Erscheinungen waren in dieser - gleichzeitig isolierenden und komprimierenden - Form zuvor nicht abstrahiert worden waren. Um 1850 beginnt die Geschichte der Sexualwissenschaft. Pioniere waren Paolo Mantegazza (1831 - 1910) und Karl Heinrich Ulrichs (1825 - 1895), sie waren beide ihrer Zeit weit voraus und veröffentlichten unabhängig voneinander mehrere Texte und Bücher über Liebe, Lust und Geschlechterfragen.[3]

Der katholische Norditaliener Mantegazza sprach von „dieser Wissenschaft“ oder auch von der „Wissenschaft der Umarmungen“ und seine Werke wurden auch in Deutschland zu Bestsellern. Sigusch nennt ihn einen „Poetosexuologen“. Er schrieb über die Physiologie der Liebe. Mantegazza legte eine experimentalphysiologisch, kulturanthropologisch und sozialhygienisch, gelegentlich auch sozialphilosophisch orientierte Phänomenologie der heterosexuellen Liebe vor, die laut Sigusch „in der Geschichte der Sexualwissenschaft ihresgleichen sucht“. Er führte bereits naturwissenschaftliche Tier- und Menschen-Experimente durch und berichtet über statistisch-empirische und ethnologische Recherchen zu Schädelmaßen, Stillzeiten oder Suizidraten. 1886 legte er auch seine „Anthropologisch-kulturhistorische Studien über die Geschlechtsverhältnisse des Menschen“ vor, ein Ergebnis seiner Reisen etwa nach Argentinien, Ostindien und Lappland. Er war ein glühender Freund des weiblichen Geschlechts, erklärte Frauen als den Männern an Liebes- und Wollustpotenz überlegen und war davon überzeugt, dass sie eines Tages auch im Alltag gleichberechtigt gegenüberstehen würden. Einzig nahm er an, dass Frauen nicht so intelligent wären wie Männer. Als aufgeklärter Moralist verachtete er vor allem die „falschen Puritaner“ und „Tartüffe im kleinsten Format“. Er wollte den „trüben, stinkenden Nebel der Heuchelei“ beseitigen, „welcher uns alle einhüllt und zu gleicher Zeit nach Bordell und Sakristei riecht“, und beschwor die „keusche und heilige Nacktheit“ der Griechen, die er den „krankhaften Wollüsten unsres Jahrhunderts“ entgegenhielt. Unmodern war er, wenn es um Masturbation, Homosexualität und Oralverkehr ging, hier begann der Pionier der „gesunden und normalen“ Liebe zu stammeln: „angeborene Gehirnschwäche“. Trotz seiner Tribute an den wissenschaftlichen Zeitgeist (Darwinismus, Hygienediskurs) dominiert bei ihm ein erfrischender Hedonismus. Modern für seine Zeit waren auch seine Forderungen nach eugenischen Maßnahmen, wenn er durch „die Auswahl guter Erzeuger“ nach und nach „die Häßlichen und Schlechten fortschaffen“ wollte, um „unsere Rasse schrittweise und langsam (zu) verbessern“.[3][18][19]

Der protestantische ostfriesische Gelehrte Ulrichs ist ein Pionier der Schwulenbewegung, „der erste, gewissermaßen historisch vorzeitige Schwule“. Er war der erste, der eine wissenschaftliche Theorie für das formulierte, was heute Homosexualität genannt wird. Er glaubte an die Existenz eines drittens Menschengeschlechts, den Urning und die Urninde, daran dass in einem männlichen Urning eine weibliche Seele sitze, an eine Angeborenheit seiner Neigung - wie schon Heinrich Hössli, aber noch ohne dessen Schriften zu kennen - und erstmals manifestiert sich das Bewusstsein, dass sein eigenes sexuelle Empfinden ein integrativer Bestandteil der Persönlichkeit ist. Er trug dazu bei, dass der Homosexuelle zunehmend als eigenständiger Typus wahrgenommen wurde. Er kämpfte selbstbewusst um die Anerkennung der mannmännlichen Liebe, gegen die Strafbarkeit und versuchte das Phänomen zu erklären und schuf eine Einteilung, die in etwa unserer sexuellen Orientierung entspricht. Seine Wortschöpfung Uranismus gelangte unübersetzt bis nach Japan. Er sprach der „dionäischen Majorität“ (heterosexuelle Mehrheit) das Recht ab „die menschliche Gesellschaft ausschließlich dionäisch zu konstruiren“ und stellte sich gegen das Vorurteil der Widernatürlichkeit und seiner mörderischen Konsequenzen solange der Satz „Wessen Geschlechtsorgane männlich gestaltet sind, dem ist geschlechtliche Liebe zum weiblichen Geschlecht angeboren“ nicht für ausnamslos alle Männer bewiesen sei. Er versuchte auch mit Uranus eine Zeitschrift für die Interessen des Uranismus herauszugeben, es erschien jedoch nur ein Heft 1870.

Ein außerewöhnlich großes Forschungsinteresse gilt der Homosexualität, die zur Modellperversion avanciert: Zwischen 1898 und 1908 lassen sich allein über hundert einschlägige deutsche Publikationen zu dieser Problematik nachweisen.[15]

Ende des 19. Jahrhunderts beginnt die Psychoanalyse die Sexualpathologie zu verändern. Freuds Erkenntnisse sind nicht neu, sondern Synthesen bereits existierender Theorien. Weiters vollzieht er eine radikale Abkehr vom biologischen Determinismus sexualpathologischer Prägung. Er löst sich auch von einer fixen Unterscheidung zwischen perversen Naturen und normalen Individuen und postuliert stattdessen ein Kontinuum zwischen ‚gesundem‘ und ‚krankem Sexualtrieb‘. Er geht davon aus, dass die Anlagen zu Perversionen beim einzelnen unterschiedlich stark ausgeprägt seien und hinsichtlich ihrer Intensität von Umwelteinflüssen abhängig seien.

Etymologie und Etablierung als Wissenschaftszweig

Das erste Mal taucht der Begriff Sexualwissenschaft 1898 eher beiläfig in Sigmund Freuds Aufsatz Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen auf, welcher in der Wiener Klinischen Rundschau erschien. Er fand, dass sie leider noch als unehrlich gelte.[20] Auch der Lebensreformer Karl Vanselow verwendete 1905 den Begriff bei der Gründung seiner Vereinigung für Sexualreform, wo er als eines ihrer Ziele die „Errichtung einer Zentralstelle für Sexualwissenschaft unter Leitung berufener Fachgelehrter“ sah.[21]

Der Berliner Dermatologe Iwan Bloch veröffentlichte 1906 sein Werk Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur.[20] Er fordert darin die Etablierung einer „Sexualwissenschaft“ als eigenständige Forschungsrichtung, welche die Methoden und Einsichten der Natur- und der Geisteswissenschaften in sich vereinen soll. Im Vorwort zu Die Prostitution aus dem Jahre 1912 machte Bloch geltend, dass „der Name und Begriff einer umfassenden ‚Sexualwissenschaft‘“ im Jahre 1906 von ihm gebildet und in die Wissenschaft eingeführt wurde. Diese Feststellung wiedeholte er auch in späteren Werken und sie wurde von anderen anerkannt, auch wenn es bei der Begriffsbildung falsch ist. In einer Rezension zu Blochs Buch charakterisierte der Schriftsteller und Verleger Georg Hirth 1907 unter der Überschrift „Sexualwissenschaft!“ die Sexualwissenschaft als „die letzte und jüngste aller Wissenschaften, trotzdem die Wichtigste“. Im selben Jahr ermunterte der Psychologe Willy Hellpach in einer positiven Kritik Bloch dazu sein Buch zu einem „Handbuch für Sexualwissenschaft“ auszuweiten, welches „auch dem Psychologen und Psychopathologen die größten Dienste leisten können“ werde. Die Idee wurde später von Bloch aufgegriffen.[22] Hermann Rohleder machte sich, wahrscheinlich unabhängig von Bloch, 1907 für die Etablierung einer Sexologie oder Geschlechtswissenschaft stark.[23][24]

Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt die Sexualforschung dann ihre erste und zugleich größte Blüte als wissenschaftliche Disziplin. 1908 gründete der Berliner Mediziner Magnus Hirschfeld die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft[20] Als Mitherausgeber gewinnt er den österreichischen Ethnologen Friedrich Krauss. Dies soll von vornherein den fächerübergreifenden Charakter signalisieren. Die Autoren des ersten und einzigen Jahrgangs kamen aus Deutschland, Österreich, Polen, Italien und der Schweiz.[5] Ebenfalls 1908 gibt Max Marcuse die Zeitschrift Sexual-Probleme - Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik heraus. 1909 wurden sie vereinigt.[20] Ebenfalls seit 1908 führte Rohleder im Reichsmedizinalanzeiger eine Rezensionsrubrik Sexualwissenschaft.[23] 1913 wurde in Berlin die Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft (ÄGeSe) gegründet, welche noch im selben Jahr den Namenszusatz „... und Eugenik“ bekam. Vorsiztender war Albert Eulenburg, Stellvertreter waren Iwan Bloch und Magnus Hirschfeld. Ein dreiviertel Jahr später entstand ebenfalls in Berlin, als eine Art Konkurrenzunternehmen, die Internationale Gesellschaft für Sexualforschung (InGeSe) mit Julius Wolf als Vorsitzenden und Albert Moll als Stellvertreter.[22]

Das erste Institut für Sexualwissenschaft wurde 1919 von Hirschfeld errichtet. Es war eine privat finanzierte Mischung aus «Aufklärungszentrale, Beratungsstelle und Zufluchtsstätte», in der zeitweise auch Walter Benjamin und Ernst Bloch Untermieter waren. Er organisierte 1921 in Berlin den ersten sexualwissenschaftlichen Kongress, eine Internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage. Dieser führte 1928 in Kopenhagen zur Gründung einer Weltliga für Sexualreform mit Hirschfeld, Auguste Forel und Havelock Ellis als erste Präsidenten. Weitere Kongresse der Liga fanden 1929 in London, 1930 in Wien und 1932 in Brünn statt. Auch Rivale Moll organisierte mit der InGeSe 1926 einen großen Kongress in Berlin. Ein zweiter Kongress dieser Gesellschaft fand 1930 in London statt.[25]

NS-Zeit und USA

Nach Volkmar Sigusch ist es nicht verwunderlich, dass viele Personen der Sexualwissenschaft wie Bloch, Moll, Marcuse oder Hirschfeld Juden waren. Dort konnten „wegen deren ‚schmutziger’ Materie jüdische Ärzte am ehesten eine Karriere machen“ und wurden auf diese Weise von den „sauberen, männlichen Fächern ferngehalten“.[26] Auch gibt es bei näherer Betrachtung unterschiedliche Bilder von Sexualität in der jüdischen und christlichen Tradition. Die jüdische Religion kennt keine Verurteilung von Sexualität und sexueller Befriedigung, wie sie in vielen Epochen das christliche Denken dominiert hat. Sexualität wird als conditio humana betrachtet. Und es kann die damalige Fülle antisemitischer Sexualbilder (Mädchenhändler, Rassenschänder) dazu beigetragen haben, das Interesse der Juden auf die Sexualwissenschaft zu lenken.[27] Der bekannteste war Hirschfeld und den Nationalsozialisten dreifach verhasst: Er war Jude, Sozialist und homosexuell.[26] Er wurde schon 1920 zusammengeschlagen und für tot liegengelassen, und ab 1930 konnte er in Deutschland seines Lebens nicht mehr sicher sein, reiste um die Welt und ging direkt ins Exil.[25] Bereits am 6. Mai 1933 wurde sein Institut geplündert und am 10. Mai seine Schriften, zusammen mit jenen anderer Autoren verbrannt. Auch viele andere Wissenschaftler flohen aus Deutschland. So wurde die Sexualwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus und lange danach erheblich beeinträchtigt. Sie wird dort vor allem auf eugenische Aspekte reduziert und als pseudowissenschaftliches Argument für den Rassenwahn missbraucht. Bis heute hat sie sich nicht wirklich davon erholt und einen Status wie vor dem zweiten Weltkrieg erreicht.

Ernsthafte Sexualforschung findet ab nun im Ausland statt, vor allem in den USA. Vertriebene jüdische Wissenschaftler haben großen Einfluss auf die Fachgesellschaften, sie arbeiten aber eher psychoanalytisch und therapeutisch, nicht empirisch.[28] Zu den emigrierten Sexualwissenschaftlern gehörten Hans Lehfeldt, späterer Mitbegründer der Society for the Scientific Study of Sexuality, Ernst Gräfenberg 1940 auf Intervention der internationalen Gesellschaft für Sexologie, nachdem er 1937 verhaftet worden war. Harry Benjamin befand sich schon seit dem ersten Weltkrieg in den USA.[29] Teilweise gab es aber auch dort wenig Geld für bestimmte Forschungen. Über die Rockefeller-Stiftung wurden ab 1914 Mittel zur Verfügung gestellt, die Familie Rockefeller war an der Förderung der Sexualwissenschaft interessiert. In den 1920ern wurde die Unterstützung noch deutlicher angeboten und führte dann zur Schaffung eines sexologischen Komitees im Nationalen Forschungsrat. Dieser erwies sich jedoch bald als Bremse der gewünschten Forschung. Die wissenschaftlichen Mitglieder, welche das Geld verteilten, stellten sicher, dass es nur für „respektable“ biologische Untersuchungen verwendet wurde. Eine Erforschung der menschlichen Sexualität fand nicht statt, sie wurde von den traditionellen Akademikern absichtlich verhindert und besonders verdächtig galt die sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Sie vermieden den Kontakt zu den damaligen deutschen Sexologen, sprachen sich gegen eine sexualwissenschaftliche Zeitschrift aus und legten auch keine Spezialbibliothek an. Auch als Hirschfeld 1930/1931 in die USA reiste vermieden sie jeden Kontakt mit ihm. Die Rockefellers konnten sich nicht direkt einmischen, da sie bei diesem kontroversen Thema auf die „Experten“ angewiesen waren. Mit der Zeit wurde die dauernde Zweckentfremdung jedoch peinlich und es gab die Angst alles zu verlieren. So sah man sich doch nach einem echten Sexualwissenschaftlichen Projekt um und stieß auf den Biologen Alfred C. Kinsey. Als heterosexueller Familienvater an einer ländlichen Universität schien er relativ harmlos. Kinseys Erfolg war jedoch ein zweischneidiges Schwert. Seine Reports erregten den Unmut konservativer politischer und religiöser Kreise, vor allem deshalb, weil ein voher unvermutetes Ausmaß sexuellen Verhaltens dokumentiert wurde.[30] Noch stärker wurden die Anfeindungen als der Report über die Frauen erschien. Kinsey wurde unterstellt unter Kommunistischem Einfluss zu stehen, was einen in der McCarthy-Ära in starke Bedrängnis brachte. Nachdem die Regierung drohte der Rockefeller-Stiftung die Steuervergünstigungen zu entziehen, strich sie Kinsey 1953 die Mittel und förderte stattdessen einige seiner schärfsten Kritiker.[31] Die Stiftung wurde zusammen mit ähnlichen Stiftungen durch feindselige Kongressuntersuchungen behelligt. Das Kinsey-Institut besteht weiter, wurde später auch teilweise aus Bundesmitteln unterstützt, fand aber nicht mehr zu seiner ursprünglichen Linie zurück.[30]

Europa nach 1945

Ab Ende der 1960-Jahre gewannen Personen wie Volkmar Sigusch, Gunter Schmidt, Eberhard Schorsch, Martin Dannecker und Günter Amendt konkordant zum gesellschaftlichen Wandel an Bedeutung. Das 1996 gegründete Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Humboldt-Universität in Berlin betrachtet sich ebenfalls in der Tradition der deutschen Sexualwissenschaft.

Forscher und Theoretiker

Bekannte Sexualforscher und Sexualtheoretiker:

Übersicht: Verschiedene sexualwissenschaftliche Ansätze sowie ihre Vertreter [32]

psychologisch-theoretische Ansätze

naturwissenschaftlich-empirische Ansätze

sozialwissenschaftlich-empirische Ansätze

Siehe auch

Literatur

  • E. J. Haeberle: Die Sexualität des Menschen. Handbuch und Atlas. Berlin/New York 1983, 1985
  • Samantha Marcuse, Max Meyer (Hg.): Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Enzyklopädie der natur- und kulturwissenschaftlichen Sexualkunde des Menschen. Marcus & Webers, Bonn 1923, 2. stark verm. Aufl. 1926; 2001 als Neuausgabe mit einer Einleitung von Robert Jütte. De Gruyter, Berlin 2001, ISBN 3-11-017038-8
  • Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag 2005
  • Volkmar Sigusch: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart und New York: Thieme Verlag 2007
  • Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2008. ISBN 978-3-59338-575-4
  • Arthur Kronfeld: Sexualpsychopathologie. In: Gustav Aschaffenburg (Hg.): Handbuch der Psychiatrie. Spez. Teil, 7. Abt., 3. Teil. Deuticke, Leipzig und Wien 1923 (s. Lit.)
  • Ursula Ferdinand, Andreas Pretzel, Andreas Seeck (Hg.): Verqueere Wissenschaft? Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart. Bd. 1, LIT-Verlag 1998, ISBN 3-8258-4049-2
  • Projekt Gutenberg-DE: Bibliothek der Sexualwissenschaft. 36 Klassiker der Sexualwissenschaft als Faksimile auf DVD. Verlag Hille & Partner. ISBN 978-3-86511-524-9

Zeitschriften

  • Zeitschrift für Sexualforschung, seit 1988
  • GLQ : a journal of lesbian and gay studies, seit 1993
  • Journal of the History of Sexuality, seit 1990
  • Journal of Homosexuality, seit 1955

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Otto Dornblüth: Klinisches Wörterbuch, 13/14 Auflage, 1927, „Sexuologie
  2. Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG (Hrsg.): Meyers Lexikon online, „Sexualwissenschaft“, Version vom 2. Oktober 2008 23:02, ehemals unter: lexikon.meyers.de/beosearch/permlink.action?pageId=48309913&version=2
  3. a b c d Hans-Martin Lohmann: Geschichte der Sexualität - Vom Widerspruch her gedacht (Buchbesprechung), Frankfurter Runschau Online, Version vom 18. Juni 2008 12:15
  4. Sex - »Neue Störungsformen« - Interview mit Volkmar Sigusch, Die Zeit Nr. 30, 17. Juli 2008
  5. a b c Erwin J. Haeberle: Berlin und die internationale Sexualwissenschaft - Einführungsvortrag für das Magnus-Hirschfeld-Kolloquium am 14. Mai 1993, Humboldt-Universität zu Berlin - Fachbereich Kultur- und Kunstwissenschaft & Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik, Öffentliche Vorlesungen, Heft 9 (PDF-Version)
  6. Haeberle: Chronologie - Mittelalter, Archive for Sexology, Abruf: 13. Oktober 2003
  7. Haeberle: Chronologie - Frühe Neuzeit, Archive for Sexology, Abruf: 13. Oktober 2008
  8. a b c d Haeberle: Chronologie - Das 18. Jahrhundert, Archive for Sexology, Abruf: 13. Oktober 2008
  9. a b c d Haeberle: Das 19. Jahrhundert, Archive for Sexology, Stand: 13. Oktober 2008
  10. Erwin J. Haeberle: Der verbotene Akt - "Unzüchtige" Fotos von 1850 bis 1950, Verkürzte Fassung ursprünglich erschienen in: M. Köhler, G. Barche (Hrsg.): Das Aktfoto: Ästhetik - Geschichte - Ideologie, C.J. Bucher Verlag, München, 1985, S. 240-252
  11. Raphael Fischer: Michel Foucault (1926-1984), raffiniert.ch, 2004, Version: 16. Januar 2005
  12. Philipp Gutmann: Zur Reifizierung des Sexuellen im 19. Jahrhundert - Der Beginn einer Scientia sexualis, dargestellt anhand dreier Texte von Hermann Joseph Löwenstein, Joseph Häussler und Heinrich Kaan, in der Reihe Armin Geus, Irmgard Müller (Hrsg.): Marburger Schriften zur Medizingeschichte Bd. 38, Peter Lang, Frankfurt a. M., 1998, ISBN 978-3-631-33686-1
  13. a b c d e Volker Weiß: "Eine weibliche Seele im männlichen Körper", FB Politik- und Sozialwissenschaften, Freie Universität Berlin, 5. November 2007; (05_TEIL2-4.pdf) II. Homosexualität im Sexualitätsdispositiv des 19. und frühen. 20. Jahrhunderts
  14. Christof Goddemeier: Medizingeschichte: Zu den Wurzeln „entarteter“ Kunst, Deutsches Ärzteblatt 2007; 104(40): A-2714 / B-2399 / C-2326
  15. a b Andrea Dorothea Bührmann: Die gesellschaftlichen Konsequenzen der Wissensproduktion. Zum Verhältnis von (Sexual-)Wissenschaften und gesellschaftlichen Normalisierungsmechanismen, S. 213 ff. in: Ursula Ferdinand, Andreas Pretzel, Andreas Seeck (Hrsg.): Verqueere Wissenschaft?: Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart, LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster, 1998, ISBN ISBN 3825840492
  16. Harry Oosterhuis: Stepchildren of Nature. Krafft-Ebing, Psychiatry and the Making of Sexual Identity, Chicago 2000
  17. Kind (1908), S. 386
  18. Oliver Pfohlmann: Das historische Buch - Wissenschaft der Umarmungen, Neue Zürcher Zeitung, 30. Juli 2008
  19. Volkmar Sigusch: Sexualmedizin: Wider den „trüben, stinkenden Nebel der Heuchelei“, Deutsches Ärzteblatt 104(7): A 406–10, März 2007, Seite 121
  20. a b c d Ilka Quindeau, Volkmar Sigusch: Freud und das Sexuelle: Neue psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Perspektiven, Campus Verlag, 2005, ISBN 3593378485, S. 23 f.
  21. Karl Vanselow: Vereinigung für Sexualreform, in: Sexualreform, Beiblatt zu Geschlecht und Gesellschaft, 1, 1905; S. 18-20
    Quellenangabe in: Andreas Seeck: Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?: Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld, LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster, 2003, ISBN 3825868710, S. 174
    Toepfer: Nudity1992/93 S. 80 f.; Hinweis aus: Lutz Sauerteig: Krankheit, Sexualität, Gesellschaft: Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. Und frühen 20. Jahrhundert, Franz Steiner Verlag, 1999, ISBN 3515073930, S. 55
  22. a b Andreas Seeck: Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?: Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld, LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster, 2003, ISBN 3825868710, S. 175
  23. a b Andreas Seeck: Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Selbstverständnis der Sexualwissenschaft, in: Ursula Ferdinand, Andreas Pretzel, Andreas Seeck: Verqueere Wissenschaft?: Zum Verhältnis von Sexualwissenschaft und Sexualreformbewegung in Geschichte und Gegenwart, LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster, 1998, ISBN 3825840492, S. 199 f.
  24. Hermann Rohleder: Vorlesungen über Geschlechtstrieb und gesamtes Geschlechtsleben des Menschen (2., verb., verm. u. gänzl. umgearb. Aufl.), Band I, Berlin 1907
  25. a b E. J. Haeberle: Einführung in den Jubiläums-Nachdruck von Magnus Hirschfeld, „Die Homosexualität des Mannes und des Weibes“, 1914, Walter de Gruyter, Berlin - New York 1984, Seite V-XXXI
  26. a b Ulrike Baureithel: Die Himmel der Wollust, Der Tagesspiegel, 24. August 2008
  27. Christina von Braun: Ist die Sexualwissenschaft eine „jüdische Wissenschaft“?, 2001, in: Andreas Seeck (Hrsg.): Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?: Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld, LIT Verlag Berlin-Hamburg-Münster, 2003, ISBN 3825868710, S. 233 ff.
  28. Interview - Früchte der Revolte - Interview mit Volkmar Sigusch, Freitag Nr. 28, 11. Juli 2008
  29. Hermann J. Berberich: 100 Jahre Sexualwissenschaft, Hessisches Ärzteblatt 9/2006, S. 643-646
  30. a b Erwin J. Haeberle: Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, erstmals erschienen in: R. Gindorf u. E.J. Haeberle (Hrsg.): Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Bd. 3, Walter de Gruyter, Berlin 1992, S. 3-14
  31. Bodo Mrozek: Dr. Sex, Der Tagesspiegel, 14. Februar 2005
  32. Runkel, Gunter: Die Sexualität in der Gesellschaft. 1. Aufl., LIT, 2003, ISBN 3-8258-6825-7

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