Traditionelle Wirtschaftsformen (Jemen)

Traditionelle Wirtschaftsformen (Jemen)

Traditionelle Wirtschaftsordnungen durchdringen im Jemen bis heute die wichtigsten Wirtschaftszweige der Landwirtschaft, des Handels und des Handwerks. Vergleichbar mit den asiatischen Bergländern Afghanistan, Bhutan und Nepal wurde der Jemen sehr spät erst vom weltwirtschaftlichen Expansionismus der Industriestaaten erfasst.[1] Bis Ende der 1960er-Jahre blieb der Jemen vom Weltmarkt nahezu unberührt; dies natürlich uneingedenk antiker Reiche im Jemen, wie der altsüdarabischen von Saba vor und der Himjaren kurz nach der Zeitenwende oder später auch der islamischen Rasuliden, die allesamt eingespannt waren in Fernhandelsnetzwerke von Ägypten bis nach China bzw. Persien.[2] Es verwundert insgesamt nicht, dass die sozio-ökonomische Wirklichkeit des Jemen auf althergebrachten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen beruht.

Erst politische Umbrüche und Ausstrahlungseffekte des Erdölbooms der arabischen Region zwangen den Jemen überhaupt in den Modernisierungsprozess einzutreten.[3] Dadurch ausgelöst finden zwar einschneidende Veränderungen im Lande statt und die Weichen für die zukünftige Gestaltung einer jemenitischen Industriegesellschaft (Infrastrukturausbau, Frabrikaufbau, Importwirtschaft) erscheinen gestellt, doch ist das Kompetenzgefälle gegenüber fortgeschrittenen Ländern im Entwicklungsprozess unübersehbar groß.[4]

In der Gesamtheit gehören die alten Wirtschaftstraditionen großteils bereits der Vergangenheit an. Vernachlässigt dürfen dieselben zum Verständnis der sozio-ökonomischen Strukturen aber nicht, denn gerade weil der Jemen lange ohne äußere Anstösse blieb, verharrte er für Jahrhunderte auf dem Entwicklungsniveau (seßhafter) Agrargesellschaften. Wie in vielen Agrargesellschaften keimten im Jemen Sprösse interessanter Eigenheiten. Zu diesen Eigenheiten tragen die Lebensweisen der jemenitischen Beduinen, Bauern, Handwerker und Städter bei.

Inhaltsverzeichnis

Subsistenzwirtschaft der Beduinen

Die Beduinen im Jemen leben im Norden und in der Übergangszone zum östlichen Hochland. Kleine Oasen mit geringen Dattelpalmenkultivationen sind anzutreffen. In ihrer Region herrscht die Rub al-Chali vor, eine Wüstenregion – auch Leeres Viertel genannt. Vegetation ist äußerst spärlich.[5]

Lebensgrundlagen

Rub' al Khali (Leeres Viertel)

Die Grundlage nomadischer Lebensweise bildet der Viehbestand. Vornehmlich rekrutiert sich dieser bei den jemenitischen Beduinen aus Dromedaren und Ziegen, sehr selten aus Schafen. Die Herden sind klein und dienen der Selbstversorgung. Bedeutungsvollster Bestandteil dieser Kleinherdenbetriebe sind die Dromedare, die neben ihrer wirtschaftlich vielseitigen Nutzbarkeit (Milch, Haar- und Fleischlieferant bzw. Reit- und Transportmittel) einen hohen sozialen Prestigewert mitbringen. Die Milch der Dromedare deckt Teile des täglichen Trinkbedarfs der Beduinen. Der Fettgehalt dieser Milch ist niedrig. Anders verhält es sich bei Ziegenmilch. Hieraus wird Butter gewonnen. Zwecks Konservierung wird sie zu geklärter Butter verkocht. Die anfallende Buttermilch dient der Herstellung von Trockenmilch. Aufgekocht, zu Klumpen geformt und getrocknet hilft sie, Engpässe der Milchversorgung zu überwinden, die durch die zeitliche Begrenzung der Laktationsperiode der Ziegen entstehen können.[6]

Der am Beispiel der Milchverwertung dargestellten supplementären Wirtschaft der Beduinen kommt deshalb eine herausragende Bedeutung zu, weil Primäraktivitäten wie die Jagd vollständig ausfallen. Wildtierbestände sind spärlich und Jagderfolge unplanbare Zufallsergebnisse. Auch das (Auf-)Sammeln kulinarisch werthaltiger Boden-/ Strauch- und Baumfrüchte entfällt aufgrund der widrigen ökozonalen Grundvoraussetzungen. Holz wird allerdings eingesammelt und auf den ländlichen Wochenmärkten verkauft. Die Gewinnung von Weihrauchharz spielt heute – und wenn dann nur bei den Beduinen im östlichen Hadramaut – als Einnahmequelle eine fast versiegte Rolle. Rentierlicher ist die Verarbeitung von Schafs-und Ziegenwolle, aus der Webteppiche (Farda und Schamla genannt) sowie Kleidungsstücke und Kopfbedeckungen entstehen.

Dromedare als Lasttiere

Den wichtigsten Wirtschaftszweig bilden die Karawanendienste. Hierbei handelt es sich um marktgebundene Dienstleistungen, die den Beduinen im Auftrag von Kaufleuten zur Durchführung anvertraut werden. Die Beduinen verantworten dabei den ordnungsgemäßen Transport, weshalb diesen Aufgaben der Charakter von Kommissionsgeschäften zukommt. Transport und Unversehrtheit des anvertrauten Gutes bei Übergabe an den Käufer stehen als Leistungsbündel der Entlohnung gegenüber.[7]

Nomadische Wirtschaftsorganisation im Familienverbund

Konstitutives Element der nomadischen Stammesgesellschaften ist das patrilineare Abstammungssystem. Den patrilinearen Regeln folgend, werden die Anordnungen des Familiengründers befolgt. Gründungsväter von Familien inkorporieren gleichsam die nachfolgenden Generationen (Söhne, Enkel). Allein sie halten die Eigentums- und damit Verfügungsrechte über die Produktionsmittel und Sachen (Vieh, technische Ausrüstungen). Ausnahmen bilden Mitgifts- oder Geburtsgeschenke. Die Arbeitsorganisation innerhalb dieses Systems folgt dem Prinzip der geschlechtlichen Arbeitsaufteilung. Das System ist als Kooperative zwischen Mann und Frau zu verstehen, denn die anfallenden Belastungen hängen von den wirtschaftlichen Erfordernissen und der Größenordnung der übernommenen Verpflichtungen für den gesamten Familienverband ab.[8]

Terrassenfeldbau im jemenitischen Hochland

Die Frau trägt die Hauptlast im Bereich der familiären Versorgung. Ihre Bemühungen gehen dahin, die Güter reziprok im Verwandtschaftsverhältnis zirkulieren zu lassen. Diese Mechanismen minimieren Risiken, denn man glaubt auf gemeinsame Ahnen zurückzuführen zu sein, was letztlich kodexierte Beistandsverpflichtungen auslöst und den Güterkreislauf in Balance hält. Die Delegation von Arbeiten an jüngere Frauen ist üblich.

Der Mann im nomadischen Kontext besorgt die Kamelzucht, die Schur und die ärztliche Behandlung der Tiere, die Verteidigung und die Wahrung der externen Beziehungen. Die Absatzmärkte für die nomadischen Produktionsgüter funktionieren ähnlich wie die Märkte für Karawanendienste – nämlich auf Kommissionsbasis. Nomaden setzen ihre Güter nicht unmittelbar auf den Märkten ab, sondern bedienen sich des dallāl (Kommissionshändlers). Auch hierin kann man eine Risikominimierungsmaßnahme erkennen, denn in Notlagen können Güter (Hirse, Reis Datteln, Zucker) per Vorschuss durch den Kommissionär erworben werden. Ein zweiter Aspekt aber ist wichtig: Die Rechtsfähigkeit der am Handel beteiligten Personen muss gewährleistet sein. Wie bereits dargelegt, folgt jedes Verfügungsrecht über Sachgüter dem (derivativen) Erwerb vom Berechtigten; im patrilinearen Kontext also vom Gründer des jeweiligen Familienverbandes. Aus der Gemeinsamkeit der durch einen genealogischen Gründungsakt zusammengeschlossenen Gruppe wird das einzelne Geschäft mit der notwendigen gesellschaftlichen Rückverbundenheit ausgestattet und damit nach dem Verständnis der Beduinen auch rechtsverbindlich.

Ebenfalls dem Kompetenzbereich des Mannes unterliegt der Viehraub (ghazū). Nicht ökonomische, sondern prestigemehrende Interessen veranlassen dieses Verhalten. Opfer dabei sind lediglich verfeindete Stämme. Der Kamelraub verkörpert ein soziales Statussymbol und noch viel mehr: Er steht im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Werten hoher Rangordnung.

Stammeswesen

Unentbehrliche Produktionsmittel, Weidegründe und Brunnen werden rechtlich als gemeinschaftliches Eigentum des Stammes ausgewiesen. Insoweit werden familiäre Interessen durch kollektive Interessen überlagert. Die Familienältesten kooperieren in diesen Fällen mit dem Muqaddam, dem gewählten Stammesführer innerhalb der tribalen Organisation. Im Gegensatz zur Autorität der Stammesältesten ist die des Muqaddam anfechtbar. Den Muqaddam schützt auch die erbliche Nachfolge des Amtsrechts nicht vor der notwendigen Bestätigung durch Wahl. Bei Unfähigkeit oder Illoyalität erfolgt die Abwahl. Die Familienväter behalten in diesem System jedweden Rechtsvorbehalt inne.[9]

Das Bauerntum im jemenitischen Hochland

Die Landwirtschaft

Im Gegensatz zu den nomadischen Lebensräumen herrschen Voraussetzungen vor, die bisweilen sogar intensive landwirtschaftliche Nutzung der Böden ermöglichen. Dazu trägt mancherorts ein hoher Grundwasserspiegel bei, wie z.B. im Wadi al-Sirr oder im Wadi Ridjam im Hochland nordöstlich von Sanaa.[10] Andererseits sind es reichliche Niederschlagsmengen, die die Brunnenbewässerung ergänzen oder temporär ablösen können (Regenfeldbau). Ausgehend von den früheren Kulturen haben es die Bauern am Ostrand des Hochlandes bestens verstanden, mit einfachen Mitteln eine sehr effektive und den ökologischen Verhältnissen hervorragend angepasste Agrartechnologie zu entwickeln, respektive eine optimalen Nutzung von Regenwasser. Starkregen kann aufgefangen werden, da das Relief der Gebirge durch angepassten Terrassenanbau mit talseits angelegten Auffangwällen angehalten wird um in tiefere Bodenschichten durchzudringen, statt abzulaufen. Da Gewitter oft nur sehr begrenzt lokal niedergehen, sind nicht terrassierte Hangteile mit angelegten Gräben versehen, die unter Mineralstoffmitnahme auf die kultivierten Parzellen geleitet werden (Sturzwasserbewässerung).[11]

Wo die großen Täler die Gebirge verlassen (insbesondere in der Tihama und in ostjemenitischen Regionen) behilft man sich mit Dammfeldern, die in die Flüsse gebaut werden, um das Hochwasser strategisch sinnvoll in die bewirtschafteten Parzellen ableiten zu können. Berühmtestes Beispiel hierfür war in der Vergangenheit der Staudamm von Marib, der weniger ein Staudamm, denn Wasserverteilungssystem war.[12] Neben der ausgeklügelten Oberflächenwasserbewirtschaftung werden auch Methoden wasserkonservierender Maßnahmen angewendet, die die Bodenbearbeitung günstig beeinflussen (regenerative Schwarzbrache, flaches Pflügen, nährstoffsichernder Mischanbau von Getreide und Leguminosen).

Bayt al-Faqīh, Kleinstadt in der Tihama. Freitags ist Wochenmarkt

Dabei obliegt dem Mann – ähnlich wie bei den Beduinen – der Pflichtenkreis des Einkaufs und des Absatzes der Güter auf den Märkten. Er gewinnt dadurch die Kontrolle über innerstämmische wie auswärtige Transaktionen und kann Nachfrageverschiebungen zur Verbesserung des eigenen Angebots eruieren. Die landwirtschaftlichen Grundlagen der bäuerlichen Gesellschaften bilden der Getreide- und Weinanbau sowie die Qat-Kultivierung. Diese Arbeiten sind ebenfalls Männersache.

Sache der Frauen ist der Gemüseanbau (Bohnen, Bockshornklee, Karotten, Tomaten, Kräuter und Gewürze) und die Viehzucht. Supplementäre Milchverarbeitung in Form der Käseherstellung ist hier völlig unbekannt. An Getreide werden vornehmlich Weizen, Emmer, und Sorghum-Varietäten angebaut. Der Anbau erfolgt mit sogenannten Arl (Hakenpflug)[13] und mittels Säpflug. Eingesetzt werden außerdem Ziehschaufeln, Eggen und Nivellierbretter. Aufbewahrt wird sackweise im Haus. Lediglich Sorghum (vor allem Mohrenhirse) wird in Erdgruben vorgehalten, die mit Steinen abgedeckt werden. Der Weinbau findet zumeist auf offenen Feldern statt, seltener in kleinen Gärtchen. Der Schädlingsbekämpfung begegnen die Bauern mittels Trockenbestäubung der Reben (zermahlene Erde). Die sogenannten Asimī-Trauben werden als Früchte auf den Markt gebracht, wo sie sich reger Nachfrage erfreuen. Viele weitere Traubenarten eignen sich aber eher für die Rosinenherstellung (Rāziqī, Aswad, Bayād u.a.). Das vermutlich erst im 13. Jahrhundert von Äthiopien in den Jemen gelangte Strauchgewächs Qat erfreut sich einer derart hohen Beliebtheit, dass dessen Anbauflächen auf Kosten von Nahrungspflanzen stetig vergrößert wurden und in der Folge mittels beträchtlicher Devisenvorräte Agrargüter importiert werden mussten, die eigentlich über den Binnenhandel hätten erhältlich sein sollen.[14]

Insgesamt lässt sich sagen, dass sich das landwirtschaftliche Anbauverhalten vorrangig am Prinzip der Selbstversorgung (Subsistenzwirtschaft) orientiert. Allein dadurch kann ein Stamm die angestrebte politische Autonomie verfolgen.[15]

Das Handwerkertum

Jemenitischer Krummdolch (Jambia (Dschanbiya))

Bei den Handwerkern wird zwischen den Bauernhandwerkern, welche Mitglieder der bäuerlichen Stammesgesellschaft sind, und den Muzayyinin, die als unterprivilegiert[16] angesehen werden, unterschieden. Muzayyinin unterliegen aufgrund ihres Status keinerlei Kontrollmaßnahmen hinsichtlich ihres Produktionsumfeldes, denn der supplementäre Ansatz, der allein die Autarkie und Unantastbarkeit des Stammes gegenüber Dritteinflüssen im Blickfeld hat, realisiert seine Souveränität allein über eine als notwendig erachtete Anzahl von ansässigen Handwerkern. Den insoweit schutzlosen Muzayyinin verbleiben mithin die Tätigkeitsfelder, die ein ansässiger Handwerker ablehnt. Schlachten von Vieh, Fellgerbungen, Weben, Töpfern und Haareschneiden sind Aufgaben des Muzayyinin. Die Tischlerei, die Schmiedekunst und Hausbauberufe üben die Bauernhandwerker aus. Als Stammesmitgliedern steht ihnen zudem die Zuweisung von landwirtschaftlichen Nutzungsarealen zu, die bewirtschaftet werden können, um ihre konjunkturbedingt nachfrageanfälligen Haupttätigkeiten kompensieren zu können.

Auch bei den Bauern und Handwerkern stellt sich der Stamm als patrilineare Abstammungsgemeinschaft dar. Die Vorherrschaft führt der Shaykh al-Qabīla. Auf Stammesbezirke heruntergebrochen kommen die Shaykh´s al-Thumen und auf die Dörfer heruntergebrochen die Shaykh´s al-Qarīya ins Spiel.[17] Je nach Komplexität werden die Aufgaben an die Shaykh´s abgegeben.[18]

Aus den Zünften der Handwerker entstammen eine Vielzahl bemerkenswerter Produkte. Leder wird verwendet für Schuhe, Westen, Mäntel und Gürtel. Aber auch Säcke und Behälter zur Aufbewahrung diverser Güter, werden aus Leder gefertigt. Zum Gerben des Leders benutzt man ein Extrakt des Qaraẓ-Baumes (Akazienart)[19] Berühmt seit jeher sind auch jemenitische Wolle, Leinen und Baumwolle.[20] Aus Leinen werden Obergewänder gefertigt (Barūd), die mit Wars (sesamähnliche gelbe Pflanze) eingefärbt werden. Ebenso berühmt sind Maafir-Stoffe aus der Gegend von Malafir (heute: al-Ḥugarīya). Schöne Baumwoll- bzw. Seidenprodukte sind die Liḥāf, deren Streifenmuster charakteristisch sind. Auch wird viel gestickt: Typisches Produkt das breite vielfarbige Stützband Hibya. Bedeutung haben außerdem die Bergwerke und der Abraum von Gold, Silber, Blei, Kupfer, Zinn und Eisen bereits seit vorislamischer Zeit. Die Produkte daraus sind zumeist dem Waffenhandwerk zuzuordnen: Schwerter, Pfeile und Lanzen.[21] Die Silberschmuckherstellung war ein berühmtes Handwerk der in Jemen ansässigen Juden, bevor sie mit der großen Exodus-Welle Magic Carpet 1949–1950 nahezu vollständig nach Israel auswanderten und dieser Tradition große Lücken bescherten.

Heute ist in der Waffentechnik insbesondere der Krummdolch (Dschanbīya) hervorzuheben. Die Klinge des Krummdolches ist das Aufgabenfeld des Schmiedes. Der aus Horn oder Silber gefertigte Griff untersteht der Kompetenz des Griffmachers. Die Scheide des Dolches wird vom Scheidenmacher gefertigt. Der Gürtel für den Tragekomfort wird vom Gürtelmacher hergestellt.[22] Für den Jemeniten zählt der Griff, dann die Klinge und schließlich die Scheide.[23] Der Krummdolch hat seinen Ursprung bei den jemenitischen Karawanenhändlern. Heute verkörpert er weniger die Waffe an sich, als vielmehr Freiheit und Männlichkeit.[24]

Der Markttausch

Tribale Märkte sind vom Tauschhandel geprägt und finden periodisch wiederkehrend als Wochenmärkte statt. Damit der Marktfrieden gewährleistet ist, wird er funktionell organisiert (ḥokmaal-Sūq). Die Marktleitung obliegt dem gewählten Shaykh al-Sūq. Dieser ist hauptverantwortlicher Marktfunktionär. Beigestellt sind ihm Nebenfunktionäre als Vermittler (sog. Musālih – Stammesangehörige). Sie haben Maklerstatus und dürfen je 1/10 vom Käufer wie vom Verkäufer für ihre Dienste verlangen. Ein weiterer Anteil der Erlöse aus Tauschgeschäften geht an die Marktleitung und wird ebenfalls vom Marktvermittler einbehalten. Dem Marktleiter kommt eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Marktbesonderheit zur Hilfe. Es ist die sog. Ḥaram-Regel. Diese Regel besagt, dass es allen Marktteilnehmern untersagt ist zu streiten bzw. sich tätlich auseinanderzusetzen; sie dient dem – bereits erwähnten – Marktfrieden.[25] Die Ḥaram-Qualität spiegelt eine kollektive Friedenszusage. Verstöße werden schwer geahndet und können zum Verlust der eigenen Güter, als ultima ratio sogar des Lebens führen. Marktfremde sind angehalten Tausch- und Handelsgüter mitzunehmen um damit ihren Anreisezweck erkennbar zu machen. Die ḥaram-implezierte Schutzgarantie gilt für die Marktdauer für Jederman – also auch Fremde.[26]

Die städtischen Handelsgesellschaften

Sanaa. Späterer Einbau von Ladengeschäften in traditionelle Häuser im Zentrum
Sanaa. Blick über die Dächer der Altstadt Sanaas

In den Städten leitet sich die Marktorganisation aus den Interessen der einzelnen Branchengruppen ab. Dazu werden Wirtschaftsallianzen gebildet. Alle Mitglieder dieser Allianzen sind rechtlich gleichgestellt. Beschlüsse werden in Versammlungen getroffen. Jeder Branche steht ein gewählter Aqil vor. Dieser besorgt den Einkauf. Er verteilt die für die Herstellung der Gegenstände notwendigen Rohstoffe (z.B.: Holz für den Tischler) auf den Handwerker. Er organisiert außerdem die Einlagerung der Waren in die städtischen Magazine. Die Magazine stehen im Gemeinschaftseigentum der Branchenangehörigen. Die Voraussetzungen für die Konkurrenzfähigkeit am Markt sind unter den Branchenabhängigen also ausgewogen. Alle Branchen, wie die Tischler, die Silber-, Eisen,- und Kupferschmiede, Spengler, Dolchgriffmacher, Matratzenstopfer, Steinmetze und andere mehr sind gleichermaßen betroffen.

Die übergeordnete Instanz aller Kaufmannsgruppen bildet die Handelskammer (ghurfat al-tidjāra), die 1963 aus der sog. Versammlung der Kaufleute (madjilis al-tidjāra) hervorging. Preisbindungen, Auslandswarenüberwachung und Steuerhoheit gehören zum Kompetenzbereich dieser Handelskammern.[27]

Nachts bewacht der Shaykh al-Layl als Hauptverantwortlicher das Marktareal. Er haftet für Ausfälle (Bsp: Diebstahl) gegen Entlohnung reziprok bürgschaftsähnlich. Es ist verboten, nachts das Marktgelände aufzusuchen, weshalb der Shaykh al-Layl ein ganzes Überwachungssystem von Wächterhäuschen, die auf den Dächern der Ladenlokale postiert sind, verantwortet. Durch bloßen Zuruf über die Dächer kann auf diese Weise die Täterverfolgung aufgenommen werden.

Es gibt auch andere urbane Gesellschaften im Jemen. Deren sozio-ökonomische Struktur ist durch den sogenannten Rentenkapitalismus vorgegeben. Ein Beispiel für diese Determination bietet die hadramautische Stadt Tarīm. In dem in dieser Stadt gepflegten System finden keine Reinvestitionen erworbenen Kapitals zur wirtschaftlichen Ausweitung von Wohlstandsinteressen für die Gemeinschaft statt, genauso wenig Innovationen. Erträge werden vielmehr abgeschöpft und gehortet. Wirtschaftliche Stagnation mit regelmäßigen Verschuldungen und Lohnvorschüssen der ohnehin niedrig entlohnten Arbeitskräfte spielen einer ausgeprägten Ausbeutung zu. Als Gegenverbund zu den Landeigentümern und Handelskontrolleueren haben sich die sogenannten Stadtviertel-Organisationen gebildet. Die Interessensvertretungen laufen hier nicht über Branchen sondern vereinheitlicht über die genannten Stadtviertel.[28]

Traditionelle Imkerei

Bienenzucht ist im Jemen seit rund 2000 Jahren belegt und in vielen Landesteilen anzutreffen.[29] Überwiegend wird Imkerei sesshaft betrieben, was am Gewicht der Bienenkörbe, oft auch an den Stammesstrukturen und den damit verbundenen Eigentumsverhältnissen liegt. Im Süden des Landes liegen die bedeutendsten Zuchtgebiete; es sind Wanderzuchtgebiete. Alle temporären Bleiben sind traditionell erprobt. Es wird Wert darauf gelegt, dass die Bienenvölker erhalten bleiben und gleichwohl ein erntbarer Honigüberschuss abfällt. Heute kommen für den Transport LKW zum Einsatz, früher bediente man sich der Dromedare. Die Wanderschaft verläuft über Orte mit den jeweils zum Zeitpunkt des Eintreffens idealen Bedingungen, was einem vortrefflichen Honig im Selbstverständnis der Imker am besten entgegenkommt. Frühjahrsregenfälle zur Hauptfutterzeit der Bienen werden ebenso genutzt wie heiße und trockene Winter in Regionen der Euphorbia-Blüte, die Regen wegen der Ausschwemmgefahr des Nektars schlecht vertragen und im übrigen Jahr deshalb gemieden werden. Besonders beliebt ist die Nutzung der Akazienblüte.

Zwischen den Imkern besteht traditionell gute Kameradschaft, was dem Berufsstand auch entgegenkommt, denn es gilt immer wieder flüchtige Bienenschwärme nach Weiterzug des Eigentümers einzufangen und zu verwalten. Der Imker arbeitet mit wenig – oft sogar ohne – Schutzkleidung, da jemenitische Bienen als besonders gutmütig gelten, so sie zuvorkommend behandelt werden. Geräuchert wird mittels Euphorbia, Eselmist oder Sackleinwand. Manche Imker verstehen sich darauf, schwache Bienenvölker durch Einbringung neuer Bienen in den Schwarm zu stärken. Künstliche Anfütterung ist unüblich. Verluste in Trockenzeiten sind groß und werden in Kauf genommen.

Als Bienenstöcke dienen traditionell ausgehöhlte zylindrische Stammstücke, vornehmlich des Sūkam-Baumes. In anderen Fällen wird das Sūkam-Holz, das sehr resistent gegen Insektenfraß ist, zusammengezimmert zu holzklotzartigen Gebilden. Die beiden Enden sind verschließbar. Die übereinander gelagerten Bienenstöcke werden noch vertäut, um bei witterungsbedingter Ausdehnung des Holzes nicht herunterzufallen. Weitere Materialien, die für den Bienenstockbau verwendet werden sind Ton, gesplittetes Rohr und Mäntel aus Kuhdung. Die Erfahrungen lehrten die Imker die Bienenstöcke in Normgrößen zu bauen. Die Höhe wurde bei 9 cm veranschlagt, da die Honigproduktion bei diesem Maß verbessert wird. Bei dieser Höhe bauen die Bienen ein neues Wabenstück für den Honig, getrennt von ihrer Brut. Höhere Kästen würden die Bienen zu dieser Mehrarbeit nicht anhalten. Die Bienenstöcke werden zumeist in der Weise zu einer Gruppe zusammengestellt, als 9–12 Stöcke in ein Hochgestell eingebracht werden. Als Regal dient schon auch mal ein auf den Kopf gestelltes Bett. Aus Stroh oder Palmstroh geflochtene Matten werden über die Anordnung gelegt, um vor der Sonne zu schützen. In solchen Formationen werden mehrere Bienenkorbgruppen zusammengestellt. Die Honigernte erfolgt mehrmals im Jahr.

Werthaltiger einheimischer Honig wird baladi genannt und in jedem Falle einem Importprodukt vorgezogen. Imker verkaufen ihren Honig nicht über Kommissionen sondern direkt. Reinheitstests erfolgen traditionell durch Ausrollen eines Honigtropfens im Sand. Behält er seine Form, so ist der Honig rein, denn der obligatorisch geringe Feuchtigkeitsgrad erhöht die Viskosität des Produkts. Eine andere Methode sieht vor, den Honigbehälter umzudrehen, um überprüfen zu können, wie schnell Luftblasen nach oben entweichen. Ein langsamer Anstieg verrät Reinheit des Honigs. Honig von hoher Qualität ist im Jemen sehr teuer. Der nachgefragteste Honig entstammt den Blüten des Syrischen Christusdorns (Ziziphus spina-christi). Ein Liter dieses Erzeugnisses kostete bereits 1985 umgerechnet 250 DM. Dahinter reihen sich Akazien-Honigsorten, wie Schwarzdorn-Akazien-Honig (acacia mellifera). Euphorbien-Honig schmeckt eigentümlich nach scharfem Pfeffer (bisbas) und löst ein ungeahntes Brenngefühl im Rachen aus, bei geschmacklich zunächst orange-blütenem Zugang.

Siehe auch

Verwendete Literatur

  • Walter Dostal: Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5 (Hauptquelle für den Artikel)
  • Walter Dostal: Auf der Suche nach Zukunft in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5
  • Yusuf Abdallah: Die Vergangenheit lebt: Mensch, Landschaft und Geschichte im Jemen in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5
  • Michael Hofmann: Entwicklung und Entwicklungsplanung der beiden Jemen in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5
  • Matthias Weiter: Entwicklung und Entwicklungshilfe im Jemen in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5
  • Horst Kopp: Die Landwirtschaft des Jemen – Vom Mokka zum Qat in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5
  • Jürgen Schmidt: Die sabäische Wasserwirtschaft von Marīb in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5
  • Jan Karpowicz: Traditionelle Imkerei im Jemen in Werner Daum Jemen, Umschau-Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 3-7016-2251-5

Weitergehende Literatur

  • Werner Dostal: Die Beduinen in Südarabien Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik, Bd. XVI. Horn - Wien 1967
  • Werner Dostal: Interpretation der sozio-ökonomischen Verhältnisse südarabischer Beduinen in Beiträge zur Südasienforschung, Bd. 86: 112–127, Wiesbaden 1983
  • Werner Dostal: Handwerker und Handwerkstechniken in Tarīm (Südarabien - Hadramaut); Publikationen zu wissenschaftlichen Filmen (Sektion Völkerkunde - Volkskunde), Ergänzungsband 8, Göttingen 1972
  • G. Meyer: Arbeitsmigration, Binnenwanderung und Wirtschaftsentwicklung in der Arabischen Republik Jemen; Jemen Studien - Bd. 2, Wiesbaden 1986
  • Ahmed Al Hubaishi, Klaus Müller-Hohenstein: An introduction to the vegetation of Yemen Eschborn 1984
  • Horst Kopp: Agrargeographie der Arabischen Republik Jemen Erlangen 1981 (= Erlanger Geographische Arbeiten, Sonderband 11)

Einzelnachweise

  1. Michael Hofmann Entwicklung und Entwicklungsplanung der beiden Jemen S. 421
  2. Werner Daum JEMEN – 3000 Jahre Geschichte, Kultur und Kunst Von der Königin von Saba zu einem modernen Staatswesen S. 10–12 und 26–28
  3. Horst Kopp Die Landwirtschaft des Jemen – Vom Mokka zum Qat S. 365 ff (367-369)
  4. Matthias Weiter Entwicklung und Entwicklungshilfe im Jemen S. 435
  5. Walter Dostal: Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft, S. 331 ff (332)
  6. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (333 f)
  7. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (334)
  8. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (334 f)
  9. Walter Dostal: Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft, S. 331 ff (335)
  10. Horst Kopp: Die Landwirtschaft des Jemen – Vom Mokka zum Qat, S. 365 ff (367-368)
  11. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (336)
  12. Yusuf Abdallah: Die Vergangenheit lebt: Mensch, Landschaft und Geschichte im Jemen S. 472-488 (483-484)
  13. Peter Przybilla zum Begriff: Arl
  14. Walter Dostal: Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft, S. 331 ff (345-354)
  15. Horst Kopp Die Landwirtschaft des Jemen – Vom Mokka zum Qat S. 365 ff (366-367)
  16. Unterprivilegierung der Muzayyinin
  17. Begrifflichkeiten zu den Shaykh´s in Shattering tradition: custom, law and the individual in the Muslim Mediterranean Von Walter Dostal, Wolfgang Kraus
  18. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (355-356)
  19. Political ecology and the role of water: environment, society and economy in ... Von Gerhard Lichtenthäler
  20. Yusuf Abdallah: Die Vergangenheit lebt: Mensch, Landschaft und Geschichte im Jemen S. 472-488 (486)
  21. Walter Dostal: Auf der Suche nach der Zukunft S. 441 ff (445)
  22. Yusuf Abdallah: Die Vergangenheit lebt: Mensch, Landschaft und Geschichte im Jemen S. 472-488 (487)
  23. Werner Daum JEMEN – 3000 Jahre Geschichte, Kultur und Kunst – Von der Königin Saba zu einem modernen Staatswesen S. 9 ff (16)
  24. Yusuf Abdallah: Die Vergangenheit lebt: Mensch, Landschaft und Geschichte im Jemen S. 472-488 (486)
  25. Haram und Halal in Kapitalmarktprodukte nach islamischem Recht Von Bachelor of Arts Ibrahim Cihan
  26. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (356-357)
  27. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (357-360)
  28. Walter Dostal Traditionelle Wirtschaft und Gesellschaft S. 331 ff (360-363)
  29. Jan Karpowicz Traditionelle Imkerei im Jemen S. 370

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