Der Tod in Venedig

Der Tod in Venedig

Der Tod in Venedig ist eine Novelle von Thomas Mann, die 1911 entstand, 1912 erstmals in Die Neue Rundschau[1] publiziert wurde und anschließend als Einzeldruck im Hyperion Verlag München (1912) erschien.- Die Erzählung weist mehrere Parallelen zur Biographie des Autors auf:

  • Zahlreiche Begebenheiten der Novelle gehen auf eine Venedigreise der Familie Mann im Jahre 1911 zurück,[2] von der Katia Mann in „Meine ungeschriebenen Memoiren“ berichtet.
  • Der junge Władysław Moes, dem Thomas Mann während dieses Venedigaufenthaltes begegnete, gab dann den Anstoß zu Der Tod in Venedig.[3] Der polnische Baron Wladyslaw Moes gab sich 1965 in der Zeitschrift twen (München) mit dem Beitrag: „Ich war Thomas Manns Tadzio“ zu erkennen.[4]
  • Die Werke des Protagonisten Gustav von Aschenbach, die im zweiten Kapitel vorgestellt werden, sind identisch mit bereits abgeschlossenen bzw. geplanten Arbeiten Thomas Manns, auch wenn ihre Titel für die Novelle leicht verfremdet wurden.
  • Pointiert hat Thomas Mann die geheime Identität von Autor und Fabelheld 1911 in seinem Essay formuliert, den er während der Arbeit am Tod in Venedig über Adelbert von Chamisso schrieb: Es ist die alte, gute Geschichte: Werther erschoß sich, aber Goethe blieb am Leben.
Markusplatz in Venedig, von wo Gustav von Aschenbach mit der Gondel zum Lido übergesetzt wird. (Gemälde von Renoir)
Grandhotel Excelsior am Lido, das im Tod in Venedig mehrfach erwähnt wird.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Gustav von Aschenbach ist ein angesehener Schriftsteller, der sehr auf Disziplin und Selbstbeherrschung achtet. Sein Leben besteht im ständigen Kampf zwischen starkem Geist und schwachem Körper. Etwas müde und überanstrengt von seiner Arbeit, gibt er eines Tages einer plötzlichen Eingebung nach und reist zur Erholung für ein paar Wochen nach Venedig. Dort verliebt er sich in den Anblick eines polnischen Jünglings, der für ihn zum Inbegriff vollkommener Schönheit wird.
Obwohl Aschenbach merkt, dass ihm das Klima in der Lagunenstadt nicht gut tut, fasziniert ihn der anmutige Knabe doch so sehr, dass er seinen Urlaub nicht abbricht. Selbst als sich kurz darauf eine Cholera-Epidemie ankündigt und die meisten Touristen die Stadt verlassen, harrt er gegen alle Vernunft weiter aus. Ohne auf seine Gesundheit Rücksicht zu nehmen, ja sogar ohne die behördlich getroffenen Sicherheitsvorkehrungen zu beachten, lebt er nach Ausbruch der Seuche bis zum allerletzten Moment dafür, den fremden Jungen heimlich am Strand zu beobachten und auf dessen täglichen Familienausflügen durch die verwinkelte Stadt unbemerkt zu folgen.

Erstes Kapitel

Anfang Mai 1911 (im Jahr der zweiten Marokkokrise) unternimmt der über fünfzigjährige, für seine Werke geadelte Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Spaziergang durch den Englischen Garten in München, der ihn bis vor den Nördlichen Friedhof führt. Auf der Freitreppe zur Aussegnungshalle fällt ihm ein seltsamer Mann in Wanderkleidung auf, der ihn so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein anblickt, dass Aschenbach sich abwendet. Im Weitergehen wirkt das Wanderhafte in der Erscheinung des Fremden in Aschenbach nach. Eine seltsame Ausweitung seines Inneren ward ihm ganz überraschend bewusst, eine Art schweifender Unruhe, die er sich als Reiselust deutet. Er überlässt sich der pflichtwidrigen Anfechtung und meint, eine Abwechslung tue ihm gut, etwas Stegreifdasein, Tagedieberei, Fernluft und Zufuhr neuen Blutes: Gustav von Aschenbach beschließt zu verreisen.

Zweites Kapitel

Herkunft, Lebensweg und Charakter Aschenbachs werden beschrieben, dazu seine Werke, ihr literarischer Stellenwert und ihre Publikumswirkung. Aschenbach ist schon lange verwitwet und lebt allein. Sein ganzes Streben ist auf Ruhm ausgerichtet. Keineswegs von robuster Natur, muss er sich künstlerische Leistungen täglich neu abringen. Mit dieser Selbstdisziplin verwirklichen sich Anlagen von väterlicher Seite, überwiegend höheren Beamten im preußischen Schlesien. Der Großvater mütterlicherseits war Musiker. Von dieser Seite kommt sein künstlerisches Talent.

Drittes Kapitel

Aschenbach ist, zuletzt auf dem Seeweg von Triest über Pola, auf einer Insel nahe der istrischen Adriaküste angekommen. Es regnet. Der Strand ist enttäuschend, nicht sanft und sandig, er vermittelt kein ruhevoll inniges Verhältnis zum Meere. Einer plötzlichen Eingebung folgend, reist er per Schiff nach Venedig, das er schon als junger Mann mehrfach besucht hat. Im Schiffsinneren fertigt ihn ein schmieriger Zahlmeister ab und lobt sein Reiseziel in phrasenhaften Wendungen. An Deck beobachtet er einen grell geschminkten Alten, der sich einer Schar junger Männer angeschlossen hat und bemüht ist, diese an Jugendlichkeit zu übertreffen, indem er zuviel raucht und trinkt und durch anzügliche Bemerkungen aufzufallen versucht. In Venedig angekommen, will Aschenbach mit der Gondel zur Vaporetto-Station. Der einsilbige Gondoliere jedoch rudert ihn eigenmächtig über die Lagune zum Lido. Dort angekommen, entfernt sich Aschenbach kurz, um Geld für die Bezahlung der Überfahrt zu wechseln. Als er zurückkommt, ist der Gondoliere verschwunden. Vom Gepäckträger seines Hotels erfährt er, dass der Mann ein Krimineller sei, der keine Lizenz habe.

Abends entdeckt von Aschenbach in der Hotelhalle am Tisch einer polnischen Familie einen langhaarigen Knaben von vielleicht vierzehn Jahren, der ihm als vollkommen schön erscheint. Er deutet seine Faszination als ästhetisches Kennertum, eine Kunstauffassung vertretend, die die Sinnlichkeit der Kunst verleugnet. Doch mit jedem Tag, den Aschenbach den jungen Tadzio am Strand beobachtet und bewundert, verfällt der Alternde dem Anblick des Jünglings mehr und mehr.

Das schwüle Wetter, die Mischung aus Seeluft und Scirocco bekommen von Aschenbach nicht. Er erinnert sich, dass er in früheren Jahren schon einmal wegen gesundheitlicher Gründe aus Venedig fliehen musste. Als ihn Schweiß- und Fieberanfälle heimsuchen, bedauert er, auch diesmal die Stadt verlassen zu müssen, und beschließt nach Triest zu reisen. Auf dem Bahnhof stellt sich aber heraus, dass sein Koffer versehentlich nach Como abgeschickt wurde, eine Komplikation, die Aschenbach zum willkommenen Vorwand nimmt, wieder in sein Hotel am Lido zurückzukehren, um dort die Rückkehr seines Gepäcks abzuwarten. In sich hineinblickend erkennt er, dass ihm um Tadzios willen der Abschied so schwer geworden ist. Als sein Koffer zwei Tage später eintrifft, hat er den Gedanken an eine Abreise längst verworfen.

Viertes Kapitel

Der sonst so kühle und nüchterne Aschenbach gibt sich ganz seinen Gefühlen hin. Der Vergleich mit Sokrates, der den jungen Paidros über die Rolle der Schönheit belehrt, und die antikisierende Sprache der Novelle beschreiben die mythische Verwandlung der Welt in den Augen Aschenbachs. Das Kapitel endet mit seinem Eingeständnis, dass er den Knaben liebe.

Fünftes Kapitel

Eine Cholera-Epidemie, von Indien kommend, hat Venedig erreicht. Mehrere Versuche, sich bei Einheimischen über die Seuche zu informieren, schlagen fehl. Auch der diabolische Anführer einer kleinen Bande von Straßenmusikanten, die im Freien und zu später Stunde vor den Hotelgästen auftritt, gibt Aschenbach keine Auskunft. Anderntags klärt ihn schließlich der Angestellte eines englischen Reisebüros über die Choleragefahr auf. Trotzdem bleibt Aschenbach in der Lagunenstadt. Der von seinem späten Gefühlsrausch Heimgesuchte verwirft den Gedanken, Tadzios Angehörige vor der Cholera zu warnen, um dessen Nähe nicht entbehren zu müssen.[5]

Aschenbach hat nun alle Selbstachtung verloren. Um zu gefallen, lässt er sich vom Friseur des Hotels die Haare färben und schminken. Er ist damit auf der Stufe des geckenhaften Alten angekommen, dessen Jugendwahn er mit Widerwillen auf der Herfahrt beobachten musste. Infiziert durch ungewaschenes Obst, das er bei einem Streifzug durch die Gassen Venedigs gekauft hat, stirbt Aschenbach an der Cholera, während er aus seinem Liegestuhl Tadzio ein letztes Mal am Strand beobachtet. Dabei erscheint es dem Sterbenden so, als lächle und winke der Knabe ihm von weitem zu und deute mit der anderen Hand hinaus aufs offene Meer. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.[6]

Form

Thomas Mann selbst hat den Tod in Venedig in seinem «Lebensabriss» die Tragödie einer Entwürdigung genannt und dabei den Begriff Tragödie durchaus wörtlich gemeint, denn seine Novelle weist gleich mehrere entscheidende klassizistische Merkmale auf:

  • die Unterteilung in fünf Kapitel analog den fünf Akten des klassischen Dramas, einschließlich der
  • horazischen Fünfgliedrigkeit in Exposition, Komplikation, Peripetie, Retardation und Katastrophe;
  • die mythologische Tiefenperspektive der Handlung;
  • die mehrfachen Rekurse auf Platons Dialog Phaidros;
  • die den Chor der griechischen Tragödie parodierenden Straßenmusikanten, die zugleich an
  • Ursprung der Theaters im Kult des Dionysos erinnern, und
  • den zeitweilig antikisierenden Sprachrhythmus der Erzählung.

Künstlerproblematik

Thomas Mann beschreibt das Scheitern eines asketischen, ausschließlich auf Leistung ausgerichteten Lebens, das ohne zwischenmenschlichen Halt auskommen muss. Einsam,[7] ausgeschlossen vom Glück sorgloser Leichtlebigkeit, hart arbeitend, erreicht Gustav von Aschenbach mit seinem schriftstellerischen Werk Ruhm und Größe. Stolz auf seine Leistungen, ist er aber voller Misstrauen in seine Menschlichkeit und ohne Glauben, dass man ihn lieben könne.[8]
Da tritt ein Knabe in sein Leben, dessen hermaphroditische Anmut für Aschenbach zur Inkarnation vollkommener Schönheit wird. Seine Faszination und Leidenschaft für dieses Idealbild rechtfertigt er mit philosophischen Argumenten, indem er in seinen Tagträumen wiederholt den platonschen Dialog zwischen Sokrates und Phaidros heranzieht und für seine Zwecke modifiziert und ästhetisch reflektiert: Nur die Schönheit sei „liebenswürdig und sichtbar zugleich“ und „die einzige Form des Geistigen, welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können.“ Nur die Schönheit sei „göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg“ und daher „der Weg des Künstlers zum Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum Geistigen durch die Sinne führt?“
Wie sein selbstkritischer Autor Thomas Mann sieht auch Aschenbach die Scharlatanerie alles Künstlerischen: „Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen, notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühls bleiben? Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menschen zu uns lächerlich“.
Und wie der Autor, so sieht auch sein Protagonist die fragwürdigen Seite des Künstlers, der den Tod in Venedig nicht zufällig findet, sondern wissentlich sucht: „fortan gilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und der Form. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde,[9] führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft, führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.“

Todesmotive

Ein zentrales Motiv der Novelle ist der Todesbote, der in wechselnder Gestalt auftritt:

  • Erstmalig in der des Fremden vor der Friedhofshalle. In dem Blickduell, das er mit Aschenbach führt, unterliegt dieser und sieht, ohne es schon zu wissen, dem Tod in die Augen. Sich selbst täuschend, deutet er die so ausgelöste Unruhe und seltsame Ausweitung seines Inneren als Reiselust.
  • Der gespenstisch wirkende Zahlmeister während der Schiffsreise nach Venedig erinnert an den Totenschiffer Charon, der in der Vorstellung der griechischen Antike die Verstorbenen in den Hades übersetzte und dafür als Fährmannslohn einen Obolus erhielt.
  • Todesboten sind auch der Gondoliere, der Aschenbach über die Lagune rudert, und der freche Sänger und Anführer eines Trupps von Straßenmusikanten. Gemeinsam mit dem Reisenden vor der Aussegnungshalle ist allen dreien, dass sie als Fremde, rothaarig, bartlos[10], schmächtig, mit vorspringendem Adamsapfel, bleich und stumpfnäsig beschrieben werden. Ihr Fremdsein wird immer mehr, besonders dann in der Gestalt des Gitarristen und Sängers, zu einem Merkmal des Dionysischen. Der mythologischen Forschung am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts galt Dionysos noch als eine ursprünglich dem Griechentum fremde Gottheit, die aus Kleinasien nach Griechenland gekommen war.
  • Das Motiv des Todesboten gipfelt in der Figur des anmutigen Tadzio. Im Schlussbild der Novelle meint der Sterbende, Tadzio lächle ihm zu und deute vom Meeresufer aus mit der Hand ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Diese Geste macht aus Tadzio eine Hermes-Inkarnation, denn zu den Aufgaben jener Gottheit gehörte es, die Seelen der Verstorbenen in die Totenwelt zu führen.

Weitere Todessymbole:

Erstes Kapitel:

  • Der Name des tragischen Helden. Die Wortverbindung assoziiert beim Leser unterschwellig ´Asche in einen Bach´ als eine Art Bestattung. (S. 9 Z.1)
  • Der Friedhofseingang. (S. 10 Z.13)
  • Die Ausstellungsstücke des Steinmetz-Betriebes, die ein unbehaustes Gräberfeld imitieren.
  • Abendstimmung. (S. 10 Z. 21)
  • Die Schriftworte über dem Eingang der Aussegnungshalle, Sie gehen ein in die Wohnung Gottes oder Das ewige Licht leuchte ihnen. (S.11 Z. 3)
  • Adjektive, wie z.B. die apokalyptischen Tiere (S. 11 Z. 10)
  • Die Physiognomie des Reisenden vor der Aussegnungshalle, deren Beschreibung an einen Totenschädel denken lässt.

Drittes Kapitel:

  • Die venezianische Gondel, von der Schwärze eines Sarges, die ihren Passagier wohlig erschlaffen lässt.
  • Das Meer mit seiner Wirkung des Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, des Nichts. In Thomas Manns Metaphorik ist das Meer ein Todessymbol: Denn Liebe zum Meer ist nichts anderes als Liebe zum Tode schreibt er 1922 in seinem Essay Von Deutscher Republik. Von Aschenbach sieht Tadzio täglich bei seinen Spielen am Strand zu, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.

Fünftes Kapitel:

  • Der Granatapfel-Saft, den Aschenbach nach der Vorstellung der Straßenmusikanten zu Ende trinkt. Das Getränk spielt auf den Persephone-Mythos an: Wer vom Granatapfel des Hades gekostet hat, kann nicht mehr zur Oberwelt zurückkehren, ganz gleich, ob er Sterblicher oder Gottheit ist. Die Todessymbolik bekräftigt Thomas Mann mit dem inneren Bild einer Sanduhr, das er in dieser Situation bei von Aschenbach entstehen lässt.

Mythologische Motive

Von Aschenbach gibt sich ganz der Bewunderung des Knaben hin. Das war der Rausch; und gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen. Nach Art der Dialoge Platons imaginiert der Enthusiasmierte Gespräche mit dem Bewunderten. In ihnen bricht er mit seiner apollinischen, zuchtvollen Lebenssicht. […], denn der Leidenschaft ist, wie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags nicht gemäß. Er erkennt die Sinnlichkeit der Kunst und monologisiert: […] du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft. Doch damit beschönigt von Aschenbach. Nicht Eros leitet ihn. Dionysos ist es, dem er verfallen ist. Von ihm seines apollinisch-klaren Weltbildes beraubt, meint von Aschenbach, dem Künstler sei eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren.

Einen wilden Höhepunkt findet von Aschenbachs Entartung in dem Traum des fünften Kapitels. Er gerät unter die zügellos Feiernden eines antiken Dionysos-Kultes. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die [Opfer-]Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges.

Weitere mythologische Anspielungen:

  • Der Fremde vor dem Eingang der Aussegnungshalle, erhöht auf der Freitreppe stehend, ist mehr als eine Randfigur. Er ist zugleich Allegorie. So tritt er auch auf: Es bleibt offen, woher er gerade hergekommen ist, und ebenso spurlos ist er wieder verschwunden. Mythologisch lässt er sich sowohl als Thanatos wie auch als Dionysos [Motiv des Weitgereisten und Fremdseins] verstehen. Seine Haltung mit den gekreuzten Füßen schließlich erinnert außerdem an eine typische Pose antiker Hermes-Skulpturen.
  • Der Gondoliere rudert von Aschenbach nicht zur Vaporetto-Station, sondern gegen dessen Willen über die Lagune zum Lido. Nachdem zuvor die Gondel mit einem Sarg verglichen worden ist, entsteht beim Leser eine Charon-Assoziation. Die letzte Überfahrt ist ebenfalls ohne Umkehr und der Fährmann bestimmt das Ziel.
  • Das vierte Kapitel setzt ein mit mythologischen Bildern der griechischen Antike, in einer hymnischen Sprache und einem Silbenrhythmus, aus dem sich der eine und andere Hexameter herauslesen lässt. Überschreiben ließe es sich mit „mythische Verklärung der Welt“.
  • Tadzio ist „das Werkzeug einer höhnischen Gottheit“, des rauschhaften und zügellosen Gottes Dionysos. Er ist zugleich aber auch Hermes Psychopompos, der Aschenbach letztendlich in den Tod bzw. das Meer geleitet.

Décadence–Motive

Literaturgeschichtlich ist «Der Tod in Venedig», entstanden am Vorabend des Ersten Weltkrieges, zugleich Höhe- und Endpunkt der Décadence-Literatur des zu Ende gegangenen 19. Jahrhunderts. Der Zauberberg (1924) zählt nicht mehr dazu. Er bildet nach einem Selbstkommentar Thomas Manns (am 29. März 1949 an Hermann Ebers) den Übergang zur zweiten Hälfte seines Lebenswerkes. In dem Sanatoriumsroman verabschiedet sich Thomas Mann im Kapitel «Schnee» von der Sympathie mit dem Tode (Hans Castorps Schneetraum).

  • Venedig selbst mit seinem leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf, die Stadt, in der Richard Wagner musikalische Inspirationen für Tristan und Isolde gefunden hat.
  • Das Klima Venedigs bekommt von Aschenbach nicht. Während des Versuches einer Abreise (drittes Kapitel) erkennt er die Stadt als einen ihm unmöglichen und verbotenen Aufenthalt, dem er nicht gewachsen war.
  • Von Aschenbachs schwächliche Konstitution. Als Kind war er auf ärztlichen Rat vom Schulbesuch ausgeschlossen worden. Hauslehrer mussten ihn unterrichten. Seine Leistungen als Schriftsteller muss er sich mit äußerster Willensanspannung abringen, ständig am Rande der Erschöpfung. Seinen Heroismus, sein Ethos findet von Aschenbach in der täglichen Überwindung von Schwäche.
  • Tadzios blasser Teint mutet kränklich an. Später fallen von Aschenbach Tadzios ungesunde Zähne auf. Von Aschenbach glaubt nicht, dass der Knabe einmal alt werden wird und empfindet bei dieser Feststellung ein Gefühl der Beruhigung oder Genugtuung.
  • Von Aschenbachs Selbstaufgabe und Todeswunsch, - ihm vielleicht nur halb bewusst, aber nicht zu überlesen. Von dem Angestellten eines englischen Reisebüros wusste er, dass die indische Cholera in der Stadt grassiert, dass kürzlich eine Grünwarenhändlerin an der Seuche gestorben war, wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden, Gemüse, Fleisch oder Milch. Deutsche Tagesblätter hatten zudem über die Heimsuchung der Lagunenstadt berichtet. Trotzdem kauft er in der kranken Stadt vor einem kleinen Gemüseladen einige Früchte, Erdbeeren, überreife und weiche Ware und aß im Gehen davon. [11]

Selbstkommentar Thomas Manns

Am 4. Juli 1920 schreibt Thomas Mann dem Lyriker und Essayisten Carl Maria Weber (1890–1953): „Leidenschaft als Verwirrung und Entwürdigung war eigentlich der Gegenstand meiner Fabel, – was ich ursprünglich erzählen wollte, war überhaupt nichts Homo-Erotisches, es war die – grotesk gesehene – Geschichte des Greises Goethe zu jenem kleinen Mädchen in Marienbad, das er mit Zustimmung der streberisch-kupplerischen Mama und gegen das Entsetzen seiner eigenen Familie partout heiraten wollte, diese Geschichte mit allen ihren schauerlich komischen, zu ehrfürchtigem Gelächter stimmenden Situationen, […].“ Der Titel des Novellenplanes lautete: Goethe in Marienbad.

„Ein Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit wurde angestrebt […]. Daß aber die Novelle hymnischen Ursprungs ist, kann Ihnen nicht entgangen sein.“ Thomas Mann zitiert weiter aus seinem Gesang vom Kindchen eine Folge von sieben Hexametern, die sich auf die Venedignovelle beziehen. Die Sequenz schließt mit: „Siehe, es ward dir das trunkene Lied zur sittlichen Fabel.“ Er habe sich um der Modernität willen gezwungen gefühlt, „den ‚Fall‘ auch pathologisch zu sehen und dies Motiv (Klimakterium) mit dem symbolischen (Tadzio als Hermes Psychopompos) changieren zu lassen.“ - „Etwas noch Geistigeres, weil Persönlicheres kam hinzu: die durchaus nicht ‚griechische‘, sondern protestantisch-puritanische (‚bürgerliche‘) Grundverfassung der erlebenden Helden nicht nur, sondern auch meiner selbst; mit anderen Worten: unser gründlich mißtrauisches, gründlich pessimistisches Verhältnis zur Leidenschaft selbst und überhaupt.“

Thomas und Katia Mann, 1929

Nach Tonio Kröger, den er eine Art Selbstporträt genannt hat,[12] suchte Thomas Mann die Lebensform des Künstlers und Dichters zu beenden, der er stets mit dem äußersten Misstrauen gegenüberstand - so rückblickend in der autobiographischen Skizze Im Spiegel (1907). Er gab sich eine Verfassung [13] und heiratete die Millionärstochter Katia Pringsheim. Nach seiner Verlobung schrieb er seinem Bruder: Ich fürchte mich nicht vor dem Reichthum.[14] Zur Hochzeit ist Heinrich Mann nicht gekommen. Katia Mann hat er zeitlebens gesiezt.[15]

Die Ehe verordnete Thomas Mann sich als ein strenges Glück, - nicht ohne Skepsis: Wer schon vor «Königliche Hoheit» einen «Friedrich» plante,[16] hat wohl nie so ganz innerlich an ein „strenges Eheglück“ geglaubt.[17] Mit dem in den ersten Ehejahren entstandenen Roman Königliche Hoheit (1909) erreichte Thomas Mann vorerst nicht wieder die Höhe seiner schriftstellerischen Möglichkeiten. Der Tod in Venedig aber wurde ein Meisterwerk. Es stimmt einmal Alles, es schießt zusammen, und der Kristall ist rein [18]. Thomas Mann hat Gustav von Aschenbach stellvertretend für sich sterben lassen und sich fortan akzeptiert. Die Lebenslüge vom strengen Eheglück ließ er fallen.

Für Katia Mann, die in der Venedig-Novelle die homoerotische Orientierung ihres Mannes erkannt hatte, folgte eine längere Zeit mit Kränklichkeit und verschiedenen Sanatoriumsaufenthalten, dessen bekanntester auf Davos fiel. In Davos fand Thomas Mann die Inspiration zu Der Zauberberg, als er besuchsweise dort einige Wochen verbrachte.[19] Nach Der Tod in Venedig, nach Aufgabe der Willensanstrengung, ein strenges Eheglück zu leben, war es von nun an tiefe Dankbarkeit, die ihn mit seiner Frau Katia verband und die sich als sehr tragfähig erweisen sollte.[20]

Bearbeitungen

1971 wurde die Novelle von dem italienischen Regisseur Luchino Visconti unter dem Titel Morte a Venezia mit Dirk Bogarde als Aschenbach verfilmt.

1973 wurde Benjamin Brittens Oper Death in Venice beim Aldeburgh Festival uraufgeführt.

John Neumeier choreographierte und inszenierte das Ballett Tod in Venedig, das er als „Totentanz, frei nach Thomas Mann“ bezeichnete. Er verwendete dafür zum einen Werke von Johann Sebastian Bach, vorwiegend das Musikalische Opfer, zum anderen verschiedene Kompositionen von Richard Wagner, darunter das Vorspiel und Isoldes Liebestod aus Tristan und Isolde. Die Uraufführung fand am 7. Dezember 2003 in Hamburg statt. Es tanzte das Hamburg Ballett. Aschenbach, der in dieser Fassung Choreograph ist, wurde von Lloyd Riggins, Tadzio von Edvin Revazov getanzt.

Einzelnachweise

  1. Heft 10-11
  2. Hans Joachim Sandberg: Der „fremde Gott“ und die Cholera. Nachlese zum Tod in Venedig. In: Eckhard Heftrich/Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann und seine Quellen : Festschrift für Hans Wysling'. Klostermann, Frankfurt am Main 1991, S. 78.
  3. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Sonderausgabe: Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. C.H.Beck, München 2006, S. 194.
  4. Ein Bildnis des Knaben enthält: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Hrg. v. H. Wysling u. Y. Schmidlin;
  5. Zu Thomas Manns Motiv der Heimsuchung siehe auch «Der kleine Herr Friedemann».
  6. Thomas Mann unterlässt es zwar, die Todesursache ausdrücklich zu benennen. Doch einige Seiten zuvor erwähnt er, sich allgemein über die Cholera äußernd, die Möglichkeit eines so plötzlichen und tödlichen Verlaufes.
  7. Einsamkeit in diesem Zusammenhang spielt an auf Schopenhauers Gedanken zu Geistigkeit und „geistiger Aristokratie“.
  8. Verkürzte und adaptierte Wiedergabe eines frühen, noch unbestimmten Charakterentwurfes aus «Das Theater als Tempel».
  9. Vergleiche zu diesem dionysischen Rausch auch den Abschnitt "Mythologische Motive" (s.u.).
  10. Bartlosigkeit war angesichts der Männermode vor dem Ersten Weltkrieg etwas Ungewöhnliches.
  11. Abgesehen vom aktuellen Infektionsrisiko hat sich von Aschenbach soweit aufgegeben, dass er in der Öffentlichkeit im Gehen aus einer Tüte isst, - eine vor dem ersten Weltkrieg für einen „Herrn“ krasse Würdelosigkeit. Ein „Herr“, wenn er flanierte, ging damals mit Hut, Spazierstock und Handschuhen, die sommers in der Hand getragen wurden.
  12. Thomas Mann am 26. Januar 1903 an Richard Schaukal
  13. am 17. Januar1906 an Heinrich Mann: Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben.
  14. am 27. Februar 1904 an Heinrich Mann
  15. Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren
  16. Eine größere Novelle über Friedrich II.
  17. am 26. Januar 1910 an Heinrich Mann
  18. am 12. März 1913 an Philipp Witkop
  19. Jochen Eigler: Thomas Mann - Ärzte der Familie und die Medizin in München. Spuren in Leben und Werk (1894-1925). In: Thomas Sprecher: Literatur und Krankheit im Fin-de-Siecle (1890-1914): Thomas Mann im europäischen Kontext : die Davoser Literaturtage 2000. Klostermann, Frankfurt am Main 2002, S. 13ff.
  20. Vgl. insgesamt: Ruprecht Wimmer: Eröffnung der Davoser Literaturtage 2004. Liebe und Tod. In Venedig und anderswo. In: Thomas Sprecher: Liebe und Tod - in Venedig und anderswo. Klostermann, Frankfurt am Main 2005, S. 9ff.

Literatur

Erstausgabe des Verlags S. Fischer 1913 nach der limitierten Vorzugsausgabe (Hundertdruck) von 1912 im Verlag Hans von Weber

Textausgaben

  • Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main: S. Fischer (1992), 139 S. ISBN 3-596-11266-4
  • Thomas Mann: Der Tod in Venedig. (Sonderausgabe) Frankfurt am Main: S. Fischer (2007), 139 Seiten ISBN 978-3-596-17549-9

Sekundärliteratur

  • Hans Wysling/M. Fischer (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen. Thomas Mann. [Ohne Angabe des Verlagsortes] Ernst Heimeran Verlag 1975, S.393–449
  • Ehrhard Bahr: Der Tod in Venedig, Erläuterungen und Dokumente. Reclam, Stuttgart 1991
  • Manfred Dierks: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum „Tod in Venedig“, zum „Zauberberg“ und zur „Joseph-Tetralogie“. In: Thomas Mann Studien, 2. Bd.; Bern 1972
  • Werner Frizen: Der Tod in Venedig (Oldenbourg Interpretationen Nr. 61). München 1993, ISBN 3-486-88660-6
  • Ursula Geitner: Männer, Frauen und Dionysos um 1900: Aschenbachs Dilemma. In: Kritische Ausgabe 1/2005, 4ff. ISSN 1617-1357
  • Wilhelm Große: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 47). Hollfeld: Bange Verlag 2002. ISBN 978-3-8044-1719-9
  • Martina Hoffmann: Thomas Manns Der Tod in Venedig. Eine Entwicklungsgeschichte im Spiegel philosophischer Konzeptionen. Lang, Frankfurt/M. 1995. ISBN 3-631-48782-7
  • Hans Mayer: Thomas Mann. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1980. ISBN 3-518-03633-5
  • Hans W. Nicklas: Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“. Analyse des Motivzusammenhangs und der Erzählstruktur. In: Marburger Beiträge zur Germanistik; Hrsg.Kunz, Josef und Schmitt, Ludwig Erich; Bd. 21; Marburg 1968
  • Hans Wysling: Dokumente und Untersuchungen. Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung. Bern 1974
  • Hans Wysling/Yvonne Schmidlin: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Artemis, Zürich 1994, S.198 - 203
  • Thomas Sprecher (Hrsg.): Liebe und Tod - in Venedig und anderswo. Die Davoser Literaturtage 2004. Klostermann, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-465-03438-4

Der Wikipedia-Artikel ´Der Tod in Venedig´ ist in die Bibliographie ´Thomas-Mann-Leser und -Forscher´ der FU Berlin aufgenommen.

Weblinks


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