KHM 26

KHM 26
Rotkäppchenfigur in Bad Wildbad (Enzuferillumination), 2004

Rotkäppchen (auch: Rotkäppchen und der Wolf, im österreichischen Burgenland auch als Piroschka bekannt) ist eines der bekanntesten Märchen der Brüder Grimm, das im 1812 erschienenen ersten Band ihrer Kinder- und Hausmärchen mit der Nummer 26 (in diesem ersten Band ohne Illustration) enthalten ist. Rotkäppchen ist gleichzeitig die Titelgestalt dieses Märchens.

Inhaltsverzeichnis

Überlieferung

In Deutschland ist Rotkäppchen hauptsächlich in der Grimmschen Fassung bekannt. Eine ältere literarische Fassung ist die französische von Charles Perrault unter dem Titel le Petit Chaperon rouge aus dem Jahre 1697. Rotkäppchen gehört zu den am häufigsten bearbeiteten, interpretierten und auch parodierten Märchen.

Rotkäppchen wird häufig in Kleidung dargestellt, die der Schwälmer Tracht nachempfunden ist. In der Innenstadt von Treysa, einer Schwälmer Stadt unweit der Grimmschen Wirkungsstätte Kassel, stehen Skulpturen von Rotkäppchen und dem Wolf. Das Mädchen trägt dort die typischen Schnallenschuhe und die knielangen Röcke, die sich wie eine Glocke wölben – zusammen mit dem spitzen Haarknoten (Schnatz) auf dem Kopf sind das typische Merkmale der Schwälmer Tracht.

Inhalt

Ein kleines Mädchen, dem seine Großmutter einst eine rote Kappe geschenkt hatte, wird von der Mutter geschickt, der in einem Haus im Wald wohnenden, bettlägerig kranken Großmutter einen Korb mit Leckereien zu bringen. Im Wald, auch wenn sie durch diesen nicht hätte gehen dürfen, lässt sich Rotkäppchen auf ein Gespräch mit einem Wolf ein. Der Wolf horcht Rotkäppchen aus und überredet es, noch einen Blumenstrauß zu pflücken, was Rotkäppchen trotz Warnung der Mutter tut. Der Wolf verabschiedet sich, eilt zur Großmutter und frisst sie auf. Er legt sich in Großmutters Nachthemd in Großmutters Bett und wartet auf Rotkäppchen. Bald darauf erreicht Rotkäppchen das Haus, tritt ein, und begibt sich in (Perrault) beziehungsweise an (Grimm) Großmutters Bett. Dort wundert sich Rotkäppchen über die Gestalt seiner Großmutter, erkennt aber nicht den Wolf, bevor es von diesem ebenfalls gefressen wird.

Hier endet das Märchen bei Perrault. Bei den Grimms werden beide Opfer von einem Jäger aus dem Bauch des Wolfes befreit, dieser näht dem Wolf anstatt dessen Steine in den Bauch. Vom Gewicht der Steine kann der Wolf nicht fliehen und stirbt. In der italienischen Version Die falsche Großmutter befreit sich Rotkäppchen durch ihre eigene Schläue und flieht. Der Wolf stirbt anschließend.

Interpretationen

Unter den psychoanalytischen Interpretationen ragt die von Erich Fromm heraus, der nur die Grimmsche Fassung zu Grunde legt und auf diese psychoanalytische Schemata anwendet, insbesondere Topoi psychoanalytischer Sexualtheorie.

Andere meinen, dass das Märchen vor Vergewaltigung warnen will, da der Wolf nicht nur Wolf sondern auch Herr Wolf heißt, und Rotkäppchen noch gewarnt wird, nicht vom Wege abzukommen und niemandem zu trauen.

Rotkäppchen – Ursprünge und Entwicklung

Das Märchen „Rotkäppchen“ ist ohne Zweifel eine der bekanntesten Erzählungen Europas. Im Laufe der Zeit hat sich die Geschichte in vielerlei Hinsicht gewandelt, sie wurde unterschiedlich interpretiert und legte immer wieder neue moralische Aussagen nahe. Auch wurde der Stoff unzählige Male neu umgesetzt, es entstanden Fassungen, die die Hauptfigur aus dem Wald in eine neue Umgebung versetzten und die Handlung veränderten. Im folgenden soll die Entwicklung der Geschichte an einigen ausgewählten Beispielen deutlich gemacht werden.

Entstehung

Die Geschichte von dem kleinen naiven Mädchen, das vom Wolf hinters Licht geführt wird und wie seine Großmutter schließlich gefressen wird, war ursprünglich eine Volksüberlieferung, die von Generation zu Generation vor allem mündlich weitergegeben wurde. Aus diesem Grund ist es schwierig, einen genauen Zeitpunkt zu bestimmen, wann das Märchen entstand.

Einer Theorie zufolge, die der Italiener Anselmo Calvetti entwickelte, könnte die Geschichte sogar schon in der Frühgeschichte der Menschheit erstmals erzählt worden sein. Sie könnte Erfahrungen verarbeiten, die die Menschen bei einem Initiationsritus zur Aufnahme in den Stammesclan machten. Hierbei wurden sie symbolisch von einem Ungeheuer (dem Totemtier des Clans) verschlungen, mussten körperliche Schmerzen und kannibalische Handlungen ertragen, um schließlich „wiedergeboren“ zu werden und damit als erwachsen und Mitglied des Stammes zu gelten. Diese Interpretation wird auch von W. J. Propp gegeben, der Rotkäppchen als Initiationsmärchen und damit als Zaubermärchen einstuft.

In einigen „Rotkäppchen“-Versionen taucht auch dieser Kannibalismus wieder auf. Das hungrige Rotkäppchen isst vom Fleisch der Großmutter und trinkt von ihrem Blut, ohne dies zu wissen. Die Verwendung des Wolfes als böse Macht könnte auf die Angst der Menschen vor Werwölfen zurückgehen. Besonders im 16. und 17. Jahrhundert gab es, ähnlich wie die Hexenverfolgungen, zahlreiche Prozesse, in denen Männer beschuldigt wurden, Werwölfe zu sein und Kinder gefressen zu haben.

Einzelne Motive der uns heute bekannten Fassung sind tief in der Literaturgeschichte verwurzelt. So gibt es beispielsweise den Mythos von Kronos, der seine eigenen Kinder verschlingt. Diese können allerdings wieder aus seinem Bauch entfliehen und ersetzen das fehlende Gewicht durch einen Stein. In der Spruch- und Erzählsammlung „Fecunda ratis“, die Egbert von Lüttich um 1023 verfasste, findet sich die Geschichte eines kleinen Mädchens, das in Gesellschaft von Wölfen aufgefunden wird und ein rotes Kleidungsstück, wahrscheinlich ein Käppchen, besitzt.

Charles Perraults petit chaperon rouge

Eine der ältesten bekannten schriftlichen Fassungen stammt von dem Franzosen Charles Perrault und wurde 1697 unter dem Titel Le petit chaperon rouge veröffentlicht. Da die Erzählung für die Lektüre am französischen Hof von Versailles bestimmt war, verzichtete er weitgehend auf Elemente, die als vulgär gelten könnten (z. B. Kannibalismus). Dennoch nimmt die Geschichte kein gutes Ende, die Großmutter und das Rotkäppchen werden vom Wolf gefressen, ohne gerettet zu werden. In diese Version sind zahlreiche Anspielungen auf Sexualität eingewoben (z. B.: Rotkäppchen legt sich auf dessen Aufforderung hin nackt zum Wolf ins Bett). Ans Ende ist zudem ein kleines Gedicht angehängt, das kleine Mädchen vor Sittenstrolchen warnt. Perrault hatte die Absicht, mit der Erzählung explizit moralische Verhaltensmaßregeln festzusetzen und griff dabei zum Mittel der Abschreckung, anstatt den Kindern ihre Angst zu nehmen, wie Märchen dies sonst oft tun. Natürlich wurde Rotkäppchen auch in andere Sprachen übersetzt, so ist es beispielsweise in England unter dem Titel Little Red Riding Hood bekannt. Bereits 1729 wurde Perraults Märchen von Robert Samber ins Englische übertragen und im selben Jahr veröffentlicht.

Erste deutsche Fassungen

Die erste deutsche Übersetzung des französischen Petit Chaperon Rouge erschien 1790. Der Übersetzer war Friedrich Justin Bertuch. Im Buch "Die Blaue Bibliothek aller Nationen" wurde sie veröffentlicht. Da die gehobenen Gesellschaftsschichten jedoch größtenteils der französischen Sprache mächtig waren, fand die Geschichte vermutlich schon vorher auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung.

Die Fassung, die 1812 in dem ersten Band der Kinder-und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm erschien, hat einen guten Ausgang. Ein Jäger rettet das Rotkäppchen und seine Großmutter aus dem Bauch des Wolfes und füllt diesen stattdessen mit Steinen, was schließlich zum Tod des Tieres führt. Dieses Ende ist einem weiteren Märchen entliehen, das die Grimms aufschrieben: Der Wolf und die sieben jungen Geißlein.

In derselben Ausgabe veröffentlichten die Autoren noch eine Art Fortsetzung, in der das Mädchen erneut einen Wolf trifft. Diesmal beweist es, dass es aus dem vorherigen Erlebnis gelernt hat und alarmiert die Großmutter. Mit vereinten Kräften gelingt es den beiden, das Tier zu überlisten, das schließlich, wie auch sein Vorgänger, stirbt. Das Märchen der Brüder Grimm geht teilweise auf eine Nacherzählung von Johanna Isabella Hassenpflug (1791-1860) zurück. Sie gilt bei mehreren Geschichten als Quelle der Grimms. Zudem orientiert es sich an der erstmals 1800 erschienenen dramatischen Bearbeitung „Tragödie vom Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens“ von Ludwig Tieck (1773-1853). Diese wiederum entstand auf der Grundlage von Perraults Geschichte. Somit hat auch das Grimmsche Märchen indirekt Perrault als Vorlage. Allerdings reinigten die Brüder die ursprüngliche Fassung von ihrer Meinung nach zu grausamen, zu sexuellen und zu tragischen Komponenten und passten es so den Ansprüchen des im 19. Jahrhundert aufsteigenden Bürgertum an.

Zur Interpretation des Tieck'schen Rotkäppchens: Tiecks Bearbeitung des Rotkäppchen-Stoffes stammt aus der Zeit großer Unruhen: Die Vorgänge der französischen Revolution breiteten ihren Einfluss nach Deutschland aus und wurden von vielen Intellektuellen begrüßt. Nach dem Machtantritt Napoleons wechselte die Begeisterung über die revolutionären Ideale bald zur erschütternden Enttäuschung über die imperialen Bestrebungen des französischen Kaisers. Tieck - selbst zunächst Anhänger der Jakobiner - verarbeitete wohl die Enttäuschung über den Verrat der Revolution zur Errichtung des französischen Kaiserreichs in seinem literarischen Werk: so auch im Rotkäppchenmärchen.

19. Jahrhundert

Illustration von Walter Crane (1845–1915)
Rotkäppchen, Ölgemälde von Albert Anker, 1883

Im weiteren Verlauf des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts blieb das Märchen in seiner Struktur weitgehend unverändert, einige Autoren entfernten jedoch auch noch die wenigen übriggebliebenen Gewaltszenen (z. B. das Verschlingen des Rotkäppchens) und Stellen mit sexuellem Unterton, die sie als zu roh empfanden. Meist blieb Rotkäppchen in ihrer naiven und hilflosen Position und wurde vom männlichen Jäger gerettet, was das Frauenbild der Zeit widerspiegelt. In Deutschland wurde das Märchen im 19. Jahrhundert zunehmend niedlicher und christlicher, um es den Kindern zugänglicher zu machen. Die Brüder Grimm selbst zensierten ihre eigenen Märchen mehrmals, bis der Wolf 1857 zum alten Sünder wurde. 1853 nahm Ludwig Bechstein Rotkäppchen in sein Deutsches Märchenbuch auf, wobei die Grimmsche Fassung auch hier als Vorlage diente. Er versuchte zwar, seine Version witziger und volkstümlicher zu gestalten, was jedoch durch seinen gekünstelten Stil leicht ins Kindische abdriftete, verhielt sich jedoch zu jedem Zeitpunkt loyal zu den Märchenbrüdern.

Um 1830 herum verfasste Eduard Mörike ein Gedicht namens Rotkäppchen und der Wolf. Hier bereut der Wolf seine Tat und hofft, dass das tote Mädchen ihm eines Tages verzeihen kann. Weitere Versionen entstanden durch Gustav Holting (1840), der auch das Motiv des sündhaften Wolfes verwendet, Moritz Hartmann (1869) und Ernst Siewerts (1880). Interessanterweise tauchen in den deutschen Bearbeitungen im Gegensatz zu den französischen Versionen selten erotische Elemente auf, stattdessen wurde viel Wert auf Ruhe und Ordnung gelegt.

Alexander von Ungern-Sternberg dagegen setzte Rotkäppchen 1850 eher lustig um und parodierte biedermeierliches Benehmen. Anna Costenoble veröffentlichte 1907 das Buch Ein Frauenbrevier für männerfeindliche Stunden, in dem sie in einer Rotkäppchen-Parodie die lächerlichen Sitten der deutschen Oberschicht behandelt. In Frankreich entstand eine Vielzahl von Adaptionen, so zum Beispiel die Oper „Le petit chaperon rouge“ mit der Musik von François Adrien Boieldieu und dem Text von Marie E. G. M. Thèaulon de Lambert. Hierbei handelt es sich um ein sehr sentimentales Musikstück, das in Frankreich und Deutschland, aber auch in England und Amerika Verbreitung fand. 1862 verfasste Alphonse Daudet mit Le Roman du chaperon-rouge ein weiteres wichtiges Stück, in dem Rotkäppchen die spießbürgerlichen Normen der Gesellschaft ablehnt und so zum Symbol des Protests wird. Am Ende muss sie jedoch sterben. Das Märchen war in dieser Zeit derart bekannt und gegenwärtig, dass es ein wichtiger Bestandteil der Kindeserziehung in allen sozialen Schichten war. Besonders der Aspekt des Gehorsams wurde in den zahlreichen Fassungen, Zeichnungen und Bilderbögen betont (z. B. Charles Marelle: Vèritable Histoire du Petit Chaperon dór (Die wahre Geschichte vom Goldkäppchen, 1888)).

Eine sehr interessante Version lieferte Pierre Cami 1914 mit seinem kurzen Stück Le petit chaperon vert (Das Grünkäppchen). Die Eltern von Grünkäppchen werden hier als absurde Figuren dargestellt, das Mädchen selber dagegen zeichnet sich durch Eigenständigkeit und Schlauheit aus. Es gelingt ihr, sich mithilfe von Wortspielen selbst zu retten, indem es nie die richtigen Fragen liefert („Großmutter, was hast du denn für große Zähne?“) und den Wolf so aus dem Konzept bringt. Dieser verlässt schließlich das Haus mit den Worten: „Oh, wo sind nur die naiven Kinder von früher, die sich so leicht fressen ließen!“. Diese Art von Parodie etablierte sich besonders nach dem Ersten Weltkrieg, als auch die Rolle der Frau sich bedeutend änderte. Auch in englischer Sprache gab es zahlreiche Adaptionen, wovon einige wenige ebenfalls parodistischer Natur waren, so beispielsweise „The true historie of little red riding hood on the lamb in wolf´s clothing“ (1872) von Alfred Mills, der die Geschichte benutzte, um sich über die aktuelle Tagespolitik lustig zu machen. 1890 wurde Rotkäppchen sogar in der Werbung verwendet: Schultz and Company setzten sie in der STAR-Seife-Reklame ein. Hierbei gab es zwei Komponenten:

„Moral I: Wenn du in dieser Welt willst sicher sein / vor Gefahr, Hader und Sorge, /

gib acht, mit wem du dich lässt ein / und wie und wann und wo.

Moral II: Und du solltest immer reinlich sein / und fröhlich, niemals Trübsal blasend, /

um beides zu erreichen, mein Kind, musst du / immer unsere STAR-Seife nehmen“

Vom naiven zum eigenständigen Rotkäppchen

Illustration von Arpad Schmidhammer, um 1910
Rotkäppchen-Skulptur des 1913 errichteten Märchenbrunnens im Volkspark Friedrichshain in Berlin
Plakat der US-amerikanischen Works Progress Administration, 1939

Im 20. Jahrhundert wurde Rotkäppchen zunehmend witziger, aufsässiger und auch realistischer umgesetzt. Hierbei ist bemerkenswert, dass viele Fassungen mit ihren ironischen Elementen primär für Erwachsene gedacht waren.

1923, in der Zeit der Weimarer Republik, einer Phase literarischer Experimentierfreudigkeit, auch in Bezug auf Märchen, entstand eine stark satirische Version, in der traditionelle Kindererziehung und Vorstellungen von Sexualität hinterfragt werden: Joachim Ringelnatz schrieb Kuttel Daddeldu erzählt seinen Kindern das Märchen vom Rotkäppchen. Weder Rotkäppchen selber, noch die Zuhörer/Leser werden hier allzu sanft behandelt. Der unverschämte Erzähler identifiziert sich mit der Großmutter, die im Laufe des Märchens beginnt, alles zu verschlingen, was in ihre Reichweite kommt.

Werner von Bülow dagegen interpretierte „Rotkäppchen“ in den 20er Jahren in extrem rassistischer und übertrieben nationalistischer Weise und sah sogar Parallelen zur Dolchstoßlegende. Sein Essay erschien im Hakenkreuz-Verlag. Es gab während dieser Zeit zahlreiche Bestrebungen, sämtliche Grimmsche Märchen auf deutschen Ursprung zurückzuführen, was ziemlich aussichtslos war, da viele aus Frankreich oder anderen europäischen Ländern stammen.

Es gab jedoch auch Versuche, der nationalsozialistischen Propaganda entgegenzuwirken. 1937 erschien in den Münchner Neuesten Nachrichten eine anonyme Fassung, die anfing wie folgt: „Es war einmal vor vielen, vielen Jahren in Deutschland ein Wald, den der Arbeitsdienst noch nicht gerodet hatte, und in diesem Wald lebte ein Wolf. An einem schönen Sonntag nun, es war gerade Erntedankfest, da ging ein kleines BDM-Mädel durch den Wald. Es hatte ein rotes Käppchen auf und wollte seine arische Großmutter besuchen, die in einem Mütterheim der NSV untergebracht war. ...“ 1939 veröffentlichte der New Yorker Humorist James Thurber sein Essay The Girl and the Wolf, an dessen Ende Rotkäppchen einen Revolver zieht und den Wolf erschießt. Mit Thurbers Moral - kleine Mädchen lassen sich heute nicht mehr so leicht hinters Licht führen - begannen sich die originalen Charaktere ins Gegenteil zu verkehren. Nach 1945 folgten zahlreiche Parodien, wie zum Beispiel Catherine Storrs „Pollykäppchen“ (im Band Clever Polly and the Stupid Wolf, 1955). Die schlaue und furchtlose Polly trickst hier den dämlichen und eingebildeten Wolf ein ums andere Mal aus, ohne dabei die Hilfe anderer zu brauchen. Es gab jedoch auch ernsthaftere Bearbeitungen, die das Mädchen allerdings gewöhnlich ebenfalls eher selbstbewusst darstellen, so gibt es z. B. auch Versionen von feministischen Autoren. Ab und zu wurde Rotkäppchen auch mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht und dementsprechend gestaltet. Im Grunde ist jedoch eine Grundidee zu erkennen: Rotkäppchen ist nicht länger unschuldig, unartig und hilflos, sondern intelligent und durchaus in der Lage, sich selbst zu helfen.

In einigen Fassungen wird der Wolf nicht mehr als böser Charakter geschildert, sondern als missverstandene Figur, die im Grunde nur ihre Ruhe haben will, so z. B. in Phillippe Dumas´ und Boris Moissards „Blaukäppchen“. Auch in Günter Grass´ Die Rättin kommen Rotkäppchen und der Wolf vor. In diesem Roman ergreifen Märchengestalten die Macht, stiften Verwirrung, retten schließlich jedoch die Welt.

Roald Dahl versuchte, mit seinem Gedicht Little Red Riding Hood (1982) die Leser anzuregen, sich von der traditionellen Märchenrezeption zu lösen und neue Zugänge zu finden. In dem Text stellt Rotkäppchen Fragen zu dem schönen Pelz des Wolfes. Als der verärgerte Wolf sie schließlich fressen will, erschießt sie ihn mit einer Pistole, um seinen Pelz anschließend stolz im Wald umherzutragen.

In den letzten 20 Jahren entstanden zahlreiche weitere Bearbeitungen. Thaddäus Troll verfasste „Rotkäppchen auf Amtsdeutsch“ und Janosch bearbeitete den Stoff in „Das elektrische Rotkäppchen“. Otto Waalkes benannte einen Sketch nach dem Märchen und ließ das Mädchen auch in seinem Film 7 Zwerge - Männer allein im Wald auftreten. Der Film Die Zeit der Wölfe verarbeitet das Motiv in einer Fantasy/Horror-Interpretation, während der japanische Anime-Film Jin-Roh die Symbolik des Märchens in eine antifaschistische und gewaltkritische Hintergrundgeschichte einwebt. Im Jahr 2004 verarbeitet die französische Sängerin Zazie die Geschichte des Rotkäppchens in dem Song "Toc Toc Toc", in dem sie - aller Wahrscheinlichkeit nach - ihre eigene Entwicklung vom kleinen Mädchen, welches die Angst einflößende Geschichte vom Rotkäppchen erzählt bekommt, bis hin zur Frau, die auf der Suche nach den - möglicherweise gar nicht mehr existierenden - Prinzen, eigentlich darauf wartet, vom Wolf gefressen zu werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Märchen im Laufe der Zeit und mit Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen wie dem Aufstieg des Bürgertums im 19. Jahrhundert oder der Emanzipation der Frau im 20. Jahrhundert fortlaufend verändert hat. Trotzdem ist auch heute noch die Grimmsche Märchenfassung in Deutschland am bekanntesten.

Quellen

  • Jack Zipes: Rotkäppchens Lust und Leid - Biographie eines europäischen Märchens, Ullstein, 1985
  • Hans Ritz: Die Geschichte vom Rotkäppchen - Ursprünge, Analysen, Parodien eines Märchens, Muriverlag, 1997
  • Bruno Bettelheim: „Kinder brauchen Märchen“, dtv, 1995
  • Walter Scherf: „Lexikon der Zaubermärchen“, Kröner, 1982

Theaterfassung

  • Gerd-Josef Pohl: Rotkäppchen als Puppenspiel für Kinder im Kindergarten und Grundschulalter (Hrsg.: Piccolo Puppenspiele), Bonn 2003
  • Christel und Gerard Mereau: Rotkäppchen als Puppenspiel für Kinder von Christels Puppenbühne, Zülpich

Oper

  • François Adrien Boieldieu (1775 - 1834): Le petit chaperon rouge (1818 Paris); Letzte deutsche Aufführungsserie: Theater Lübeck 2001
  • Andreas Kröper: Rotkäppchen, eine Kinderoper. Libretto: nach Mathilde Wesendonck (Zürich 1861), Musik: W.A.Mozart (Auswahl verschiedener Opernarien), Uraufführung: Zürich 2008

Verfilmungen

Der Rotkäppchen-Stoff wurde erstmals 1931 verfilmt, ihm folgten bisher nahezu zehn Spiel- und Trickfilme, die sich eng an die Vorlage anlehnten.[1]

Daneben gibt es noch eine Reihe von Filmen, die mehr oder weniger stark von der historische Vorlage abweichen bzw. die Rotkäppchen-Figur in anderen Zusammenhängen auftauchen lassen. Dazu gehören:

Werbung

Rotkäppchen und der Wolf waren und sind beliebte Objekte für Werbung. Viele Produkte wurden in der Vergangenheit mit diesen Figuren beworben. Hier einige Beispiele: Kaffee, Essig, Bier, Gebäck, Schokolade, Nähgarn, Strickwolle usw. Auch ein Internet-Provider warb mit einer abgewandelten Szene aus dem Märchen: Rotkäppchen erkennt den Wolf als Bösen, nachdem sie ihn nach einem speziellen Produkt fragt und dieser es nicht im Angebot hat.

Einzelnachweise

Weblinks


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