Psychologiegeschichte

Psychologiegeschichte

Die Psychologie „hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte“ (Ebbinghaus, 1908). Die Wurzeln dieser Disziplin reichen weit in die Vergangenheit zurück, als anerkannte Wissenschaft jedoch gibt es die Psychologie erst seit dem 19. Jahrhundert.

Inhaltsverzeichnis

Die Anfänge der Psychologie

Auch wenn die Psychologie als eigenständiges wissenschaftliches Forschungsgebiet erst seit Ende des 19. Jahrhunderts existiert, hat die Beschäftigung mit der Seele, dem Erleben und Verhalten des Menschen eine weit zurückreichende Geschichte. Es beschäftigten sich zahlreiche Philosophen und Theologen, Mediziner und Physiologen mit Themen, die der Psychologie mit Gründung und Definition als akademisches Forschungsgebiet, nachträglich zugeschrieben werden können, und ihre Etablierung als eigenständige Wissenschaft vorbereiteten.

Schon im Papyrus Ebers wurde die Depression erwähnt, Platon entwickelte die Basis für das Schichtenmodell der Seele, das später Grundlage für Sigmund Freuds psychodynamisches Modell werden sollte, und Aristoteles schrieb ca. 350 v. Chr. ein Lehrbuch Über die Seele (griechisch Περὶ Ψυχῆς, lat. De Anima). Claudius Galenus beschreibt schon 170 n. Chr. die Anatomie des Gehirns. Avicenna erforscht um 1000 n. Chr. bereits psychische Erkrankungen und beschreibt die kognitiven Prozesse des Menschenverstandes, Vorstellungskraft, Denken, Glaube und Gedächtnis. Thomas von Aquin setzt sich um 1250 mit dem Leib-Seele-Problem auseinander und auch Descartes beschäftigt sich um 1630 mit der Existenz der Seele (res cogitans).

Der Ausdruck „Psychologie“ wird in einer Veröffentlichung von 1509 von Marko Marulić vermutlich das erste Mal verwendet, irrtümlich wird diese Historie oftmals Philipp Melanchthon oder Rudolf Goclenius zugeschrieben.

Julien Offray de La Mettrie veröffentlicht 1746 das Buch Der Mensch als Maschine (L’homme machine). Auch Gottfried Wilhelm Leibniz leistet Beiträge zur Entwicklung der Psychologie. Im 18. Jahrhundert verfasste der deutsche Aufklärungsphilosoph Christian Wolff (1679–1754) die Werke „Psychologia empirica“ und „Psychologia rationalis“. Die psychologia rationalis ist als apriorische (nicht-empirische) Disziplin ein Teilgebiet der Metaphysik (genauer: der metaphysica specialis), die Methode der psychologia empirica ist die Introspektion. (Der Ausdruck ‚rational‘ wurde bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Gegenbegriff zu ‚empirisch‘ verwendet, nicht als Gegenbegriff zu ‚irrational‘.) Es entsteht in der Folgezeit der Begriff der rationalen Psychologie, der dann (v.a. von Kant in der Kritik der reinen Vernunft) als „Wissenschaft der reinen Vernunft“ scharf zurückgewiesen wird (KrV B 404). Für Kant ist Psychologie immer empirisch; allerdings handelt es sich um eine „innere“ Empirie, um Introspektion mittels des „inneren Sinnes“.[1] Eine erste „Geschichte der Psychologie“ von Friedrich August Carus erschien 1808.

Und im 19. Jahrhundert nahmen Philosophen und Schriftsteller wie Arthur Schopenhauer, Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Friedrich Nietzsche viele wichtige psychologische Erkenntnisse vorweg.

Die Entwicklung der Psychologie zu einer empirischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert

Wilhelm von Humboldt gilt als wichtiger Forscher der Völkerpsychologie im 18. Jahrhundert, als deren Begründer der Philosoph Moritz Lazarus zu sehen ist. Auch der Philosoph und Linguist Heymann Steinthal ist als wichtiger Wegbereiter der Völkerpsychologie zu bezeichnen, die auch von Wilhelm Wundt beeinflusst wurde. Der Arzt und Soziologe Gustave Le Bon, der 1895 das Buch Psychologie der Massen veröffentlichte und Scipio Sighele, der 1891 das Werk Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen herausbrachte begründeten die Massenpsychologie, aus denen zusammen mit der Völkerpsychologie, die heutige Sozialpsychologie und Soziologie entstanden.

Auch Gabriel Tarde übte wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung dieser Fachbereiche aus. Die späteren Arbeiten Margaret Meads und Ruth Benedicts auf diesem Gebiet wurden Grundstein für Ethnologie und die spätere Ethnopsychoanalyse.

Im 19. Jahrhundert wurde die Psychologie, geprägt durch den Materialismus, eingeleitet durch Werke von Johann Friedrich Herbart, der im Jahre 1816 ein Lehrbuch zur Psychologie veröffentlicht und Charles Bell, der die Neurophysiologie erforschte, im wesentlichen durch Mediziner, Physiologen und Physiker vorangebracht, es beschäftigten sich die Physiologen Johannes Peter Müller und Ernst Heinrich Weber mit der Wahrnehmung der Sinnesorgane. Auch Hermann von Helmholtz und Gustav Theodor Fechner veröffentlichen Arbeiten, die sich mit der Sinnesphysiologie befassen. Der Mediziner Franz Joseph Gall entwickelte die Phrenologie. Weiter zu nennen sind Emil du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Carl Ludwig. Diese Arbeiten stellen die ersten Ansätze empirischer Forschung nach wissenschaftlichen Kriterien in diesem Bereich dar. Friedrich August Rauch veröffentlicht 1853 ein Lehrbuch der Psychologie und auch Herbert Spencer leistet wichtige Beiträge. Paul Broca forscht erfolgreich in der Neurophysiologie. Charles Darwin begründet 1872 die vergleichende Verhaltensforschung und betont dabei die Parallelen zwischen Mensch und Tier.

In der Neuzeit beschäftigten sich dann ohnehin alle traditionellen Fakultäten mit psychologischen Themen, also nicht nur die philosophische (die sich natürlich mit Philosophie, aber auch Mathematik und Logik und den Naturwissenschaften befasste, und die zudem die Propädeutik für alle Fakultäten übernahm), sondern auch die medizinische, die theologische und die Fakultät für die Jurisprudenz. Insbesondere die letztere hatte sich dieser Themen gerade auch in Bezug auf eine frühe „verhaltenswissenschaftliche“ Dimension angenommen; so entwickelten sich ja auch aus der Jurisprudenz heraus die Geschichts- und Staats-, und daraus dann die Wirtschaftswissenschaft, sowie später auch die Soziologie. In der medizinischen Fakultät beschäftigte man sich auch seit dem 17. Jahrhundert mit einem Themenkomplex psychologischer Phänomene, die man thematisch eingrenzen und vielleicht als frühe Form von deskriptiver Patho-Psychologie bezeichnen könnte. Eine explizite Wissenschaft von der Psyche gab es aber auch dort nicht.

Die Psychologie wird eigenständiges universitäres Forschungsgebiet

Der Beginn der Psychologie als akademische Disziplin ist wohl auf die Gründung des ersten Labors zur Erforschung psychologischer Phänomene im Jahre 1879 durch Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig zu datieren. In seinen ersten Versuchen beschäftigte er sich hauptsächlich mit der Erforschung der Wahrnehmungsphysiologie und begründete die sog. Leipziger Schule. Der Ansatz Wundts wird deshalb als Beginn der akademischen Psychologie angesehen, weil hier erstmals ein explizit empirisch-methodischer, an den experimentellen Naturwissenschaften orientierter und ausgerichteter Zugang methodologisch herausgearbeitet wurde. Die Psychologie als eigenständige Wissenschaft begann ihren Siegeszug an die Universitäten, auf der ganzen Welt entstanden Psychologische Institute an den Universitäten. In den USA engagierte sich William James. Im Oktober 1875 begann Wilhelm Wundt seine Lehrtätigkeit als Professor in Leipzig denn auch mit der Vorlesung „Logik und Methodenlehre mit besonderer Rücksicht auf die Methoden der Naturforschung“. Er war auf diese Professur berufen worden, weil Leipzig diese neue „Idee“, nämlich die, „dem Einfluss der Naturwissenschaft auf die Philosophie Geltung zu verschaffen“, fördern wollte.

Wegen offenkundiger Missverständnisse sei hier angemerkt, dass es dabei nicht um die Inhalte der Philosophie ging, sondern um die naturwissenschaftliche Erforschung ihrer Gegenstandsbereiche! Basierend auf einer methodologischen Auseinandersetzung, deren Ausgestaltung durch die sinnesphysiologischen Herangehensweisen geprägt worden war, die Methoden der Naturwissenschaften für philosophische Gegenstandsbereiche allgemein zu nutzen, galt Wundts besonderes Interesse dabei psychologischen Fragestellungen. Von Beginn an hatte Wundt engen Kontakt zum Physiker Gustav Theodor Fechner, der selbst bis 1874 Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät zu Leipzig gehalten hatte. Mit ihm besprach er auch seinen Plan zur Gründung eines psychologischen Instituts, zu der es wie beschrieben 1879 kam; zunächst als Privatinstitut, ab 1883 als offizielles Universitätsinstitut.

Grundsätzlich folgte die Psychologie dem oben genannten Selbstverständnis, weshalb Wundt und seine Kollegen die Psychologie auch als neue Disziplin der Naturforschung ansahen, die aus der Zusammenfügung von (Experimental-) Physik, der (experimentellen) Physiologie (damals vornehmlich ein Teilgebiet der Zoologie) und der (Angewandten) Mathematik unter strenger Beibehaltung des naturwissenschaftlichen Ansatzes und durch Anwendung dieser methodischen Prinzipien zwecks Erforschung psychologischer Phänomene geboren worden war.

Dieser Ansatz war so revolutionär und vielfach wohl auch ersehnt, dass Wissenschaftler dieser Disziplinen aus aller Welt begeistert nach Leipzig pilgerten, um bei Wundt zu studieren. Leipzig wurde zum „Mekka“ der neuen Naturwissenschaft Psychologie. In der Hochzeit hatte Wundt allein fast 40(!) wissenschaftliche Assistentenstellen. In diesen frühen Jahren entwickelten sich u. a. auch die psychologischen Disziplinen der Psychophysik und der Psychologischen Diagnostik, was wiederum für die Angewandte Mathematik und Statistik sehr fruchtbar war.

Die Psychologische Methodenlehre war dann generell im weiteren Verlauf der Geschichte für die Statistik (vgl. da z. B. auch Faktorenanalyse, Conjoint-Analyse) u. a., sowie später auch für die Entwicklung der Methoden der empirischen Sozialforschung (insbes. der Befragung (z. B. Interview, Fragebogenentwicklung) und der Beobachtung) uvm. sehr einflussreich und befruchtend.

Missverständnisse entstehen immer wieder, weil Wundt seinerzeit zwar Professor für Psychologie, aber Philosophieprofessor war, was aber darin begründet liegt, dass es damals nur die Fakultäten für Medizin, Jurisprudenz, Theologie und Philosophie gab. Teilweise ist dieser Ursprung auch heute noch sichtbar. So werden z. B. in den meisten Ländern der Welt auch Naturwissenschaftler (z. B. Physiker, Chemiker oder Biologen) zum Doktor der Philosophie (Ph.D.) promoviert. Eine naturwissenschaftliche und andere Fakultäten wurden nämlich erst viel später gebildet (wie auch das Studium einzelner Disziplinen als selbstständige Fächer).

Parallel dazu, entwickelte sich zur selben Zeit auf Basis der Arbeit von Franz Brentano die Würzburger Schule auf Grundlage der Denkpsychologie Oswald Külpes und seiner Schüler Narziß Ach, Karl Bühler und Karl Marbe, diese Arbeiten werden auch schon der Gestaltpsychologie zugeordnet. Im Jahre 1883 führt der Engländer Francis Galton die Statistik als Methode in das Gebiet der Psychologie ein, und begründet damit die empirische Persönlichkeitsforschung. Hermann Ebbinghaus entwickelt 1885 wichtige Methoden zur Erforschung von Gedächtnisleistung, die noch heute Gültigkeit besitzen und bereits die kognitive Wende in der Psychologie vorwegnehmen. Christian von Ehrenfels leistet 1890 bedeutende Vorarbeiten für die Entwicklung der Gestaltpsychologie durch seine Veröffentlichung Über Gestaltqualitäten. Charles Spearman, Alfred Binet und William Stern entwickeln Konzepte zur quantitativen Analyse von Intelligenzleistung. Auch James McKeen Cattell (Wundt-Schüler der ersten Stunde und erster Psychologie-Professor in den USA) leistete wichtige Beiträge.

Die verschiedenen Richtungen der Psychologie nach der Jahrhundertwende

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts kristallisierten sich, basierend auf unterschiedlichen philosophischen Paradigmen und daraus zugrunde gelegten Menschenbildern, verschiedene Grundströmungen in der Psychologie heraus:

Die psychodynamische Sichtweise

Im Jahre 1895 veröffentlicht Sigmund Freud zusammen mit Josef Breuer erste psychoanalytische Fallstudien, zusammen mit seinen Schülern Carl Gustav Jung und Alfred Adler wird die psychodynamische Sichtweise in der Psychologie entwickelt. Aus dieser Richtung der Psychoanalyse entsteht die Analytische Psychologie (C.G. Jung) und die Individualpsychologie Alfred Adlers. Über Jung wurde Karl Abraham einer der engsten mit Freud verbundenen Schüler, der seit 1908 in Berlin viele berühmte Psychoanalytiker ausbildete. Ein weiterer Freud lange Zeit enger vertrauter Schüler war Sándor Ferenczi, der in Ungarn die Psychoanalyse weiterentwickelt und etabliert hat. Später entwickelten Karen Horney, Erich Fromm, Hermann Schultz-Hencke und Harry Stack Sullivan, um nur einige Vertreter zu nennen, die Tiefenpsychologie in der Neopsychoanalyse weiter. Vom szientistischen Standpunkt aus gesehen, stellt die Psychoanalyse kein Teilgebiet der Psychologie dar, sie ist aus dieser Perspektive gesehen eher als komplexes Theoriegebäude zwischen Medizin/Neurologie, Psychiatrie, Philosophie und Metaphysik zu betrachten. Sigmund Freud erhob stets den Anspruch, dass die Psychoanalyse eine Wissenschaft sei, allerdings hatte er einen anderen Wissenschaftsbegriff als der Behaviorismus.

Als wichtige Vertreter der Ich-Psychologie gelten Anna Freud, Heinz Hartmann, Erik Erikson und Margaret Mahler. Eine weitere bedeutende Weiterentwicklung innerhalb der Psychoanalyse stellt die Objektbeziehungstheorie dar, die in unterschiedlichen Schwerpunkten von Melanie Klein, W.R.D. Fairbairn, Michael Balint, D. W. Winnicott sowie Wilfred Bion entwickelt wurde. Die Selbstpsychologie wurde von Heinz Kohut begründet. Als Moderne Vertreter können vor allem Otto F. Kernberg und Peter Fonagy genannt werden. Aktuell wird oft von einer Annäherung der Neurowissenschaften (Freud war ursprünglich Neurologe) und der psychoanalytischen Richtung gesprochen, durch moderne bildgebende Verfahren (von denen Freud schon im letzten Jahrhundert träumte), scheinen sich psychoanalytische Hypothesen zum Teil zu bestätigen. Die entwicklungspsychologische Kleinkindforschung, etwa von Daniel Stern hat ebenfalls einen großen Einfluss auf die Psychoanalyse ausgeübt wie von Martin Dornes dargestellt wird. Ebenso hat die Psychoanalyse Einfluss auf die Entwicklungspsychologie nehmen können. Innerhalb der klinischen Psychologie gilt die Psychoanalyse als Paradigma. Auch die Bindungstheorie nach John Bowlby kann als gegenseitige Beeinflussung von Psychoanalyse und Psychologie gesehen werden. Eine weitere bedeutende Richtung innerhalb des psychoanalytischen Paradigmas, ist die Interpersonelle Psychiatrie und Psychotherapie, die von Harry Stack Sullivan begründet wurde.

Die Traumdeutung wurde vor allem von C.G. Jung, später auch Calvin S. Hall, weiterentwickelt, die sie „aus der Klinik herausbrachten“, weil träumende Personen in der Klinik andere Träume haben als zu Hause.

Die ganzheitliche Gestaltpsychologie

Ebenfalls in dieser, für die Geschichte der Psychologie wichtigen Zeit der Jahrhundertwende, entstand aus der Arbeit Franz Brentano`s die Richtung der Gestaltpsychologie der Grazer Schule ,der Berliner Schule und der Leipziger Schule, deren führende Vertreter und Begründer Felix Krueger, Max Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler sind. Zu nennen sind auch Wolfgang Metzger, Kurt Gottschaldt und Edwin Rausch. Wichtige Beiträge leistete auch Kurt Goldstein. Aus der Gestalttheorie entwickelte Kurt Lewin die bahnbrechende Feldtheorie und übertrug sie in Bereiche der Sozialpsychologie und später der Organisationspsychologie.

Der Behaviorismus

Im Jahre 1913 veröffentlicht John B. Watson erste Arbeiten zu diesem Thema und begründet damit, auf Forschungen von Edward Lee Thorndike und Iwan Petrowitsch Pawlow aufbauend, die Richtung des Behaviorismus. Hier ist auch Burrhus Frederic Skinner als wichtiger Vertreter zu nennen, er leistete wesentliche Beiträge zu Lernpsychologie und entdeckte in den 30er Jahren das Konzept der operanten Konditionierung. Weitere wichtige Arbeiten in dieser Richtung kamen von Clark Leonhard Hull und Robert S. Woodworth.

Psychologie im Dritten Reich

In den 30er Jahren erlebte die Psychologie, insbesondere die Gestaltpsychologie, die mit dem Behaviorismus führende Strömung der Psychologie, einen regelrechten Kahlschlag durch die Nationalsozialisten. Für diesen Kahlschlag ist Kurt Lewin ein typisches frühes Beispiel: Als Mitarbeiter an Wolfgang Köhlers Institut, leistete er bahnbrechende Arbeit. 1933 emigrierte er – als Jude höchst gefährdet – in die USA und gab dort u. a. der Organisationspsychologie vitale Impulse. Viele wichtige Forscher konnten zunächst aber nicht fliehen oder dachten auch nicht daran, erhielten aber zunehmend Lehrverbote (z. B. wegen politischer Äußerungen, Einstehen für jüdische Kollegen, oder z. B., weil sie mit jüdischen Frauen verheiratet waren usw.), was sich natürlich auf die Entwicklung der (zum Teil direkt mitbetroffenen) Assistenten, Doktoranden und auch fortgeschrittenen Studenten scharf auswirkte. Die deutschen psychologischen Institute wurden schnell regelrecht leergefegt. Die Spitzenforschung in der deutschen Psychologie kam rasch nach 1933 für viele Jahre weitgehend zum Erliegen, im Krieg dann erst recht; auch die chaotische und entbehrungsreiche Nachkriegszeit machte Forschung in Deutschland beinahe unmöglich, was sich im Grunde bis weit in die 1950er Jahre hinzog. Diejenigen, die fliehen mussten und dies tatsächlich schafften, konnten, je nachdem wo sie unterkamen, auch nicht immer ihre Arbeit wieder aufnehmen. Zudem waren natürlich in den wirren Zeiten wichtige Netzwerke, Unterlagen, Apparaturen usw. verloren, ein Anknüpfen an die Arbeit und damit weitgehend verlustfreies Weiterforschen nur einer extrem kleinen Minderheit möglich. Einer Mehrheit gelang die Flucht nicht, es kam zu Inhaftierungen, die meisten kamen um, auch viele noch namenlose aufstrebende Wissenschaftler. Die verbliebenen Psychologen wurden dann zunehmend primär praktisch v.a. in der Wehrdiagnostik eingesetzt. Sigmund Freud prägte 1920 den Begriff der „Maschinengewehre hinter der Front“ für Psychologen und Psychiater, die ihre Aufgabe darin sahen, Soldaten schnellstmöglich wieder kampfbereit zu machen und dabei unmenschliche und gegen jede medizinische Ethik verstossende Methoden anwandten, um den Anforderungen des politischen Geschehens zu genügen.

Diesem Ziel musste sich auch die verbliebene universitäre Ausbildung unterordnen. Hier und da wurde zwar versprengt noch gestaltpsychologisch geforscht, wobei sich aber auch diese „politisieren“ musste; so wurden z. B. die Gestaltgesetze als Beleg der Rassenideologie herangezogen (Gesetz der Nähe z. B.). Auch das dann maßgebliche Gebiet der Diagnostik wurde verändert, so wurden auch zunehmend Ideologien der Nazis verarbeitet, es wurden dann auch Formen der „Ausdrucks-“ und „Charakter’psychologie'“ mit verwendet (hierzu gehören z. B. die Verwendung der Kretschmer'schen Konstitutionstypen, die Typenlehre von Jaensch und auch Ansätze von C. G. Jung wurden verwendet und natürlich die Rassenlehre). Das war auch darin begründet, dass sich die wissenschaftliche psychologische Diagnostik der „Diagnostik“ nach Rassenlehre, Charaktertypen und v.a. Gesinnung unterordnen musste. Auch hier zeigt sich ein weiterer Bruch mit der Psychologie als Wissenschaft, wie sie von Wundt und seinen Nachfolgern gedacht war. In Folge dessen wurden auch weitere pseudo-psychologische und pseudo-wissenschaftliche Ideen und Ideologien mit spekulativen, verschwommenen „Theorie“-Konzepten als Psychologie definiert und als solche „wissenschaftlich“ gelehrt, wozu auch „psychologische“ Aspekte der Vererbungs- und Rassenlehre, sowie der Rassenhygiene gehörten. Auch Hitlers Mein Kampf war Standardlehrbuch der Psychologie, in dem „psychologische Axiome“ definiert wurden.

Schließlich wurde ein von der ursprünglichen Idee her primär berufsqualifizierender Abschluss namens Diplom eingeführt. Das Diplomstudium der Psychologie wurde in Deutschland 1941 eingerichtet, unter gleichzeitiger Primärbetonung einer berufspraktischen Qualifikation als Wehrpsychologe (mit Schwerpunkt Diagnostik).

Die praktische Psychologie beschränkte sich im Grunde ohnehin auf die Diagnostik (in der oben beschriebenen Ausprägung). Der einzige Beruf für Psychologen außerhalb der Universität war die Diagnostik bei den Arbeitsämtern und v.a. der Wehrmacht. Ausgeweitet wurde die Lehre von Psychologen nur auf die Schulung von Lehrern (wobei es aber noch keine Schulpsychologen gab), und v.a. auf die Unterweisung von Ingenieuren in Psychotechnik (die sich aber wieder weitgehend auf die Feststellung von (Arbeits-) Leistung beschränkte). Zusammen mit der vereinzelten gestaltpsychologischen Forschung kann man die Unterweisung in eingeschränkter Psychotechnik vielleicht als kläglichen Rest der Wissenschaft Psychologie im Dritten Reich bezeichnen.

Psychotherapie durch Psychologen gab es so damals noch nicht, auch die Klinische Psychologie gab es noch nicht, diese wurde erst viel später in den USA begründet. Man kannte damals nur Nervenärzte (Psychiater), die nicht nur im Gesundheitsbereich, sondern auch in Beratungseinrichtungen und in Jugendämtern arbeiteten.

Es gab auch Pläne, rassen„psychologische“ Ansätze für die Bevölkerungspolitik und Siedlungsplanung etc. zu verwenden, wozu es aber glücklicherweise nicht kam.

Die vielfach behauptete Idee, Psychologie sei erstmals von den Nazis systematisch und flächendeckend insbesondere zur Manipulation und Propaganda herangezogen worden, ist schlicht falsch. Die Psychologie verfügte auch gar nicht über Erkenntnisse, die entsprechend einzusetzen gewesen wären. Gerade auch durch die praktische Vernichtung der Psychologie als Wissenschaft in Deutschland, konnten gar keine entsprechenden Instrumente bereitstellen, weil sich der Fokus ja in andere „Bereiche“ (Ausdrucks- und Charakterpsychologie, Rassenlehre usw.) verschoben hatte. Das führte dann zur Übernahme der USA als Psychologie-Nation. Hier wurden dann im Laufe des 2. Weltkrieges auch wissenschaftliche Methoden entwickelt, die heute in die Bereiche der Meinungsforschung und -beeinflussung, bzw. der empirischen Sozialforschung und weiter der Wirtschafts-, Organisations- usw. -psychologie fallen. Hierzu gehörten auch behavioristische Verfahren und Verfahren der frühen Sozialpsychologie, wie die Einstellungsmessung und -änderung, die dann z. B. nach 1945 von den Besatzungsmächten im Rahmen der Re-education eingesetzt wurden.

Wie in anderen Fächern auch, erfolgte innerhalb der deutschen Psychologie nach dem Krieg praktisch keine Entnazifizierung.

Die Psychologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts

Zunächst erfolgten ab den 1930er Jahren in den USA und später auch weltweit v.a. die bereits genannten Weiterentwicklungen des Behaviorismus und der Ausbau von weiteren psychologischen Disziplinen. In den 60er und 70er Jahren brachten hier Hans Eysenck und Albert Bandura, er entwickelte die Theorie des Modell-Lernen, diese Richtung der Psychologie voran. Auf diesen Grundlagen, neben vielen weiteren Einflüssen, insbes. aus Forschungsergebnissen verschiedener Teilgebiete der Allgemeinen Psychologie, wurde innerhalb der Klinischen Psychologie die Verhaltenstherapie (i.S. der frühen Form Behavioraler Therapie) entwickelt.

Die humanistische Psychologie

Als 4. Richtung der Psychologie ist die in den 50er Jahren entstehende humanistische Psychologie zu bezeichnen, deren Begründer Abraham Maslow ist und die z. B. von Carl Rogers weiterentwickelt wurde. Auch das Wirken Charlotte Bühler`s und Victor Frankl´s ist dieser Richtung zuzuordnen.

Die kognitive Wende und die Psychologie heute

George A. Kelly entwickelt in den 50er Jahren die Theorie der persönlichen Konstrukte als Gegenpol zum Behaviorismus und der Psychoanalyse. In den 1970er Jahren löste dann der Informationsverarbeitungsansatz den Behaviorismus als führendes Paradigma ab (sog. „Kognitive Wende“ der Psychologie). Dies liegt jedoch nicht in einer theoretischen Untauglichkeit des Behaviorismus begründet, sondern in einem Wechsel der Interessen der Scientific Community. Themen wie Aufmerksamkeit, Denken oder Kognition und Emotionen traten dabei in den Vordergrund. Im Gegensatz zum Behaviorismus, der die Funktionsweise des Gehirns methodisch unberücksichtigt ließ und deswegen oft als Blackbox-Psychologie (oder wegen der zahlreichen Tierversuche „Ratten-Psychologie“ oder „Rats-and-Stats“ – „Ratten und Statistik“-Psychologie) bezeichnet wurde, ging man dazu über, auch Art und Funktion von Selbstwahrnehmungen, also bewusst gewordener Vorgänge zu erforschen. Der Computer wurde zur Metapher des menschlichen Geistes, wenngleich man sich der Beschränkungen des Computermodells schnell bewusst wurde, da beispielsweise die Parallelverarbeitungsleistungen des Gehirns als komplexes System damit nur schwer erklärbar sind. Der Fehler, einen Computer, also ein Produkt des menschlichen Geistes mit diesem gleichzusetzen ähnelt dem Vergleich der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns mit einem, ebenso von diesem geschaffenen, Faustkeil. Neben diese Sichtweise trat in den 1980er Jahren daher der Konnektionismus, dessen zentrales Konstrukt Netzwerke sind. Insgesamt erwiesen sich Modelle auf Basis der Netzwerktheorie, auch durch Einbezug neuerer formaler Modellierungsmöglichkeiten, wie z. B. neuere Markov Prozesse, für die kognitiven Ansätze als sehr fruchtbar. Hinzu kamen weiterhin z. B. Einflüsse aus dem Konstruktivismus, der Kybernetik und der Systemtheorie. Auch auf die Gestaltpsychologie wurde wieder zurückgegriffen, bzw. es wurde wieder daran angeknüpft.

Jean Piaget, Ulrich Neisser und Noam Chomsky gelten hier als wichtige Schöpfer neuer Ansätze. Für die Psychologie bedeutet dies, dass sich einzelne Bereiche nebeneinander wieder stärker ausbilden konnten, neben der Kognitionspsychologie auch die Biopsychologie mit ihren Unterbereichen, die beide einen großen Bestandteil der Kognitiven Neurowissenschaften darstellen. Demgegenüber spielen aber gleichzeitig auch verhaltensorientierte Ansätze wieder eine sehr starke Rolle, so dass innerhalb der Disziplinen der Psychologie verschiedene Ansätze (neben den hier bisher erläuterten auch noch weitere) gleichberechtigt nebeneinander existieren und flexibel bezogen auf eine Fragestellung genutzt werden können, ohne gegen irgendeine „Konvention“ zu verstoßen, was derzeit das Fach Psychologie allerdings auch äußerst komplex macht.

Einzelnachweise

  1. Vgl. den Artikel Rationale Psychologie in Rudolf Eislers Kant-Lexikon (1930), sowie den Artikel Empirische Psychologie im Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904) desselben Autors.

Literatur

Allgemein

  • Measurement in Psychology: A Critical History of a Methodological Concept, hrg. von Joel Michell, Quentin Skinner, Lorraine Daston,Cambridge University Press 2005
  • Henri F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Zürich:Diogenes, 2005
  • Mark Galliker; Margot Klein; Sibylle Rykart: Meilensteine der Psychologie: Die Geschichte der Psychologie nach Personen, Werk und Wirkung, Stuttgart: Kröner, 2007
  • Stephen Jay Gould, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 5. Auflage 2007
  • Detlev von Uslar, Leib, Welt, Seele: Höhepunkte in der Geschichte der Philosophischen Psychologie; von den Anfängen bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005
  • Jörg Schreiter: Hermeneutik - Wahrheit und Verstehen. Darstellung und Texte. Akademie-Verlag Berlin 1988, ISBN 3-05-000664-1

Deutschland

  • Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert, hrg. von Mitchell G. Ash, Ulfried Geuter, Opladen: Westdt. Verlag, 1985
  • Helmut E. Lück: Geschichte der Psychologie, 2. Auflage, Kohlhammer, 1996, ISBN 3-17-014199-6
  • Stefan Busse, Psychologie in der DDR: die Verteidigung der Wissenschaft und die Formung der Subjekte, Weinheim 2004
  • Ulfried Geuter, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988

Großbritannien

  • Nikolas Rose, The psychological complex: psychology, politics and society in England; 1869 – 1939, London [u. a.]: Routledge & Paul, 1985

Kritik an der Psychologie

  • Thomas Teo, The critique of psychology: from Kant to postcolonial theory, New York, NY: Springer, 2005
  • Gerhard Vinnai, , Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft: Psychologie im Universitätsbetrieb, Frankfurt; New York: Campus Verlag, 1993.

Zeitschriften

  • Geschichte der Psychologie: Nachrichtenblatt der Fachgruppe Geschichte der Psychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie
  • Journal of the History of Psychology

Siehe auch

Links


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