- Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Berlin
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Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Berlin sind Teil der direkten Demokratie des Bundeslandes. Mit ihnen können die Bürgerinnen und Bürger in den Berliner Bezirken politische Sachfragen unmittelbar in die Bezirksverordnetenversammlung einbringen und direkt abstimmen. Mit einem Einwohnerantrag kann ein Anliegen zur zwingenden Beratung und Behandlung eingebracht werden. In der Einheitsgemeinde Berlin entsprechen die Bezirke den Kommunen in anderen Bundesländern.
Inhaltsverzeichnis
Gesetzliche Bedingungen
Die direkte Demokratie in den Berliner Bezirken ist in den §§ 44–47 des Bezirksverwaltungsgesetzes geregelt. Die gültigen Durchführungsbestimmungen sind darüber hinaus in mehreren Landesverordnungen (Abstimmungsordnung, Landeswahlordnung und Verordnung zur Geltung des Landeswahlrechts bei Bürgerentscheiden) geregelt. Die für die direkte Demokratie in den Bezirken zuletzt relevante Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes wurde am 17. Februar 2011 vom Abgeordnetenhaus beschlossen.
Instrumente der direkten Demokratie auf Bezirksebene
Auf der bezirklichen Ebene stehen den Bürgern drei Instrumente zur Verfügung mit denen sie unmittelbar auf die Verwaltung Einfluss nehmen können:
Wie in allen deutschen Bundesländern bauen Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im Rahmen eines zweistufigen Verfahrens aufeinander auf. Der Handlungsspielraum dieser Instrumente in Berlin orientiert sich dabei an den Entscheidungskompetenzen der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Der Einwohnerantrag stellt dagegen weit niedrigere Verfahrensanforderungen und kann als eine Art Volksinitiative auf bezirklicher Ebene gesehen werden.
Einwohnerantrag
Mit einem Einwohnerantrag kann ein bestimmtes Anliegen der jeweiligen BVV zur Behandlung vorgelegt werden. Für einen erfolgreichen Einwohnerantrag muss dieser von mindestens 1000 Einwohnern eines Bezirks (bis Februar 2011 von 1 % der Einwohner) unterschrieben werden. Unterschriftsberechtigt sind dabei alle Einwohner des Bezirks, die das 16. Lebensjahr vollendet haben. Eine besondere Frist für die Sammlung der notwendigen Zahl an Unterschriften besteht nicht.
Vor Beginn der Unterschriftensammlung muss das Anliegen vom Bezirksamt geprüft werden, ob es den formalen Kriterien entspricht. Nach der Einreichung der Unterschriften werden diese von den Bürgerämtern mit den Meldelisten abgeglichen.
Liegt nach erfolgter Prüfung die notwendige Zahl an Unterschriften vor, muss die BVV in einer Frist von maximal zwei Monaten den Einwohnerantrag behandeln und abstimmen. Die Kontaktpersonen des Einwohnerantrages haben hierbei ein Recht auf Anhörung. Nach erfolgter Behandlung in der BVV ist das Verfahren abgeschlossen.
Bürgerbegehren
Mit einem Bürgerbegehren kann ein Anliegen, das im Verantwortungsbereich des Bezirks liegt, zu einem Bürgerentscheid gebracht werden. Für ein erfolgreiches Bürgerbegehren müssen drei Prozent der bei der Bezirksverordnetenwahl festgestellten Wahlberechtigten dieses innerhalb von sechs Monaten unterschreiben.[§ 1] Unterschriftsberechtigt sind alle Einwohner, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, die Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedsstaates besitzen und ihren Erstwohnsitz seit mindestens drei Monaten vor Unterschriftsleistung im Bezirk haben.
Vor dem Start eines Bürgerbegehrens muss dieses zunächst beim zuständigen Bezirksamt beantragt und dort innerhalb eines Monats auf seine formale und materielle Zulässigkeit geprüft werden. Nach Übergabe der Unterschriften werden diese mit den Meldelisten abgeglichen und das Bezirksamt muss innerhalb eines Monats über das Zustandekommen des Bürgerbegehrens entscheiden. Fällt die Entscheidung hierüber negativ aus, können die Initiatoren hiergegen klagen.
Ein erfolgreiches Bürgerbegehren muss nicht zwingend in der BVV behandelt werden, allerdings entfaltet es eine Sperrwirkung, indem es den Organen des Bezirks untersagt ist, eine dem Anliegen des Bürgerbegehrens entgegenstehende Entscheidung zu treffen oder mit deren Vollzug zu beginnen.[§ 2]
Ein Bürgerentscheid kann dadurch abgewendet werden das die BVV das Bürgerbegehren innerhalb von zwei Monaten in einer von den Vertrauensleuten gebilligten Form, oder unverändert übernimmt.[§ 3]
Bürgerentscheid
Ein Bürgerentscheid muss durchgeführt werden, wenn zuvor ein Bürgerbegehren im Bezirk erfolgreich abgeschlossen wurde, oder wenn die Bezirksverordnetenversammlung dies mit 2/3 seiner Stimmen beschließt (so genanntes Ratsbegehren). Geht der Bürgerentscheid auf ein erfolgreiches Bürgerbegehren zurück, so muss er spätestens vier Monate nach dem Feststellen des Zustandekommens des Bürgerbegehrens durchgeführt werden.Abstimmungsberechtigt sind alle zur Bezirksverordnetenversammlung Wahlberechtigten, also alle Einwohner ab 16 Jahren mit der Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedsstaates und Erstwohnsitz im Bezirk seit mindestens drei Monaten.[§ 4]
Ein Begehren ist im Bürgerentscheid angenommen, wenn eine Mehrheit der Abstimmenden dafür stimmt und diese mindestens 10 % der Abstimmungsberechtigten Bürger ausmachen (so genanntes Zustimmungsquorum). Erhält ein Begehren im Bürgerentscheid zwar eine Mehrheit der JA-Stimmen erreicht aber nicht die vom Quorum vorgegebene Mindestzustimmung, so gilt es als nicht angenommen. In diesem Fall wird auch von einem so genannten unechten Scheitern gesprochen. Bis Februar 2011 galt in Berlin als letztem deutschen Bundesland beim Bürgerentscheid ein Beteiligungsquorum von 15 %.
Die Bezirksverordnetenversammlung kann den Abstimmenden im Bürgerentscheid einen Alternativvorschlag vorlegen. Beide Vorlagen werden gleichzeitig (im selben Bürgerentscheid) abgestimmt, wobei zusätzlich noch eine Stichfrage gestellt wird. In dieser können die Bürger angeben, welche der beiden Vorlagen sie im Fall das beide im Entscheid angenommen werden bevorzugen. Erhalten beide Vorschläge einer Mehrheit von JA-Stimmen, ist derjenige Vorschlag angenommen, der mehr Stimmen in der Stichfrage erhalten hat.
Ein Bürgerentscheid hat die gleiche Rechtswirkung wie eine Entscheidung der Bezirksverordnetenversammlung, das heißt, erstens kann der Entscheid bei erstmaliger Beschlussfassung durch das Bezirksamt abgelehnt werden und zweitens besteht bei den meisten Anliegen die Möglichkeit, dass die Landesebene die Frage an sich zieht und sie damit der Zuständigkeit des Bezirks entzieht.
Generelles zu den Instrumenten
Gegenstand, Zulässigkeit und Verbindlichkeit
Einwohneranträge und Bürgerbegehren können zu allen Fragen gestartet werden, zu denen auch die BVV nach den §§ 12 und 13 des Bezirksverwaltungsgesetzes Beschlüsse fassen kann. Jegliche Einwohneranträge und Bürgerbegehren die gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland oder die Verfassung des Landes Berlin verstoßen sind nicht zulässig. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern (z. B. dem Saarland) können Bürgerbegehren nicht alleine deswegen unzulässig sein, weil sie finanzielle Auswirkungen haben.
Für die rechtliche Prüfung von Bürgerbegehren und Einwohneranträgen ist das jeweilige Bezirksamt zuständig. Zunächst erfolgt eine unverbindliche und im Wesentlichen formale Prüfung bei Anmeldung des Verfahrens. Erklärt das Bezirksamt das Verfahren für nicht zulässig, kann die Initiative gegen diese Entscheidung vor dem Landesverfassungsgerichts Klage einreichen.
Bürgerbegehren sind in Berlin zwar im Grundsatz bindend, haben zu Fragen des Bezirkshaushalts, der Verwendung von Sondermitteln sowie baurechtlichen Fragen allerdings nur eine empfehlende oder ersuchende – also unverbindliche – Wirkung. Aufgrund der Situation als Einheitsgemeinde ist es eine Besonderheit in Berlin, dass das Bezirksamt in vielen Fällen die Umsetzung einer Entscheidung der BVV ablehnen kann. Erst wenn diese einen Beschluss sachgleich ein zweites Mal fasst, ist das Bezirksamt zu dessen Umsetzung verpflichtet. Da Bürgerentscheide den Beschlüssen der BVV gleichgestellt werden, sind diese in der weit überwiegenden Zahl unverbindlich. Einige Bürgerentscheide könnten Verbindlichkeit erlangen, wenn sachgleich ein zweites erfolgreiches Bürgerbegehren – vergleichbar mit einem zweiten Beschluss der BVV – initiiert würde. Aufgrund der Verfahrenshürden ist dieser Fall in der Praxis aber noch nicht aufgetreten.
Verfahrensformalien
Für Bürgerbegehren müssen in Berlin drei Vertrauenspersonen benannt werden, bei Einwohneranträgen sind es "bis zu drei", wobei hier die Bezeichnung "Kontaktperson" verwendet wird. Die Vertrauens- oder Kontaktpersonen fungieren sowohl für das Bezirksamt als auch die Bürger als Ansprechpartner und sind berechtigt, verbindliche Erklärungen im Rahmen des direktdemokratischen Verfahrens abzugeben.
Zu jedem Bürgerbegehren muss eine Schätzung vorgelegt werden, welche Kosten durch eine Umsetzung des Anliegens mutmaßlich entstehen. Neben der Kostenschätzung der Initiative fertigt auch das Bezirksamt eine solche an.
Auf den Unterschriftslisten müssen die Trägerin des Verfahrens (die Initiative) sowie die Vertrauenspersonen namentlich genannt sein. Die Kostenschätzungen von Initiative und Bezirksamt müssen abgedruckt, sowie die wesentlichen Anliegen des Verfahrens aufgeführt werden. In Berlin dürfen mehrere Personen auf einer Unterschriftsliste ihre Unterstützung bekunden. Die Unterschreibenden müssen in lesbarer Form Ihren vollen Namen, die Adresse ihres Erstwohnsitzes, ihr Geburtsdatum sowie eine eigenhändige Unterschrift eintragen. Die Angaben müssen (mit Ausnahme der eigenhändigen Unterschrift) nicht zwingend vollständig, aber geeignet sein, den Unterschreibenden eindeutig zu identifizieren. Im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben gestaltet die Initiative die Unterschriftslisten in eigener Verantwortung, diese müssen aber vor Beginn der Sammlung vom Bezirkswahlamt auf Zulässigkeit geprüft werden. Aus Gründen des Datenschutzes sind die Bezirksämter nach Beendigung eines Verfahrens verpflichtet, alle dort eingereichten Unterschriftslisten zu vernichten.
Bürgerbegehren und Einwohneranträge können in Berlin sowohl auf den Bürgerämtern als auch in so genannter Freier Sammlung auf der Straße durch Eintragung in Unterschriftslisten unterzeichnet werden. Eine Briefeintragung oder Online-Unterzeichnung ist hingegen nicht möglich. Gesammelt werden darf grundsätzlich überall im öffentlichen Raum – eine besondere Anmeldung von Unterschriftssammlungen ist nicht nötig.
Spendentransparenz
In Berlin muss seit einer am 1. Juli 2010 beschlossenen Änderung des Abstimmungsgesetzes die Trägerin einer Volksinitiative bzw. eines Volksbegehrens erhaltene Spenden ab einer Gesamthöhe von 5.000 Euro zusammen mit dem Namen des Spenders offen legen.[1] Damit soll sichergestellt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger erkennen können, ob und welche finanzstarken Interessen eine Initiative unterstützen. Diese Regelung wurde erst 2010 in Berlin eingeführt, nachdem bei den beiden ersten Volksbegehren zum Flughafen Tempelhof als auch bei ProReli massive finanzielle Unterstützung aus interessierten Kreisen ruchbar wurden, ohne dass der Öffentlichkeit genauere Informationen über die einzelnen Spender oder die Höhe der Zuwendungen vorlagen. Zuvor galt in Berlin eine Offenlegungspflicht für Einzelspenden erst ab 50.000 Euro.
Verfahrenskosten
Bürgerbegehren und Einwohneranträge verursachen zunächst keine besonderen Mehrausgaben der öffentlichen Hand, da die hierfür in den Bezirksämtern anfallenden Arbeiten (Prüfung der Unterschriften) mit den vorhandenen personellen Ressourcen geleistet werden können. Die öffentlichen Kosten für die Durchführung eines Bürgerentscheid können ganz erheblich differieren. Wird die Abstimmung mit einer regulären Wahl zusammengelegt, entstehen Mehrkosten nur in relativ kleinem Umfang durch den zusätzlichen Zeitaufwand der Wahlhelfer. Findet der Entscheid ohne eine solche Kopplung statt, fallen alle Kosten an, die auch für die Durchführung einer Wahl aufzuwenden wären (briefliche Benachrichtigung, Aufwandsentschädigung für Abstimmungshelfer usw.).
Die Berliner bezirkliche Direkte Demokratie in der Praxis (Auswahl)
Coppi-Gymnasium in Lichtenberg
Der Bezirk Lichtenberg beschloss 2005 das musikalisch ausgerichtete Hans-und-Hilde-Coppi-Gymnasium mit dem Kant-Gymnasium zusammengelegt werden. Das naturwissenschaftlich/mathematisch ausgerichtete Forster-Oberstufengymnasium sollte stattdessen in die Räumlichkeiten des Coppi-Gymnasium umziehen. Das Bürgerbegehren wandte sich im Dezember 2005 gegen dieses Vorhaben und erhielt in der Folge etwa 11.000 Unterschriften. Da der Bezirk sich mit den Initiatoren nicht einigte, kam es parallel zur Abgeordnetenhauswahl am 17. September 2006 zum Bürgerentscheid.
Der Bürgerentscheid war damit nicht nur der erste in Berlin, sondern auch der erste in dem die Bezirksverordnetenversammlung von ihrem Recht auf Vorlage eines konkurrierenden Abstimmungsvorschlags gebrauch machte. Diese sah vor, dass auch nach einer Fusion von Coppi- und Kant-Schule, alle Unterrichtsangebote erhalten bleiben sollten.
Beim Bürgerentscheid wurde der Vorschlag der Initiative (Abstimmungsfrage A) mit 65,5 % Ja-Stimmen bei 34,5 % Nein-Stimmen angenommen. Der Vorlage des Bezirksverordnetenversammlung (Abstimmungsfrage B) erhielt zwar mit 68,5 % Ja-Stimmen bei nur 31,5 % Nein-Stimmen eine größere direkte Zustimmung, in der Stichfrage (Abstimmungsfrage C) sprachen sich allerdings 55,9 % für die Vorlage der Initiative und nur 44,1 % für die Vorlage der BVV aus. Insgesamt beteiligten sich 47,36 % der Abstimmungsberechtigten, wodurch das damals gültige 15 %-Beteiligungsquorum deutlich überschritten wurde.[Amt 1]
Die Bezirksverordnetenversammlung setze das Ergebnis des Bürgerentscheids in ihrem Beschluss vom 21. November 2006 um.
Rudi-Dutschke-Straße in Friedrichshain-Kreuzberg
Einem Vorschlag der taz aus dem Jahr 2004 folgend, beschloss die Bezirksverordnetenversammlung in Friedrichshain-Kreuzberg nach langem öffentlichem Diskurs, dass Teile der Kochstraße im Ortsteil Kreuzberg nach Rudi Dutschke umbenannt werden sollten. Unterstützt von der CDU wandten sich einige Anwohner, darunter auch die Axel Springer AG, gegen dieses Vorhaben. Bei der Abstimmung am 21. Januar 2007 votierte aber schließlich eine deutliche Mehrheit von 57,1 % der Abstimmenden gegen das Anliegen der Initiative. Die Kochstraße wurde daraufhin am 30. April 2008 im Abschnitt zwischen Friedrichstraße und Oranienstraße in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt.
Halbinsel Groß-Glienicker See in Spandau
Im Oktober 2006 legte das Bezirksamt Spandau Pläne zur Bebauung der Halbinsel im Groß Glienicker See vor, auf der ein privater Investor ein "Anwendungszentrum für Sport und Gesundheit" bauen wollte. Eine Bürgerinitiative wandte sich dagegen und forderte die Umwidmung der gesamten Halbinsel in einen Landschaftsschutzgebiet. Im folgenden Jahr sammelte die Initiative 15.614 Unterschriften von denen schließlich 13.777 für gültig befunden wurden. Obwohl sich beim Bürgerentscheid am 27. Januar 2008 86,8 % der Abstimmenden für das Ansinnen der Initiative aussprachen, scheiterte das Bürgerbegehren letztlich am damals gültigen 15 %-Beteiligungsquorum, da sich nur 13,6 % der Abstimmungsbrechtigten beteiligten. Das Bürgerbegehren zur Halbinsel war damit das erste in Berlin, das am Quorum scheiterte.
Angesichts des Widerspruchs von weit überwiegender Zustimmung und geringer Beteiligung, wurde im Anschluss über die Deutung des Abstimmungsergebnisses in der Öffentlichkeit debattiert. Im Zentrum stand die Frage, nach den Gründen des Scheiterns des Bürgerbegehrens. So wurde einerseits die These vertreten, eine Mehrheit der Spandauer Bürgerinnen und Bürger sei gegen das Anliegen des Bürgerbegehrens und habe die Abstimmung mit dem strategischen Kalkül eines Scheiterns am Beteiligungsquorum boykottiert. Eine andere These ging davon aus, das Anliegen sei nur von örtlichem Interesse gewesen, was in räumlich so ausgedehnten Bezirken wie Spandau zwangsläufig problematisch wäre. Vor diesem Hintergrund müsse entweder über eine Senkung bzw. Abschaffung der bezirklichen Quoren nachgedacht oder die Einführung von Bürgerbegehren auf Stadtteilebene erwogen werden.[Nachweis 1]
Mediaspree in Friedrichshain-Kreuzberg
In den 1990er Jahren begann eine Gruppe von privaten Investoren die Planung eines Gewerbegebietes ("Mediaspree") entlang der Spreeufer in Friedrichshain und Kreuzberg. Als für die breite Öffentlichkeit deutlich wurde, dass die geplanten umfangreichen Baumaßnahmen den freien Zugang zur Spree für viele Bürger abschneiden würde und darüber hinaus eine Vielzahl von alternativen Kulturprojekten die sich dort angesiedelt hatten von der Räumung bedroht wären, formierte sich mit der Initiative "Mediaspree versenken" bürgerschaftlicher Widerstand gegen die Bebauungspläne. Die Initiative organisierte ein erfolgreiches Bürgerbegehren, dass unter anderem eine Begrenzung der Traufhöhe neuer Gebäude auf 22 Meter unter einen bebauungsfreien Uferstreifen von 50 Metern forderte. Für den anschließenden Bürgerentscheid machte die Bezirksverordnetenversammlung einen Gegenvorschlag, der im Wesentlichen eine Prüfung der bislang aufgestellten Bauplanungen beinhaltete. Bei einer Beteiligung von 19 % stimmten 86,7 % der Abstimmenden für die Vorlage der Bürgerinitiative. Da die BVV in dieser Frage nur eine Empfehlung aussprechen kann, ist der Bürgerentscheid allerdings unverbindlich. Der Bürgerentscheid war der erste in Berlin, bei dem eine BVV von ihrem Recht auf Vorlage eines Alternativvorschlags Gebrauch machte.
Da die Umsetzung des Bürgerentscheids zu mutmaßlichen Entschädigungszahlungen in dreistelliger Millionenhöhe führen würde, ist dieser Gegenstand intensiver Verhandlungen zwischen Initiatoren, Investoren und Vertretern von Bezirk und Land. Die Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg sagte zwar zu, dass sie den Entscheid respektieren wolle, trotzdem ist das Ausmaß und die Form der Umsetzung des Entscheids nach wie vor ungewiss. Aufgrund des mit dem Bauvorhaben verbundenen hohen Investitionsvolumens drohte das Land Berlin bereits mehrfach damit, dass gesamte Bauverfahren der Kompetenz des Bezirks (und damit auch dem Bürgerentscheid) zu entziehen. Derzeit dauern die Verhandlungen noch an.
Flughafen Tempelhof als Weltkulturerbe in Tempelhof-Schöneberg
Das Aktionsbündnis be-4-tempelhof.de, initiierte im Bezirk Tempelhof-Schöneberg das Bürgerbegehren »Das Denkmal Flughafen Tempelhof erhalten – als Weltkulturerbe schützen«. Das Bürgerbegehren enthielt das Ersuchen an das Bezirksamt, das dieses sich beim Landesdenkmalschutzamt um eine Ausweitung des bestehenden Denkmalschutzes auf Freiflächen und Roll- und Startbahnen einsetzt, der auch den aktiven Flugbetrieb einbezieht. Die Ernennung des Flughafen Tempelhof zum UNESCO-Weltkulturerbe soll intensiv betrieben werden. Weiterhin soll der Flächennutzungsplan von 1984 für das Gelände wieder in kraft gesetzt werden und eine Umnutzung oder flugbetriebsfremde Bebauung auch in Zukunft unterlassen werden.[Ini 1]
Die Initiatoren konnten 10.417 Unterschriften sammeln, von denen 7.733 als gültig anerkannt wurden. Der Bürgerentscheid kam damit zustande und wurde am 7. Juni 2009 mit einer Abstimmungsbeteiligung von 37,9 % abgehalten. 65,2 % der Abstimmenden stimmten dem Bürgerbegehren zu.[Amt 2] Der somit erfolgreiche Bürgerentscheid ist zwar dem Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung gleichgestellt, hat aber – unter anderem weil keines der enthaltenen Anliegen in der Kompetenz des Bezirks liegt – nur unverbindliche Wirkung.
Das Aktionsbündnis startete noch im gleichen Jahr ein Volksbegehren mit ähnlichem Anliegen (siehe Volksbegehren Tempelhof als Weltkulturerbe).
Tabellarische Übersicht
Nachfolgend eine tabellarische Übersicht aller in Berlin seit 2006 durchgeführten direktdemokratischen Verfahren in den Bezirken sortiert nach Verfahrenstyp.
EinwohneranträgeKennung Beginn der
SammlungAnliegen Bezirk abgegebene
UnterschriftenErgebnis EA01 Sep. 2006 17.Für die Ausweisung eines neuen Hundeauslaufgebiets Treptow-Köpenick 2.823 angenommen Farblegende: Einwohnerantrag angenommen, Einwohnerantrag abgelehnt BürgerbegehrenKennung Datum der
AnmeldungAnliegen Bezirk abgegebene
Unterschriftengültige
Unterschriftenweiterer Verlauf BB01 Okt. 2005 20.Gegen Kürzungen bei der Jugendhilfe Spandau 6.000 (Schätzwert) nicht geprüft nach Kompromiss mit
Bezirksamt eingestelltBB02 Nov. 2005 14.Für den Erhalt des Centre Bagatelle
in öffentlicher HandReinickendorf - - nach Kompromiss
mit BVV eingestelltBB03 Dez. 2005 30.Für den eigenständigen Erhalt
der Coppi-SchuleLichtenberg 11.000 (Schätzwert) unbekannt Bürgerentscheid BB03 Jan. 2006 27.
(Ablehnungsbescheid)Gegen Sanierungen am Wasserturmplatz (I) Pankow - - Zulassung verweigert BB04 Mär. 2006 8.Sofortiger Stopp der
Sanierungen am WasserturmplatzPankow 5.336 nicht geprüft zu wenig Unterschriften eingereicht BB05 Mär. 2006 27.Gegen den Bau dreier Möbelhäuser auf
dem ehemaligen Güterbahnhof HalenseeCharlottenburg-Wilmersdorf - - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB06 Apr. 2006 21.Gegen den Bau einer
Moschee in Heinersdorf (I)Pankow - - Zulassung verweigert BB07 Mai 2006 26.Keine Ausdehnung der Parkraumbewirtschaftung
auf bestimmte WohnviertelCharlottenburg-Wilmersdorf 10.856 7.297 bis Bürgerentscheid BB08 Juni 2006 6.Für den Erhalt des
Bethanien in öffentlicher HandFriedrichshain-Kreuzberg 13.545 4.942 von BVV übernommen BB09 Juni 2006 27.Beibehaltung der
Tram-Linie M2 bis HeinersdorfPankow unbekannt - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB10 Juli 2006 5.
(Zulassungsbescheid)Gegen die Umbenennung von Teilen der Kochstraße
in Rudi-Dutschke-StraßeFriedrichshain-Kreuzberg 9.322 5.500 Bürgerentscheid BB11 Aug. 2006 22.
(Ablehnungsbescheid)Gegen den Bau einer
Moschee in Heinersdorf (II)Pankow - - Zulassung verweigert BB12 Mai 2006 8.Durchführung einer verbindlichen Bürgerbefragung
vor Einführung der ParkraumbewirtschaftungCharlottenburg-Wilmersdorf unbekannt - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB13 Mai 2006 16.Für einen Erhalt des Sommerbads
Poststadion an der SeydlitzstraßeMitte 9.099 5.665 zu wenig Unterschriften eingereicht BB14 Mai 2006 23.Für einen Bürgerhaushalt ab 2007
und weitere VerwaltungsreformenMarzahn-Hellersdorf - - Zulassung verweigert BB15 Sep. 2006 7.Gegen eine Bebauung der Halbinsel im
Groß Glienicker See und für eine
Ausweisung als LandschaftsschutzgebietSpandau 15.614 13.777 bis Bürgerentscheid BB16 Juli 2007 10.
(Zulassungsbescheid)Gegen den Weiterbetrieb der JVA
in der Max-Brunnow-StraßeLichtenberg unbekannt - von BVV übernommen BB17 Okt. 2007 2.
(Zulassungsbescheid)Gegen den umfangreichen Verkauf
von Spreeuferflächen an die
private Investorengruppe "MediaSpree"Friedrichshain-Kreuzberg 16.000 (Schätzwert) 5.500 (Schätzwert) bis Bürgerentscheid BB18 Nov. 2007 7.
(Sammlungsbeginn)Für den Erhalt sämtlicher
Jugendhilfeeinrichtungen im BezirkSpandau unbekannt - von BVV übernommen BB19 2008 Für die Einführung eines kostenlosen
Schul- und Kitaessens (A)[2]Friedrichshain-Kreuzberg unbekannt - nach Kompromiss
mit BVV eingestelltBB20 2008 Für die Einführung eines kostenlosen
Schul- und Kitaessens B[2]Lichtenberg 3.000 (Schätzwert) - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB21 2008 Für die Einführung eines kostenlosen
Schul- und Kitaessens C[2]Marzahn-Hellersdorf unbekannt - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB22 Jan. 2008 8.Gegen eine weitere Ausweitung der
Parkraumbewirtschaftung im BezirkMitte 12.500 7.200 bis Bürgerentscheid BB23 Aug. 2008 25.
(Sammlungsbeginn)Für den Erhalt und
die Sanierung der RingkolonnadenMarzahn-Hellersdorf unbekannt - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB24 Okt. 2008 1.
(Sammlungsbeginn)Für einen Erhalt und Denkmalschutz
des Flughafen TempelhofTempelhof-Schöneberg 10.417 7.733 bis Bürgerentscheid BB25 Nov. 2008 21.
(Sammlungsbeginn)Für den Bau einer neuen
Rathausbrücke nach historischem VorbildMitte unbekannt - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB26 Juni 2009
(Sammlungsbeginn)Für den Bau eines Kaufhauses
an der Landsberger AlleeLichtenberg 13.866 9.500 bis Bürgerentscheid BB27 Apr. 2010 6.Für den Erhalt der
Sportanlage BirkenwäldchenTreptow-Köpenick - - Zulassung verweigert;
Gerichtsentscheid steht ausBB28 Mai 2010 3.
(Sammlungsbeginn)Gegen die Zusammenlegung und teilweise Schließung
von drei privaten Theaterbühnen am KurfürstendammCharlottenburg-Wilmersdorf 9.300 7.138 bis Bürgerentscheid BB29 Mai 2010 11.
(Sammlungsbeginn)Gegen eine Kooperationen des Bezirksamtes mit privaten
Wohneigentümern die über dem Mietspiegel anbietenLichtenberg unbekannt - Unterschriftensammlung
abgebrochenBB30 Mai 2011 3.Gegen einen Umbau der Kastanienallee Pankow Sammlung läuft noch noch nicht eingereicht Bürgerbegehren läuft noch Farblegende: Bürgerbegehren übernommen/Kompromiss erzielt, Bürgerbegehren erfolgreich, Bürgerbegehren gescheitert , Bürgerbegehren nicht zugelassen, Bürgerbegehren läuft noch BürgerentscheidenKennung Tag der
AbstimmungAnliegen Bezirk AB Ja(T) WE BE01 Sep. 2006 17.Für den eigenständigen Erhalt
der Coppi-SchuleLichtenberg 47,36 % 65,5 % An BE02 Jan. 2007 21.Gegen die Umbenennung der Kochstraße
in Rudi-Dutschke-StraßeFriedrichshain-Kreuzberg 16,6 % 42,9 % Ab BE03 Sep. 2007 23.Gegen die Ausdehnung der Parkraum-
bewirtschaftung auf bestimmte WohnviertelCharlottenburg-Wilmersdorf 26,8 % 87 % An BE04 Jan. 2008 27.Gegen Bebauung der Halbinsel im
Groß Glienicker See und für Ausweisung als LSGSpandau 13,6 % 86,8 % UG BE05 Juli 2008 13.Gegen den Verkauf von Spreeuferflächen an
die Investorengruppe "MediaSpree"Friedrichshain-Kreuzberg 19,1 % 86,8 % An BE06 Sep. 2008 28.Gegen eine weitere Ausweitung der
Parkraumbewirtschaftung im BezirkMitte 11,7 % 79,4 % UG BE07 Juni 2009 7.Für einen Erhalt und Denkmalschutz
des Flughafen TempelhofTempelhof-Schöneberg 36,63 % 67,76 % An BE08 Mär. 2010 21.Für den Bau eines Kaufhauses
an der Landsberger AlleeLichtenberg 9,1 % 36,01 % Ab BE09 Jan. 2011 16.Gegen die Zusammenlegung und teilweise Schließung
von drei privaten Theaterbühnen am KurfürstendammCharlottenburg-Wilmersdorf 13,7 % 90,5 % UG WE:Wahlergebnis; AB: Abstimmungsbeteiligung; Ja(T):Zustimmungsanteil der Wahlteilnehmer
Farblegende: Begehren im Bürgerentscheid angenommen (An),
Begehren im Bürgerentscheid unecht gescheitert (UG), Begehren im Bürgerentscheid abgelehnt (Ab)Siehe auch
Einzelnachweise
Gesetze und Verordnungen
- ↑ § 45 des Bezirksverwaltungsgesetzes
- ↑ § 45 Abs. 5 des Bezirksverwaltungsgesetzes
- ↑ § 46 Abs. 1 Satz 1 des Bezirksverwaltungsgesetzes
- ↑ §§ 46–47 des Bezirksverwaltungsgesetzes
- Abschnitt V (Art. 59 (2), 61, 62 und 63) der Landesverfassung von Berlin auf dem Landesportal von Berlin
- Abschnitt XI (Art. 100) der Landesverfassung von Berlin auf dem Landesportal von Berlin
- Landeswahlgesetz auf dem Landesportal von Berlin
- Bezirksverwaltungsgesetz auf dem Landesportal von Berlin
- Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (Abstimmungsordnung – AbstO) auf dem Landesportal von Berlin
- Landeswahlordnung auf dem Landesportal von Berlin
- Verordnung über die Geltung des Landeswahlrechts für den Bürgerentscheid auf dem Landesportal von Berlin
amtliche Quellen
- ↑ Andreas Schmidt von Puskás, Landeswahlleiter Berlin: Auszählung Bürgerentscheid in Lichtenberg. Endgültiges Ergebnis. In: www.statistik-berlin.de. Statistisches Landesamt Berlin, September 2006, S. 1, archiviert vom Original am 5. März 2011, abgerufen am 5. März 2011 (htm, deutsch).
- ↑ Wahlamt Bezirk Tempelhof-Schöneberg: Bürgerentscheid in Tempelhof-Schöneberg vom 7.6.2009 zum Thema "Das Denkmal Flughafen Tempelhof erhalten – als Weltkulturerbe schützen". Endgültiges Ergebnis. In: www.berlin.de. 11. Juni 2009, S. 17, archiviert vom Original am 5. März 2011, abgerufen am 5. März 2011 (pdf, deutsch).
Quellen von Initiativen
- ↑ Aktionsbündnis be-4-tempelhof.de: Flughafen Tempelhof:Neues Bürgerbegehren gestartet. Pressemitteilung. In: www.volksentscheid-berlin.de.de. 5. Oktober 2008, S. 1, archiviert vom Original am 5. März 2011, abgerufen am 5. März 2011 (html, deutsch).
andere Nachweise
Anmerkungen
- ↑ § 40B des Abstimmungsgesetzes
- ↑ a b c Parallele Bürgerbegehren einer Initiatorengruppe in drei Bezirken gleichzeitig.
Weblinks
- Die Landeswahlleiterin von Berlin
- Landesverfassung von Berlin auf dem Landesportal von Berlin
- Auflistung aller Bürgerbegehren, Bürgerentscheide und Einwohneranträge in Berlin auf dem Internetauftritt von Mehr Demokratie e.V.
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