Kiez

Kiez
Am Gröbener Kietz

Der Kiez (früher Kietz) bezeichnet überwiegend im Nordosten Deutschlands und besonders in Berlin einen überschaubaren, kleinen Stadtbereich als soziales Bezugssystem (nicht als Verwaltungseinheit). Ursprünglich war Kietz die Bezeichnung einer mittelalterlichen Dienstsiedlung mit slawischen Bewohnern für eine Burg bei einer Stadt (vergleiche etymologisch dazu auch Kessiner).

Inhaltsverzeichnis

Bedeutung und Entwicklung des Begriffs Kiez

Ursprünglich war ein Kiez im Mittelalter eine slawische Dienstsiedlung in der Germania Slavica, die in der Regel in der Nähe einer Burg (mit deutscher Herrschaft) und zumeist als Fischersiedlung an Flussübergängen lag (beispielhaft in Berlin-Köpenick). Diese ‚echten‘ Kietze gibt es nur östlich der Elbe, der Begriff Kietz ist mit großer Sicherheit slawischen Ursprungs und leitet sich von chyza (= ‚Hütte‘ oder ‚Haus‘) ab. Die Kietze waren in der Regel Außenrandsiedlungen in Form einer gedrängten, kurzen Dorfzeile. Auch lange nach der slawischen Besiedlung blieben viele Kietze als eigenständige Strukturen erhalten. Einige von ihnen bewahrten trotz unmittelbarer Nähe zum Zentrum einer Stadt bis ins 19. oder sogar 20. Jahrhundert ihre administrative Eigenständigkeit. So wurde der Kietz in Lebus 1810, der in Köpenick 1897 und der in Neustadt-Glewe sogar erst 1935 in die jeweiligen Städte eingemeindet. An viele Kietze erinnern heute Orts- und Straßennamen vor allem in Nordostdeutschland. Gelegentlich haben sich Spuren dieser Kietze auch bis in die heutige Zeit im Ortsbild erhalten.

Kiez-Treff der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Marzahn, 1990

Später wurde die Bezeichnung Kiez mit abwertender Intention für verkommene Stadtviertel verwendet.

Die Verwendung des Begriffes für das Hamburger Amüsierviertel St. Pauli, und hier insbesondere für die Reeperbahn, hat den Begriff in gewissem Umfang auch mit Prostitution und ihrem Umfeld besetzt. So dient zum Beispiel die Wendung „man ist auf dem Kiez“ als Umschreibung für „man betreibt Prostitution“. Umgangssprachlich dient die gleiche Redewendung aber auch, um jede andere Form eines Besuchs in St. Pauli zu bezeichnen.

Auch in Hannover werden seit einigen Jahren einige Straßen als Kiez bezeichnet, in denen eine der Reeperbahn ähnliche Mischung aus Rotlicht- und Ausgehviertel besteht.

Vor allem in Berlin steht der Begriff heute für ein kleines Wohngebiet und ist hier eher positiv belegt. Vergleichbar mit dem Wiener Grätzl oder dem Kölner Veedel bezieht er sich meist auf Gebiete mit gewisser Altbausubstanz und ihre Bevölkerung, teilweise aber auch auf Neubaugebiete, Einzelhaussiedlungen oder Industriegebiete. Vor allem geht es um die Rolle des jeweiligen Viertels bzw. Quartiers als soziales Bezugssystem, nicht unbedingt an festen Verwaltungsgrenzen orientiert. In diesem Rahmen zeichnet sich ein Kiez dadurch aus, dass der Bewohner hier über eine abgeschlossene urbane Infrastruktur mit Läden und Kneipen verfügt. Daher hört man beispielsweise in Berlin oft die Wendung: „Der kommt aus seinem Kiez nicht raus“, was bedeutet: „Jemand verlässt seine Wohnumgebung kaum“ – weil er alles vorfindet, was er für den Alltag braucht. Die Anwohner bleiben in „ihrem“ Kiez weitestgehend unter sich. Geschäfte siedeln sich hier fast ausschließlich für die dort ansässigen Anwohner an (im Gegensatz zu Einkaufszentren).

Seit Ende des 20. Jahrhunderts sind Bezeichnungen mit -kiez (meist angehängt an den Namen einer prägenden Straße oder eines zentralen Platzes) als Eigennamen bestimmter Gebiete populär geworden.

Bekannte Kieze

Berlin

Der historische Köpenicker Kietz im heutigen Berliner Ortsteil Köpenick entstand im 13. Jahrhundert und war als Fischersiedlung bis 1898 eine eigene Gemeinde, bevor er in die damalige Stadt Köpenick eingemeindet wurde. Er ist heute in der gleichnamigen Straße als weitgehend geschlossenes Bauensensemble mit Häusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert erkennbar. Auch in Spandau gab es einen Kietz, der allerdings nicht mehr erhalten ist.

Der Lichtenberger Kietz im heutigen Ortsteil Rummelsburg entstand erst im 18. Jahrhundert und hat damit nichts mit den historischen Kietzen zu tun; der Name stammt von einer alten Flurbezeichnung.

Seit Ende der 1990er Jahre wird der Begriff Kiez von den Medien in Berlin stärker aufgegriffen und findet mittlerweile auch in der gehobenen Ausdrucksweise Verwendung. Die meisten der hier genannten Eigennamen mit -kiez stammen erst aus dieser Zeit. Häufiger wird dagegen die Bezeichnung Viertel verwendet.

Brandenburg an der Havel

Der Altstädtischer Kiez in Brandenburg an der Havel ist in seiner wesentlichen traditionellen Form und als Straßenname erhalten. Vermutlich als klassischer Kietz vor dem Parduin (Kaufmannssiedlung aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts) als solcher entstanden. Hier stand auch das Wohnhaus des in einem bekannten Spottlied besungenen Barbiers Fritze Bollmann.

Gröbener Kietz

Schriftzug in einem Kirchenfenster von 1909, Gröben
Alte Fischerhütten, Gröbener Kietz

Rund zehn Kilometer südwestlich von Berlin ist mit dem Gröbener Kietz in der Nähe von Ludwigsfelde ein „echter“ Kiez erhalten, der noch um das Jahr 2000 auch auf seinem Ortsschild die Bezeichnung Kietz trug (heute Gröben). Erste Erwähnung findet dieser „bey Gröben gelegene“ Kietz im Jahr 1497. Er soll sich seinerzeit unmittelbar neben einem alten Burgwall befunden haben, von dem heute nichts mehr zu erkennen ist. Als gesichert gilt, dass sich ein Burgplatz rund 700 Meter westlich von Gröben befand. Eine Karte von 1683 zeigt einen von der Alten Nuthe, dem früheren Lauf des Flusses Nuthe, umgebenen Burgwall und den Kiez. An die vergangene für den Kiez typische Fischerei erinnern heute mehrere traditionelle Fischerhütten aus Lehm, Holz und Stroh sowie brüchige Kähne auf den Wiesen neben der fast verlandeten Alten Nuthe.

Hamburg

Die Hamburger Reeperbahn sowie die umliegenden Straßen in St. Pauli wie der Hans-Albers-Platz, die Große Freiheit, der Hamburger Berg, die David-, Tal- oder auch die Herbertstraße, um nur die bekanntesten zu nennen. Das ganze Viertel rund um die Reeperbahn ist als „der Kiez“ bekannt, weshalb das Wort für Hamburger die Nebenbedeutung Rotlichtviertel hat.

Hannover

Einige Straßen in Hannover am Steintor (beispielsweise die Scholvinstraße; ähnliche Situation wie auf St. Pauli, wenn auch sehr viel kleiner und unbekannter).

Küstrin

Der ehemalige Küstriner Stadtteil Kietz westlich der Oder gehört heute zur brandenburgischen Gemeinde Küstriner Vorland.

Potsdam

Die Kiezstraße – bis in die 1930er Jahre Kietz (Potsdamer Stadtzentrum, südlich Breite Straße) – ist eine alte slawische Fischersiedlung, die erst im 17. und 18. Jahrhundert in die Stadtumwallung einbezogen wurde. Diese Straße hat trotz Überformung in friderizianischer Zeit den Charakter eines Angerdorfes behalten. Zur Havel hin verläuft parallel der Wall am Kiez, bis um 1980 ein Weg durch die Gärten entlang des Stadtwalls.

Siehe auch

Literatur

  • Jan Piskorski: Die brandenburgischen Kietze – Eine Institution slawischen Ursprungs oder ein Produkt askanischer Herrschaft? In: Zentrum und Peripherie in der Germania Slavica: Beiträge zu Ehren von Winfried Schich, hrsg. von Doris Bulach, Stuttgart 2008, S. 181–202.

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Kiez – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

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