Kirchturm

Kirchturm
Der Turm des Ulmer Münsters ist der höchste Kirchturm der Welt.

Ein Kirchturm ist der zu einem Kirchengebäude gehörende Turm. In den meisten christlich geprägten Ländern ist Versammlungshalle mit Turm das Grundschema von Kirchengebäuden, obwohl es für den Turm keine theologische Begründung gibt.

Inhaltsverzeichnis

Kulturelle Bezüge

Campanile von Sant'Apollinare Nuovo
Brechin: Rundtürme 10. Jahrhundert; eckiger Turm 13./14. Jahrhundert

Hochragende Steintürme und -säulen lassen sich in den ältesten Kulturen finden. Sie symbolisieren überwiegend die männliche Fruchtbarkeit. Im alten Orient gab es die mesopotamischen Zikkurats. Sie lieferten über die Legende vom Turmbau zu Babel christlichen Baumeistern die Idee des himmelhohen Turms. Eine Verbindung voller Widersprüche: Während die Zikkurats Tempelbauten darstellten, schildert das alte Testament den Turmbau nicht als Gottesverehrung, sondern als menschliches Aufbegehren gegen Gott.

Die Antike kannte Türme weder am Tempel noch an der profanen Basilika. In der ersten Zeit des christlichen Kirchenbaus, also seit Konstantin, hatten Türme keine Bedeutung. Seit dem 6. Jahrhundert bekamen Kirchen in Italien freistehende Glockentürme (Campanile, von Campana, Glocke), beispielsweise in Sant'Apollinare Nuovo in Ravenna. Dass der Turm sich zu einem typischen Element des Kirchenbaus entwickelte, hängt demnach mit der Rolle der Glocke als akustischem Zeichengeber der christlichen Kirche zusammen. Allein aus der Funktion zur Glockenaufhängung lassen sich die aufwändigen Turmbauten des Mittelalters jedoch nicht begründen. Die Symbolik des Christentums kann das Phänomen des Kirchturms ebenfalls nicht erklären. Eine sakrale Raumnutzung der Türme erfolgte im Erdgeschoss, als Kapelle, als Vorraum oder Teil des Kirchenschiffs. Obere Geschosse konnten als Empore oder Kapelle dienen, wobei Turmkapellen oft dem Erzengel Michael geweiht sind.

Auch in China haben Glocken seit ältester Zeit kultische Funktion, doch entwickeln sich die sakralen Turmbauten Asiens, die Stupas und Pagoden, aus Reliquien- und Grabbauten. Seit dem 7. Jahrhundert entstanden die islamischen Moscheen mit dem Minarett. In ihrer Funktion als erhöhte Standorte für Schallgeber (Gebetsruf) sind sie den christlichen Glockentürmen vergleichbar, auch wenn die Minarette nicht nur für den Gebetsruf entstanden.

Entwicklung

Separate Rundtürme sowie Rundturmkirchen gehören zu den frühen Bauformen auf den Britischen Inseln und erscheinen auch auf dem St. Galler Klosterplan. Eine Vorform des Kirchturms sind die turmartigen Westwerke der Karolinger- und Ottonenzeit. Erst im 11. Jahrhundert wurden Kirchtürme zum dominierenden Element der Kirchenbauten der Westkirche und damit von abendländischen Stadtsilhouetten. Ab dem 12. Jahrhundert dominierten die Westtürme oder, in Deutschland und Skandinavien auch bei großen Kirchen, der eine Westturm. Daneben gibt es Chortürme, Chorflankentürme, Querhaustürme und Vierungstürme. Die Doppelturmfassade entsteht in der Normandie und verbreitet sich in Nordfrankreich als dominante Bauform. Mit der Ausbreitung der Gotik tritt sie ihren Siegeszug in Europa an. Im Turm scheint der Höhendrang des gotischen Baustils sich zu verwirklichen. Besonders in den deutschen und niederländischen Pfarrkirchen der Spätgotik wird der Turm zum Symbol kommunalen Ehrgeizes, bei dem die profane Ruhmsucht sich mit dem Gotteslob verbindet. Dass der Kirchenturm als repräsentatives Symbol von Macht und Größe kritisch wahrgenommen wird, zeigt sich darin, dass die auf Demut und Bescheidenheit zielenden Orden der Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner ein Verbot von Kirchtürmen für ihre Klöster erlassen. In der italienischen Renaissance wird oft auf Kirchtürme verzichtet, da das an der Antike geschulte Ideal der Proportionen keine Bauten mit Türmen erlaubte. Doch erlebt der Turmbau im deutschen Barock eine Erneuerung, wie zahlreiche Doppelturmfassaden süddeutscher Kirchen belegen. Der Klassizismus versucht die Turmbauten in den antikisch gegliederten Baukörper zu integrieren. Mit der Neogotik werden Türme wieder zu herausragenden, städtebaulich wirksamen Symbolbauten der christlichen Gesellschaft, die zunehmend in Konkurrenz mit profanen Hochbauten für Industrie und Wirtschaft treten. Turmvollendungen gotischer Kathedralen (Kölner Dom, Ulmer Münster etc.) führen zu einer Kirchturmblüte. Die moderne Kirchenbauarchitektur des 20. Jahrhunderts entwickelt neue Bauformen, greift oft auf den Campanile als Solitär zurück oder verzichtet ganz auf Turmbauten.

Funktionen

Kirchtürme hatten und haben auch Funktionen, deretwegen sie errichtet wurden, als auch solche, zu denen sie ob ihrer Höhe praktischerweise genutzt werden.

  • Glockenturm, in früheren Zeiten nicht nur zur Ankündigung des Gottesdienstes
  • Wachturm, bis ins 19. Jahrhundert Arbeitsplatz des Türmers, der nach militärischer Bedrohung und Bränden Ausschau hielt-
  • Repräsentation
  • Wehr- und Fluchtturm, siehe Wehrkirche
  • In Meeresnähe als Seezeichen (Plumpe Turm bei Burghluis) oder Leuchtturm
  • gleichzeitig auch Leuchtturm
  • Seit Erfindung mechanischer Uhrwerke als Uhrturm
  • In jüngerer Zeit als Aussichtsturm
Hinte (Ostfriesland): romanischer Glocken-„Turm“
Bamberger Dom, vier gleich hohe Türme
Fünftürmig: Vor Frue Kirke in Kalundborg
Marienkirche in Lübeck: Westtürme mit Rhombenhelmen und ein Dachreiter

Geläut

Traditionell trugen Kirchtürme mehrere Glocken. Kleine Glocken mit hohem Klang waren die Sturmglocke und die Totenglocke. Die großen Glocken sind im Klang harmonisch aufeinander abgestimmt. Große Glocken können eine erhebliche Belastung für das Mauerwerk darstellen. Daher gibt es verschiedene Arten der Glockenaufhängung. Bei der verbreitetsten lässt man die Glocke an der Achse hin und her pendeln und der Klöppel schwingt gegenüber der Glocke. So entsteht der typische Bim-Bam-Klang. In manchen Kirchtürmen des Mittelmeerraums sind die Glocken elastisch aufgehängt, aber nur die Klöppel pendeln hin und her. So entsteht ein Bim-Bim-Klang. In manchen spanischen Kirchtürmen rotieren die Glocken um eine Achse in Höhe ihres Schwerpunktes. Der entstehende Klang ist – im Sinne wissenschaftlicher Akustik – weniger harmonisch.

Türmer

In mittelalterlichen Städten gab es in mindestens einem der höchsten Kirchtürme eine Wohnung für den Türmer. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde das Amt des Türmers allgemein abgeschafft.

Zeitanzeige

Viele Kirchtürme sind mit einer Turmuhr ausgestattet, wobei meist auf mehreren Seiten des Turms ein Zifferblatt vorhanden ist. Die Turmuhr diente früher den Bewohnern des Dorfes als "Zeitnormal" zum Einstellen ihrer Uhren (sofern sie nicht die einzige Uhr im Ort war) und - zusammen mit dem Glockenschlag - als Zeitansage bei der Arbeit auf den umliegenden Feldern. Wurden früher die Turmuhren mit Gewichten in Gang gehalten, so sind sie heute in der Regel elektrifiziert. Ausgetauschte Uhrwerke oder Zifferblätter findet man in Museen oder Rathäusern ausgestellt.

Einige Kirchtürme besitzen auf einer Turmseite mehrere Zifferblätter. Bei modernen Kirchtürmen wird häufig auf eine Turmuhr verzichtet. Über die Verwendung von Digitaluhren als Kirchturmuhren liegen keine Informationen vor.

Geodäsie

Für Geodäten sind die Kirchtürme ideale Festpunkte, die eindeutig zuzuordnen und leicht verfügbar sind. Seitlich des Eingangs befindet sich oft ein Turmbolzen, der als stabiler Nivellementpunkt dienen kann.

Aussichtspunkt

Manche Kirchtürme besitzen eine Aussichtsplattform. Allerdings sind diese im Regelfall - im Unterschied zu den Aussichtsplattformen auf Wasser- und Fernsehtürmen nur über ein Treppenhaus zugänglich, weil der Einbau eines Aufzugs meist nicht möglich ist.

Moderne Funktionen

Manche Kirchtürme werden für den Mobilfunk genutzt. Allerdings müssen hierbei die Antennen wegen Denkmalschutzauflagen unter dem Dach angebracht werden. Eine weitergehende Nutzung von Kirchtürmen für funktechnische Zwecke dürfte nur in Ausnahmefällen stattfinden.

Vereinzelt wurden und werden Kirchtürme zeitweise oder dauernd auch für Werbezwecke genutzt. Dieser Umstand wird rege diskutiert, durch die Möglichkeit der Einnahmenerzielung in den Pfarrgemeinden aber überwiegend akzeptiert.

Position

Achteckiger Kirchturm in Oristano
Espadaña von San Pablo in Palencia (E)

Die häufigste Position ist die am dem (Haupt-) Altar gegenüberliegenden Ende des Kirchenschiffs. Traditionell ist das das Westende, aber seit dem 18. Jahrhundert haben städtebauliche Überlegungen Vorrang vor der im Mittelalter üblichen Ost-West-Orientierung der Kirchen. Es gibt auch Kirchen mit einem seitlich angebauten Turm, mit freistehendem Turm oder mit zwei bis fünf etwa gleichhohen Türmen.

Bauformen

Der Kirchturm als solcher entwickelt sich erst in romanischer Zeit, als mit der Rekonquista und den Kreuzzügen der Baukörper des Minarett in die Kirchenarchitektur aufgenommen wird. Freistehende Kirchtürme in Italien (Campanile) sind zumeist schlank und hoch.

Bei manchen romanischen Kreuzbasiliken ist der Vierungsturm der höchste Turm (Basilika Saint-Sernin in Toulouse). In Vierungstürmen reicht auch der Innenraum über die Firsthöhe des Hauptschiffes hinaus, das Licht durch Fenster des Turms erhält. Sond erstellt man einen Westturm, in dem Portal und Portikus untergebracht sind, bei den Basiliken zwei, zwischen denen sich das Westwerk spannt. Ebenfalls in der Romanik baute man statt eines Turmes gern einen breitgelagerten Westriegel. Selten finden sich Vierturmkirchen.

Nach der Gotik, mit der Renaissance kommt man wieder auf tempelartige Bauten mit wenig ausgeprägtem Turm zurück, wie schon nach der Rekonquista, von dem sich der Campanile ableitet, finden sich auch im Mittelmeerraum und in Zentraleuropa wieder in der Zeit der Türkenkriege vermehrt freistehende Türme.

Freistehende Türme können auch eher Haus denn Turm sein, wie in Ostfriesland, wo sie oft niedriger als das Kirchenschiff sind. Oder es gibt nur einen unscheinbaren Glockenstuhl, wie die Glockenstapel Nordfrieslands.

Die Formen und Dimensionen der Grundflächen weichen stark von einander ab. Sie sind quadratisch, rechteckig, rund oder polygonal. Rundtürme sind regional sogar häufig. Sechseckige Beispiele sind Nieuwerkerk auf Schouwen-Duiveland und die Grote of Sint-Jacobskerk in Den Haag. Das bekannteste deutsche Beispiel ist der neue Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin. Oktogonal ist zum Beispiel der Campanile des Doms von Oristano auf Sardinien.

Ein kleiner Turm auf dem Dachfirst des Kirchenschiffes wird Dachreiter genannt. Er kann sich über der Vierung befinden, ohne deshalb ein Vierungsturm zu sein. Manche Mönchsorden wie die Zisterzienser bauten als Ausdruck christlicher Demut nur einen Dachreiter – auch bei Kirchen stolzen Ausmaßes.

Daneben gibt es Kleinformen, bestehend aus ein oder mehreren Bögen zur Glockenaufhängung, die oben auf dem Giebelwand stehen (Espadañas, besonders in Südeuropa, aber auch nördlicher, etwa bei der Kirche von Germigny-des-Prés).

In der modernen Kirchenarchitektur geht man zunehmend wieder zu campanileartikel Turmbauten zurück, oder sucht andere formale und funktionale Interpretationen des Zwecks als Landmarke und als Geläutträger.

Turm der evangelischen Kirche in Glücksburg aus den 1960er Jahren

Details

"Geflammter Turm" mit geschraubter Spitze; von Notre Dame Puiseaux

Dächer

Kirche mit „thüringischer Haube“
Plan der Grote of Sint Jacobskerk in Den Haag mit secheckigem Turm

Frühe Kirchtürme, beispielsweise die der byzantinischen Kirchen von Ravenna hatten nicht sehr steile Pyramiden- oder Kegeldächer. Auch Sattel- und Walmdächer gab es, die sich in ihren Proportionen wenig von Hausdächern unterschieden.

In Spätromanik und Gotik baute man gerne hohe spitze Kirchturmdächer, aber vor allem in Frankreich und England verzichtete man in der Gotik oft auf die Turmspitze und ließ das reich verzierte hohe Gemäuer mit einer Plattform enden. Hölzerne Dachstühle wurden zunächst oft mit Blei gedeckt. Die heutige Kupferdeckung derselben Türme ist in der Regel jünger. Typisch wurde der Rhombenhelm. Bei dieser Form können alle Wände eines Turms als Giebel enden, ohne dass man mehrere Dachfirste braucht. Gemauerte Dächer entzünden sich nicht bei Blitzschlag, erhöhten aber das Gewicht. So errichtete man mancherorts Turmspitzen aus Maßwerk, wie beim Freiburger Münster. Zwiebeltürme besitzen eine zwiebelförmige Turmhaube. Ein Beispiel für eine Barockkirche mit einem Zwiebelturm ist die evangelische Johanniskirche im Frankfurter Stadtteil Bornheim, die eine viereckige Turmhaube besitzt.

In der Renaissance und im Barock kamen modifizierte Kuppeln mit aufgesetzter Laterne als Kirchturmdach in Mode, so genannte Welsche Hauben. Besonders im deutschsprachigen Alpengebiet kam der Zwiebelturm auf. Eine andere regionaltypische Form ist die „thüringische Haube“.

Als im 19. Jahrhundert immer mehr große Büro- und Mietshäuser gebaut wurden, besann man sich wieder auf die hohe gotische Turmspitze, um städtebauliche Akzente zu schaffen. Dank Blitzableiter waren sie nicht mehr so feuergefährlich. Viele im Mittelalter unvollendet gebliebene Kirchtürme wurden nun erstmalig mit hohen Kupferdächern ausgestattet.

Eine besondere Form ist der gedrehte Kirchturm bzw. sein geschraubtes Dach. Die geflammte oder verwundene Form, die in Europa etwa 100 mal vorkommt, ist auch in Deutschland 19 mal vertreten; u.a. bei St. Clemens in Mayen.

Turmknopf

In der Kugel von Kirchturmspitzen (dem Turmknopf oder auch Turmzier genannt) werden traditionell Zeitkapseln hinterlegt, um zeittypische Dinge (etwa Münzen und Geldscheine oder Zeitungen des Tages) an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Baugeschichte

Oft wurden die Türme der gotischen Kirchen zuletzt gebaut, da ihnen keine besondere Bedeutung für die Liturgie zukam. Nicht selten stellte man im 16. Jahrhundert ihren Bau ein und nahm ihn erst im 19. Jahrhundert im Zuge des Historismus mehr oder weniger werkgetreu wieder auf. Modernere Ingenieurleistungen vermochten zu verhindern, was im Mittelalter gang und gäbe war, den Einsturz halbfertiger Türme.

Streitpunkt: Gotische Kirchtürme mit flachem Abschluss

Konstanzer Münster heute
Notre Dame de Paris:
Türme unvollendet oder
flacher Abschluss geplant?
Coutances, Kathedrale, romanische Türme im 13. Jh. gotisch umgestaltet
Strassburg Steinbach.png
StrassburgMuenster.jpg
Straßburger Münster,
Entwurf aus dem
späten 13. Jahrhundert
Straßburger Münster,
nach mehreren aufeinander
folgenden Plänen gebaut

Angesichts vieler 'abgeschnitten' wirkender Fassadentürme (etwa bei Notre Dame in Paris) wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob diese Kirchen mit spitzen Türmen geplant, aber nie vollendet worden sind, oder ob der flache Turmabschluss von Anfang an geplant war.

"Die Bauarbeiten an einer Kathedrale begannen normalerweise mit dem Chor und schritten über das Mittelschiff fort zur Fassade, die nur selten vollendet wurde, ehe das Geld ausging. Der Kathedralenbau war nämlich finanziell ein Mammutunternehmen und soll nach Angaben von einigen Historikern die wirtschaftliche Stabilität Frankreichs ernstlich beeinträchtigt haben."[1]

Die wissenschaftliche Forschung steht vor dem Problem, dass nur sehr wenige zeitgenössische Dokumente erhalten sind, die Aufschluss über die originäre Planung geben. Bei einigen, wie für die Kathedrale von Laon), liegen Pläne von hohen Türmen mit Spitzen vor.

Dementsprechend konzipierte Viollet-le-Duc, der führende französische Denkmalpfleger des 19. Jahrhunderts, in einer Zeichnung das "Idealbild einer Kathedrale" mit diversen spitzen Türmen[2].

Im Mittelalter vollendete Fassaden französischer Kathedralen mit spitzen Türmen sind teils in der Romanik entstanden wie der 105 m hohe Südturm der Kathedrale von Chartres, oder sie wurden in der Übergangszeit von der Romanik zur Gotik gebaut (Mitte des 12. Jahrhunderts) (Châlons-sur-Marne) oder sie sind gotisch wie die Kathedrale von Coutances (13. Jahrhundert). Mit dem Bau der Fassade von Notre Dame de Paris wurde um 1200 begonnen. Um 1240 war sie ohne Spitzhelme vollendet und wahrscheinlich war der gerade Turmabschluss hier in Notre-Dame beabsichtigt und wurde zum Vorbild anderer Kathedralen. Der Südturm der Kathedrale von Senlis, im romanischen Stil der Türme von Laon gehalten, wurde im Gegensatz zum Vorbild um 1250 mit Spitze fertiggestellt. Es ist anzunehmen, dass gotische Baumeister mit ihrer Vorliebe für die Vertikale ungern hinter diesen Türmen zurückstehen mochten. Auch in der Spätgotik entstanden in Frankreich Spitztürme wie der Nordturm der Kathedrale von Chartres.

Wurden die Türme einer Kirche in ungleicher Weise flach abgeschlossen, so kann das verschiedene Ursachen haben: In Bourges musste tatsächlich vom ursprünglichen Bauplan abgewichen werden, wegen statischer Probleme. Der Südturm musste 1313 wegen Einsturzgefahr gesichert werden, der im 15. Jahrhundert weitergebaute Nordturm stürzte 1506 ein. In Amiens wurde der Südturm 1366 fertiggestellt, der Nordturm etwa 40 jahre später und wenig höher.

Der Bamberger Dom (1230/40) und der Naumburger Dom (1250/60), im Mittelalter mit spitzen Türmen vollendet, verweisen dagegen mit ihrem (abgesehen von späteren Umbauten) spätromanischen Baustil und den jeweils vier etwa gleich hohen Türmen eher auf die Dome von Speyer und Worms als Vorbild, obwohl ihre Turmbauten sich in den Bauformen an der Kathedrale von Laon orientieren. Der Kölner Dom (ab 1248) geht in seiner Architektur eindeutig auf französische Vorbilder zurück. Der Fassadenplan des Kölner Doms[3] zeigt allerdings, dass in Deutschland die Türme zum Schwerpunkt der Bauplanung wurden. Aus Frankreich sind keine derartigen Pläne erhalten.

Die mittelalterlichen Bauvorhaben der Gotik sind nicht mit heutigen Planungen zu verwechseln. Die damaligen Baumeister ließen sich - auch hier muss man wieder einschränkend sagen: 'höchstwahrscheinlich' - durchaus auf Ideen ein, von denen nicht klar war, ob und wie sie gelingen konnten. Ein Paradebeispiel dazu ist die - diesmal gesicherte - Planung der Zweiturmfassade des Kölner Doms aus dem 14. Jh. (der berühmte "Kölner Fassadenplan" von 1310/20), die erst im 19. Jh. gelungen ist.

Die gotische Architektur hat generell die Tendenz zur maximalen Ausnutzung der damaligen technischen Möglichkeiten - und zu ihrer Überschreitung. Gerade das damals mit architektonischen Höhenrekorden verbundene unkalkulierbare Risiko ist allerdings auch als Grund in Betracht zu ziehen, warum bei den prominentesten Kirchen Frankreichs darauf verzichtet wurde. Immerhin fanden in den Kathedralen von Paris und Reims regelmäßig Staatsakte statt.

Für die Theorie des geplant flachen Abschlusses spricht, dass gerade bei den drei wohl bedeutendsten gotischen Bauten Frankreichs (Notre Dame de Paris, Notre-Dame d'Amiens, Notre-Dame de Reims) insgesamt nicht ein einziger spitzer Turm fertiggestellt wurde, und darüber hinaus auch alle drei bei genau derselben Baustufe beendet wurden.

Auch in England, das damals vielfach mit Frankreich verbunden war, gibt es eine große Zahl bedeutender gotischer Kirchen, deren Turmabschluss flach ist, z.B. die Kathedralen von Bristol, Canterbury, Ely, Exeter (hatte früher hölzerne Spitzhelme), Gloucester, Hereford, London (Westminster Abbey), Wells, Winchester und York.

Ebenfalls für Absicht spricht die Zeitschiene, auch wenn in Frankreich während des Hundertjährigen Krieges von 1337 bis 1453 wenig Geld für den Kathedralbau übrig war. Die Bauarbeiten an den Kathedralen von Paris und Reims fanden ihren Abschluss im 14. Jahrhundert, lange bevor die Zeit gotischer Türme vorbei war. In Paris waren die Türme 1250 fertig, das gesamte Gebäude 1345, der Prager Veitsdom wurde 1344 begonnen, das Ulmer Münster 1377. Die Kathedrale von Antwerpen wurde 1352 begonnen und ihr Nordturm 1516 spitz vollendet. Der Nordturm der Kathedrale von Chartres bekam 1500-1503 seine Spitze, der Nordturm der Kathedrale von Tours 1543-1547. Der Südturm des Wiener Stephansdomes mit 137 Meter Höhe konnte 1433 vollendet werden. In Deutschland blieben dagegen tatsächlich viele gotische Türme vom 16. bis ins 19. Jahrhundert unvollendet, weil sie vor ihrer Fertigstellung veraltet waren.

Gleichermaßen ambivalente und erhellende Indizien liefert die Baugeschichte des Straßburger Münsters. Der erste Entwurf für eine Spitzturmfassade datiert von 1275, also dem Jahr nach Vollendung des Langhauses. Nachdem Erwin von Steinbach das so genannte Rosengeschoss hochgezogen hatte, wurde der Entwurf in vielerei Hinsicht abgewandelt und in ganzer Breite ein drittes Geschoss mit neuem waagerechten Abschluss geschaffen. Danach wandte sich das Ziel wieder in Richtung eines spitzen Abschlusses. Ulrich von Ensingen entwarf ganz neu den Nordturm, der dann 1399 bis 1439 errichtet wurde. Bei mehrfachen Entwurfsänderungen ist der heutige Zustand alles andere als ein unvollständig ausgeführter Originalentwurf.

Andere Glockentürme

Wiewohl der Kirchturm geradezu sprichwörtlich ist und Haus-mit-Turm zur Chiffre von Kirche geworden (Verkehrsschilder mit Gottesdienstzeiten), gibt es in manchen Gegenden zahlreiche andere Gebäude mit hohem Glockenturm. In Flandern haben viele Rathäuser einen Belfried. Auch in der Toskana gibt es Rathäuser mit hohem Turm, beispielsweise in Siena.

Superlative

Literatur

Allgemein:

  • Nikolaus Pevsner: Europäische Architektur von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997.
  • Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. 1907. (14. Auflage. Piper, München 1987, ISBN 3-492-10122-4)
  • Wilhelm Worringer: Formprobleme der Gotik. München 1911.

Gotische Turmabschlüsse:

  • Günther Binding: Baubetrieb im Mittelalter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993, S. 191 ff.
  • Günther Binding: Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 – 1350. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, S. 237 ff.
  • Robert Bork: Gotische Türme in Mitteleuropa. Imhof, Petersberg; 2008.
  • Werner Schäfke: Frankreichs gotische Kathedralen. DuMont, Köln 1994, S. 27 und 101.
  • Wim Swaan: Die großen Kathedralen. Köln 1969, S. 72: Johan Hültz von Köln: Entwurf der Turmspitze des Straßburger Münsters von 1419.
  • Borger, Gaertner: Der Dom zu Köln. Köln 1980.

Einzelnachweise

  1. (Honour, Hugh / John Fleming: Weltgeschichte der Kunst [1982]. München 5. Auflage. 1999, S. 310.
  2. (abgebildet in: Binding, Günther: Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140 – 1350. Darmstadt / Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 132 und in: Werner Schäfke: Frankreichs gotische Kathedralen. Köln 1994. (DuMont Kunst-Reiseführer), S. 27). Im selben Buch von Schäfke ist auf S. 100 die Zeichnung von Villard de Honnecourt zu den geplanten Türmen von Laon zu sehen. Die rechts daneben auf S. 101 stehende "Idealansicht von Norden" von Laon zeigt die Türme zwar höher als die später gebauten, aber ohne spitze Türme. Die linke originale Zeichnung dagegen deutet diese spitzen Türme an.
  3. Borger/Gaertner: Der Dom zu Köln. Köln 1980, S. 40.

Weblinks

 Commons: Kirchtürme – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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