Nukleophile Substitution

Nukleophile Substitution

Die nukleophile Substitution ist ein wichtiger Reaktionstypus in der organischen Chemie. Hierbei reagiert ein Nukleophil in Form einer Lewis-Base (Elektronenpaardonator) mit einer organischen Verbindung vom Typ R–X (R bezeichnet einen Alkyl- oder Arylrest, X ein elektronenziehendes Heteroatom). Das Heteroatom wird dabei durch das Nukleophil ersetzt (siehe Substitutionsreaktion).

In der Anorganischen Chemie ist dieser Typus ebenfalls anzutreffen, ein Beispiel ist die Hydrolyse von Siliciumtetrachlorid.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeine Kennzeichen

Nukleophile Substitutionsreaktionen werden meistens in Lösung durchgeführt. Dabei sind die Polarität des Lösungsmittels sowie die Substituenteneinflüsse in den Edukten von entscheidender Bedeutung für die Geschwindigkeit der Reaktion. Ist das Lösungsmittel selbst der nukleophile Reaktionspartner, spricht man von einer Solvolyse.[1]

Edukte

Nukleophile

Als Nukleophile können die verschiedensten Verbindungen eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um Anionen oder elektronenreiche Moleküle mit freien Elektronenpaaren (siehe Beispiele unten).

Typ R-X

Das angegriffene Molekül R-X hat eine stark polare Bindung (ungleiche Verteilung der Elektronendichte), z.B C-Cl, C-Br, C-O, C=O oder Si-Cl.

In folgenden Verbindungen kann das Heteroatom beziehungsweise die Heteroatom-haltige Gruppe durch ein Nukleophil substituiert werden:

Mechanismen

Nukleophile Substitutionen werden bei aliphatischen und aromatischen Verbindungen beobachtet: Es gibt aliphatische nukleophile Substitutionen und aromatische nukleophile Substitutionen, wobei erstere wesentlich weiter verbreitet ist.

Darüber hinaus werden die Reaktionen aufgrund der Molekularität in verschiedene Gruppen eingeteilt. Das heißt, die Reaktionen werden danach eingeordnet, wie viele Moleküle am geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der Reaktion beteiligt sind. Die beschriebenen Mechanismen SN1 und SN2 sind als Extremfälle der nukleophilen Substitution aufzufassen. Der Übergang dazwischen ist fließend.

Der SNi-Mechanismus ist ein Spezialfall, der gesondert diskutiert wird.

Aromatische nukleophile Substitutionen laufen meistens zweistufig ab, das heißt die Zwischenprodukte sind oft isolierbar (siehe Meisenheimer-Komplexe). Zusätzlich ist ein sogenannter Dehydrobenzol-Mechanismus bekannt, der auch als Arinmechanismus bezeichnet wird.

SN1-Mechanismus

SN1 steht für eine nukleophile Substitution mit einem monomolekularen Mechanismus, der zweistufig verläuft und wobei nur ein Molekül am geschwindigkeitsbestimmenden Schritt beteiligt ist.

Im ersten Schritt wird aus der Verbindung R-X die Gruppe X als Anion freigesetzt. Zurück bleibt ein Carbokation (Carbeniumion) R+. Auf diese reaktive Zwischenstufe (R+) erfolgt der Angriff des Nucleophils unter Bildung des Produkts, womit die Reaktion beendet ist. Ideal dafür sind Verbindungen, die relativ stabile Carbokationen bilden (mesomeriestabilisierte oder tertiäre Kohlenstoffatome mit einer positiven Ladung) und ein polares protisches Lösungsmittel. Außerdem wird der SN1-Mechanismus durch eine relativ kleine Anfangskonzentration der Edukte begünstigt. Das Nucleophil ist nicht am geschwindigkeitsbestimmenden Schritt beteiligt (siehe SN2). Stehen aber mehrere Nucleophile zur Verfügung, so findet man im Produkt überwiegend das stärkere Nucleophil wieder.

Sn1 Mechanismus

Stereochemie

Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt beim SN1-Mechanismus ist die Bildung des idealerweise planaren Carbokations. Die Konfiguration der Ausgangsverbindung wird dadurch aufgehoben.

Theoretisch ist der nachfolgende Angriff des Nukleophils von beiden Seiten gleich wahrscheinlich. Ein racemisches Produkt wäre die Folge, da der Angriff von der der austretenden Gruppe gegenüberliegenden Seite einen Konfigurationswechsel (=Inversion), der von derselben Seite die Erhaltung der Konfiguration (Retention) zur Folge hätte. Experimentell findet man oft mehr Produkte mit einem Konfigurationswechsel (Ausbeute 50-70%), dies liegt daran, dass nach einer Abspaltung der Abgangsgruppe, diese Abgangsgruppe nicht schnell genug durch das Lösungsmittel diffundiert und somit diese Angriffsrichtung versperrt. Die abgehende Gruppe kann sich vor dem nucleophilen Angriff nicht ausreichend entfernen und stellt so für das angreifende Nucleophil eine Behinderung dar. Dies führt manchmal zu einer verstärkten Inversion der Konfiguration. In einem solchen Fall spricht man von einer Teil-Racemisierung.

Beobachtet wurden bei Reaktionen nach SN1 jedoch alle stereochemischen Möglichkeiten von vollständiger Inversion bis zur Racemisierung, wobei die Bildung eines Racemates die Regel ist.

SN2-Mechanismus

SN2 steht für eine nukleophile Substitution mit einem bimolekularen Mechanismus, der einstufig verläuft und wobei beide Moleküle am geschwindigkeitsbestimmenden Schritt beteiligt sind. Der nukleophile Angreifer (auch "Angriff der Nukleophilen") nähert sich dem positiven Kern und es bildet sich eine trigonale Bipyramide mit schwachgebundenen axialen Liganden. Es folgt Inversion (bei chiralen Molekülen: Walden-Umkehr; auch "Regenschirmprinzip nach Krieger" genannt). Grund für den sog. Rückseitenangriff des Nukleophils kommt aus der MO-Theorie. Entscheidend ist hierbei die Wechselwirkung des HOMOs des Nukleophils mit dem LUMO der Kohlenstoffverbindung, in diesem Fall dem antibindenden Orbital, welches in Gegenrichtung zum bindenden Orbital C-Br steht.

Sn2 Mechanismus


In gleicher Weise, wie sich das Nukleophil dem Kern nähert, entfernt sich das abgehende Teilchen davon und verlässt das Molekül. Der SN2-Mechanismus findet bevorzugt in polaren aprotischen Lösungsmitteln und an primären Kohlenstoffatomen statt, da es bei tertiären Kohlenstoffatomen zu einer sterischen Hinderung kommt. Außerdem wird der Reaktionsverlauf durch eine relativ große Anfangskonzentration beider Edukte begünstigt.

SN2-Mechanismen am ungesättigten Kohlenstoffatom

Betrachtet man chlorsubstituierte ungesättigte Verbindungen, wie Vinylchlorid (C2H3Cl) oder Chlorbenzol (C6H5Cl), so wird gefunden, dass diese ungesättigten Verbindungen nur äußerst schlecht von Nucleophilen wie dem Hydroxid-Ion oder dem Amid-Ion angegriffen werden. Alkylhalogenide, also die gesättigten Halogenverbindungen, reagieren meist bereits bei Raumtemperatur, während bei der Reaktion von Chlorbenzol mit Hydroxid-Ionen Temperaturen von 200 °C nötig sind. Verantwortlich für dieses reaktionsträge Verhalten ist die erhöhte Elektronendichte an den ungesättigten Kohlenstoffatomen. Dadurch wird der Angriff eines Nucleophils erschwert; ungesättigte Kohlenstoffatome ziehen das gemeinsame Elektronenpaar der zu substituierenden Gruppe (z.B. die C-Cl - Bindung im Vinylchlorid oder im Chlorbenzol) stärker zu sich, was das Abstrahieren des Chloratoms erschwert.

Die Einführung elektronenziehender Gruppen im Benzol und seinen substituierten Derivaten, führte zur Entdeckung eines neuen Reaktionswegs, den man als SN2 (aromatisch) bezeichnet. Betrachtet man Chlorbenzol und vergleicht die Reaktionsgeschwindigkeit bei einem nucleophilen Angriff mit der Reaktion von p-Nitrochlorbenzol, so stellt man eine beträchtliche Steigerung der Umsatzgeschwindigkeit fest. Der genaue Mechanismus wird unter dem Artikel Nukleophile aromatische Substitution beschrieben.

SN2t-Mechanismus

Unter einer SN2t Reaktion versteht man den Angriff eines Nucleophils auf ein sp2 hybridisiertes Kohlenstoffatom, welches besonders stark positiv polarisiert ist. Oft wird diese Reaktion auch als Additions-Eliminierungs-Reaktion an der Carbonsäure oder ihren Derivaten bezeichnet. Es findet dabei eine Umhybridisierung von sp2 zu sp3 statt, weswegen sich ein tetraedrisches Zwischenprodukt bildet (das t in SN2t steht für Tetraedrisch). Anschließend tritt die beste Abgangsgruppe aus und das Kohlenstoffatom rehybridisiert zu sp2. Ein Beispiel hierfür ist die säurekatalysierte Veresterung von Carbonsäuren mit Alkoholen.Die Carboxylgruppe wird zunächst protoniert und das Nucleophil, in diesem Fall ein Alkohol, kann angreifen. Nach einer weiteren Protonierung kann Wasser als gute Abgangsgruppe austreten.[3]

SNi-Mechanismus

Die Gewinnung von Alkylchloriden durch nukleophile Substitution von Alkanolen mit Thionylchlorid erfolgt nach einem sogenannten SNi-Mechanismus. Aus einem enantiomerenreinen Alkanol als Edukt wird ein Alkylchlorid mit gleicher Konfiguration erhalten. Die SNi-Reaktion verläuft also unter Retention (Erhalt der Konfiguration). Ob eine SNi-Reaktion oder eine SN2-Reaktion stattfindet, hängt dabei vom Lösungsmittel ab. Das angreifende Nucleophil, in diesem Fall ein Chlorid-Ion, darf nicht im Solvens gelöst sein, deswegen verwendet man bei der SNi-Reaktion Diethylether. Infolge kann das Chlorid-Ion nur intern übertragen werden. Verwendet man dagegen Pyridin als Lösungsmittel, findet eine SN2-Reaktion statt.[4]

Nachbargruppenbeteiligung

Nucleophile Substitutionen können auch durch molekülinterne Prozesse gesteuert werden. So kann es zu einer Beteiligung, der schon am betrachteten Kohlenwasserstoff gebundenen Substituenten kommen. Diese intramolekulare Reaktion ist bevorzugt, da die Wahrscheinlichkeit hoch ist, mit den am benachbarten C-Atom liegenden Substituenten zusammenzustoßen (Dieses Nucleophil kann nicht durch zum Beispiel das Lösungsmittel vom Substrat entfernt werden).

Hierbei fungiert die Nachbargruppe (Substituent) als Nucleophil, welches über einen Rückseitenangriff die Abgangsgruppe abspalten lässt. Es bildet sich übergangsweise ein zyklisches System. Ein solcher Zyklus kann einerseits durch eine hohe Ringspannung (kleine Ringe) oder andererseits durch einen Angriff eines externen Nucleophils geöffnet werden. Im zweiten Fall wird demnach unter zweifacher Inversion das Retentionsprodukt erhalten.

Beispiele

Substitution am Alkylkohlenstoff/Arylkohlenstoff

Sauerstoff als Nukleophil

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Nukl-subst-roo.svg

  • Arylchloride reagieren mit Cyanat zu Arylcyanaten und Chlorid:

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Stickstoff als Nukleophil

  • Zur Gewinnung sekundärer Amine wird die Reaktion nicht in Ammoniak sondern mit einem weiteren Amin als Lösungsmittel durchgeführt (→ Aminolyse).
  • Tertiäre Amine entstehen durch die Umsetzung mit einem sekundären Amin,
  • Tetraalkylammoniumsalze durch die Umsetzung mit einem tertiären Amin.

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Schwefel als Nukleophil

  • Mit Thioharnstoff reagieren Alkylhalogenide zu Isothiuronium-Salzen.

Halogenide als Nukleophil

  • Werden Alkyl- oder Arylchloride beziehungsweise -bromide mit einem Überschuss an Fluorid (in polaren, aprotischen Lösungsmitteln) oder Iodid (in Aceton) umgesetzt, entstehen aliphatische oder aromatische Fluoride oder Iodide. Die Reaktion mit Iodid wird als Finkelstein-Reaktion bezeichnet.

Phosphor als Nukleophil

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Hydrid als Nukleophil

Nukl-subst-hydrid.svg

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Siegfried Hauptmann: Reaktion und Mechanismus in der organischen Chemie, B. G. Teubner, Stuttgart, 1991, S. 78, ISBN 3-519-03515-4.
  2. Ivan Ernest: Bindung, Struktur und Reaktionsmechanismen in der organischen Chemie, Springer-Verlag, 1972, S. 107−111, ISBN 3-211-81060-9.
  3. Helmut Wachter: Chemie für Mediziner, Gruyter; Auflage: 8., S.323, 978-3110175813.
  4. Reinhard Brückner (Chemiker): Reaktionsmechnismen, Spektrum Akademischer Verlag,3.Auflage S. 93, ISBN 978-3-8274-1579-0.

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