- Oktoberreform
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Als Oktoberreform wird die mit der Oktoberverfassung vollzogene Änderung des politischen Systems des Deutschen Kaiserreiches hin zu einer parlamentarischen Monarchie (später: Demokratie) bezeichnet, die im September 1918 begann und von der amtierenden Führung ausging. Der Grund für die Reform war die Warnung der Obersten Heeresleitung, dass der Krieg verloren sei und man einen Waffenstillstand schließen müsse. Die OHL hoffte damit, die Bedingungen für den Waffenstillstand verbessern zu können, wollte aber vor allem auch den Politikern und Parteien, die die Macht übernahmen, die Schuld für die Niederlage zuschieben.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Demokratie- und Verfassungsentwicklung vor dem Ersten Weltkrieg
Einen ersten Versuch zum Aufbau eines demokratischen deutschen Nationalstaates gab es mit der Märzrevolution 1848, der Versuch scheiterte aber. Unter Führung Preußens und seines Ministerpräsidenten Otto von Bismarck wurde 1871 das Deutsche Reich als eine konstitutionelle Monarchie gegründet. Im Preußischen Verfassungskonflikt war ein großer Teil der Liberalen bereit gewesen, zu Gunsten der Gründung eines deutschen Staates das Ziel der Demokratisierung zurückzustellen.
Die Verfassung des Reichs, die erst durch die Oktoberverfassung bedeutend geändert wurde, sah für den Reichstag das allgemeine, gleiche und geheime Männerwahlrecht vor. Dies war das damals fortschrittlichste Wahlrecht, allerdings wurde die Einteilung der Wahlkreise trotz einer starken Bevölkerungsverschiebung bis zum Ende des Kaiserreiches nicht geändert. Der Einfluss dieses Parlaments auf die Reichspolitik war jedoch verhältnismäßig begrenzt. Seine wichtigen Befugnisse waren Budgetrecht und die Beteiligung an der Gesetzgebung. Die Reichsleitung dagegen war nicht ihm, sondern allein dem Deutschen Kaiser verantwortlich. Die Reichskanzler nutzten normalerweise wechselnde Mehrheiten, nur Bernhard von Bülow bildete kurzzeitig eine feste Koalition (Bülow-Block). Neben dem Reichstag gab es noch den Bundesrat als Vertretung der Bundesstaaten, die überwiegend ebenfalls Monarchien waren. Alle im Deutschen Reich beschlossenen Gesetze bedurften auch der Zustimmung des Bundesrates. Darüber hinaus musste der Bundesrat bestimmten Amtshandlungen des Kaisers zustimmen, wie beispielsweise der Auflösung des Reichstages und Kriegserklärungen.
Seit 1871 waren auch Sozialdemokraten im Reichstag vertreten, deren Parteien sich später zur SPD zusammenschlossen. Sie trat im Deutschen Kaiserreich am stärksten für eine republikanische Staatsform ein, aber auch andere Parteien wie die Liberalen oder das Zentrum befürworteten zumindest in Teilen demokratische Reformen.
1914 bis 1917
Als 1914 der Erste Weltkrieg begann, willigte die SPD in den Burgfrieden ein und bewilligte die Kriegskredite. Je länger der Krieg dauerte und je mehr Opfer er forderte, desto weniger SPD-Mitglieder waren bereit, den „Burgfrieden“ von 1914 aufrechtzuerhalten: umso weniger, da seit 1916 nicht mehr Kaiser und Reichsregierung die Richtlinien der deutschen Politik bestimmten, sondern die Oberste Heeresleitung (OHL) unter den Generälen Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff. Letzterer traf dort die wesentlichen Entscheidungen. Sie regierten Deutschland faktisch als Militärdiktatoren und verfolgten offensive Kriegsziele. Anfangs hatte die Militärregierung noch die Unterstützung des Reichstags, nur SPD und Linksliberale waren dagegen. Nach Ausbruch der russischen Februarrevolution im Jahr 1917 kam es auch in Deutschland zu den ersten organisierten Massenstreiks. Im März und April 1917 beteiligten sich daran etwa 300.000 Rüstungsarbeiter.
Da der Kriegseintritt der USA am 6. April eine weitere Verschlechterung der Lage wahrscheinlich machte, versuchte Kaiser Wilhelm II. die Proteste mit seiner Osterbotschaft vom 7. April 1917 zu beschwichtigen: Er versprach für die Zeit nach dem Kriegsende allgemeine, gleiche Wahlen auch für Preußen, wo bis dahin das Dreiklassenwahlrecht herrschte. Im März war auf Antrag der SPD ein Parlamentsausschuss gebildet worden. Doch Teile der SPD reagierten auf den wachsenden Unmut in der Arbeiterschaft, und die Partei spaltete sich wegen der Haltung zum Krieg in die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) unter Friedrich Ebert und die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD). Diese verlangten die sofortige Beendigung des Krieges und weitere Demokratisierung Deutschlands. Als im Juli eine neue Regierung unter Georg Michaelis gebildet wurde, wurden einige Parlamentarier als Unterstaats- und als Staatssekretäre aufgenommen.
1917 und 1918
Die Mehrheitsparteien im Reichstag (MSPD, die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei und jetzt auch die katholische Deutsche Zentrumspartei) bildeten den Interfraktionellen Ausschuss. Er verabschiedete im Juli 1917 die so genannte Friedensresolution, die einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen und Kontributionen vorsah. Doch diese Resolution wies die OHL ebenso zurück wie im März 1918 das 14-Punkte-Friedensprogramm des US-Präsidenten Woodrow Wilson vom Januar desselben Jahres. Es sah auf der Grundlage des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ einen Frieden „ohne Sieger und Besiegte“ vor. Hindenburg und Ludendorff lehnten dieses Angebot ab, da sie sich nach dem mittlerweile errungenen Sieg über Russland wieder in der stärkeren Position glaubten. Sie setzten weiter auf einen „Siegfrieden“ mit weit reichenden Annexionen auf Kosten der Kriegsgegner.
Am 1. November wurde der ehemalige Führer der Reichstagsfraktion des Zentrums, Georg von Hertling, Reichskanzler und hatte dabei auch die Zustimmung des Reichstags, nachdem Michaelis auf Druck des Reichstags hatte zurücktreten müssen; Hertling war aber Gegner einer Parlamentarisierung. Die Führungsstellung der OHL, welche Verfassungsänderungen entschieden ablehnte, wurde aber weiterhin von der Reichsleitung und einer Mehrheit im Reichstag anerkannt. Im Januar 1918 kam es im ganzen Reich zu den Januarstreiks mit mehr als einer Million Teilnehmern. Im Juli 1918 lehnte in Preußen eine Mehrheit aus Nationalliberalen, Konservativen und Zentrum eine Reform des alten Dreiklassenwahlrechts für die Abgeordnetenhauswahlen ab. Im März 1918 hatte die neue Sowjetregierung dem Frieden von Brest-Litowsk mit Deutschland zugestimmt. Er erlegte Russland sehr viel härtere Friedensbedingungen auf als der spätere Friedensvertrag von Versailles dem Deutschen Reich. Die OHL konnte nun zum Teil die im Osten frei gewordenen Truppen an der Westfront einsetzen. Die meisten Deutschen glaubten, dass ein siegreiches Kriegsende nun auch im Westen kurz bevorstünde.
Diese Ansicht war falsch. Am 8. August 1918 durchbrachen britische Tanks die Westfront, am 14. August stufte die OHL die Lage als aussichtslos ein, trotzdem sprach sie sich noch bis Anfang September dagegen aus, einen übereilten Frieden zu schließen. Mitte September zerbrach auch die Balkan-Front, am 27. September kapitulierte Bulgarien, das mit den Mittelmächten verbündet war. Auch Österreich-Ungarn stand vor dem Zusammenbruch.
Am 29. September informierte die OHL den Kaiser und den Reichskanzler Georg von Hertling im belgischen Spa über die aussichtslose militärische Lage. An dieser Sitzung des Kronrates nahmen der Kaiser, Hindenburg, Ludendorff und als Vertreter der Reichsleitung Reichskanzler Hertling und der Staatssekretär des Auswärtigen Admiral Paul von Hintze teil. Die OHL sah sich gezwungen die Flucht nach vorne anzutreten, wozu ihr auch wichtige Unternehmer, vor allem aus der Rüstungsindustrie wie Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, geraten hatten. Ludendorff forderte ultimativ ein Waffenstillstandsgesuch an die Alliierten, da er nicht garantieren könne, dass die Front länger als 24 Stunden zu halten sei. Dies war eine übertriebene Behauptung, die er vorher mit Hintze abgesprochen hatte. Er empfahl ferner, eine zentrale Forderung Wilsons zu erfüllen und die Reichsregierung auf eine parlamentarische Basis zu stellen, um günstigere Friedensbedingungen zu erlangen, in Preußen sollte das Wahlrecht reformiert werden. Ein Grund für die schnelle Revolution von oben war die Furcht die militärische Niederlage könne eine Revolution von unten nach dem abschreckenden Beispiel Russlands auslösen. Damit sollten aber auch die demokratischen Parteien des Interfraktionellen Ausschusses die bevorstehende Kapitulation, denn das war das unvorbereitete Waffenstillstandsangebot faktisch, zu verantworten haben. „Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben“, erklärte er am 1. Oktober gegenüber Offizieren seines Stabes. Dies war der Keim der späteren Dolchstoßlegende.
Oktoberverfassung
Die Mehrheitsparteien hatten erst am 28. September wieder einmal zur Bildung einer Regierung aufgefordert, die das Vertrauen des Reichstags besitzt, und waren - vor allem die SPD-Führer - auch bereit, die Regierungsverantwortung in letzter Minute zu übernehmen. Über die Unausweichlichkeit der Niederlage waren die demokratisch gesinnten Parteien nicht informiert, nur führende Militärs, die Reichsleitung, der Kaiser und einige Industrielle wussten Bescheid.
Da der überzeugte Monarchist Hertling die Parlamentarisierung ablehnte, sollte der als liberal geltende Prinz Max von Baden neuer Reichskanzler werden; die Parlamentsparteien waren nicht in der Lage, einen eigenen Kandidaten zu präsentieren. Dies erfuhr Prinz Max am 1. Oktober, gleichzeitig sagte man ihm, dass er einen Waffenstillstand herbeiführen sollte, was ihn schockierte. Als am folgenden Tag die Mehrheitsparteien ebenfalls einen Lagebericht erhielten, stockten die Verhandlungen über die Regierungsbildung, und Philipp Scheidemann warnte, nicht in ein "bankrottes" Unternehmen hineinzugehen. Da Friedrich Ebert an das nationale Verantwortungsgefühl der SPD appellierte und der Kaiser den Prinzen in die Pflicht nahm, übernahm am 3. Oktober trotzdem die erste parlamentarische Regierung des Deutschen Reiches die Macht. In diesem Kabinett waren erstmals Mitglieder der SPD; sie stellte zwei Staatssekretäre, einer davon war Philipp Scheidemann, die Fortschrittspartei stellte ebenfalls zwei, das Zentrum drei Staatssekretäre. Der Reichstag sprach der Regierung ausdrücklich das Vertrauen aus. Am Folgetag bot die neue Regierung den Alliierten den von Ludendorff geforderten Waffenstillstand an, Ziel der neuen Regierung war ein ehrenvoller Verständigungsfriede auf Basis von Wilsons 14-Punkte-Programm. Um die eigene Position nicht weiter zu schwächen, musste die Regierung dabei die Bitte um ein Ende der Kämpfe als eigene politische Entscheidung darstellen.
Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr erst am 5. Oktober von diesen vollendeten Tatsachen. Im allgemeinen Schock über die offenkundig gewordene Kriegsniederlage blieben die Änderungen der Verfassung fast unbeachtet. Der Reichstag übernahm in dieser Zeit nicht die Initiative, sondern vertagte sich am 5. Oktober auf 22. Oktober. Am 28. Oktober beschloss er die Verfassungsänderung auch formell.
Die Oktoberverfassung brachte große Veränderungen. Ein wichtiger Punkt war die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber dem Bundesrat und Reichstag, der Kanzler musste das Vertrauen des Reichstags besitzen (Einführung des parlamentarischen Regierungssystems). Neben dem Bundesrat musste jetzt auch der Reichstag Kriegserklärungen und einem Friedensschluss zustimmen. Weitere Neuerungen waren, dass Regierungsmitglieder dem Reichstag angehören durften, der Reichskanzler für politische Handlungen des Kaisers die Verantwortung trug und der Reichskanzler oder Kriegsminister den Personalentscheidungen des Kaisers über Offiziere und Generäle zustimmen musste. Damit war das Deutsche Reich von einer konstitutionellen Monarchie zu einer parlamentarischen Monarchie geworden.
Weitere Entwicklung
Der Schock über das Waffenstillstandsgesuch löste bei der deutschen Bevölkerung, die in der Hoffnung auf den versprochenen Siegfrieden den Tod von Soldaten und Massenhunger ertragen hatte, eine große Kriegsmüdigkeit und den Willen zum Frieden aus. Je länger die Verhandlungen dauerten, desto stärker radikalisierte sich die Bevölkerung. Die Alliierten stellten weitere Vorbedingungen für das Einstellen der Kampfhandlungen. Am 23. Oktober verlangte eine Note des US-Präsidenten Wilson, dass der Waffenstillstand „eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten seitens Deutschlands unmöglich machen müsse“, was formal einer Entwaffnung entsprach. Außerdem sah er noch eine zu große Macht in der Hand des Kaisers. Obwohl unklar ist, ob die Note eine Abdankung des Kaisers oder ein Ende der Monarchie forderte, schien der Kaiser ein Friedenshindernis zu sein. Die OHL unter Ludendorff wollte nach diesen Forderungen den Kampf, den sie zuvor als aussichtslos bezeichnet hatte, wieder aufnehmen. Prinz Max von Baden drohte daraufhin mit seinem Rücktritt und Ludendorff wurde vom Kaiser durch Wilhelm Groener ersetzt. In der Bevölkerung forderten immer größere Teile Der Kaiser muss weg, auch Industrielle wie Robert Bosch forderten seine Abdankung um die Monarchie zu retten und eine Revolution zu verhindern.
Haltung der Parteien
Gegner der Reformen waren die Parteien auf dem rechten und linken Flügel des Reichstags, allerdings aus entgegengesetzten Gründen. Der rechte Flügel mit der Deutschkonservativen Partei und der konservativen, schwerindustriellen und großagrarischen Deutschen Reichspartei war für ein Fortbestehen der Monarchie und deswegen gegen eine Parlamentarisierung. Der linke Flügel, die USPD, war gegen die Reformen, da der Parlamentarismus die fortbestehende Ausbeutung durch den Kapitalismus verdecke und damit die Entwicklung zum Sozialismus, der nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution herbeigeführt werden sollte, verlangsame.
Die Parteien der Mitte waren mit der Oktoberverfassung zufrieden. Dafür gab es aber auch unterschiedliche Gründe. Bei der Nationalliberalen Partei waren neben demokratischer Überzeugung auch die Furcht vor einer Revolution und die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges Gründe für die Zustimmung.
Die Mehrheitsparteien sahen ihre Demokratisierungsziele erreicht. Ebert betrachtete schon den 5. Oktober als die „Geburt der deutschen Demokratie“. Zur Revolution sagte er am 7. November zum Kanzler: Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ich hasse sie wie die Sünde. Das Programm der SPD folgte der marxistischen Tradition, in der Realität versuchte sie aber die Situation der Arbeiter zu verbessern, der Sozialismus sollte über Reformen erreicht werden. Die russische Oktoberrevolution war für sie ein abschreckendes Beispiel, die eine neue „Säbelherrschaft“ und weder Demokratie noch Sozialismus gebracht habe. Für die Zentrumspartei, gegen die im Kaiserreich früher ein Kulturkampf geführt worden war, ermöglichte die Demokratie eine Umsetzung der katholischen Soziallehre. In den Augen der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei schließlich, war die weitgehende Durchsetzung der Volkssouveränität gegen die Fürstensouveränität erreicht worden.
Ausbruch der Revolution
Die meisten Parteien waren also mit dem Ergebnis zufrieden, eine Abschaffung der Monarchie wollte nur die USPD. Auch um schnell einen Frieden herbeiführen zu können, wollten die Mehrheitsparteien eine ruhige Entwicklung. Als am 29. Oktober aber die Hochseeflotte zu einer letzten Schlacht auslaufen sollte, kam es zum Kieler Matrosenaufstand und weiteren Streiks, die den Polizei- und Militärapparat zusammenbrechen ließen. Das Resultat dieser Aufstände war die Novemberrevolution. Der Kaiser hatte dazu auch durch provozierende Aktionen, wie seine Reise ins Hauptquartier der OHL nach Spa ohne Rücksprache mit dem Kanzler, beigetragen. Am 9. November übergab Prinz Max von Baden an Friedrich Ebert, gegen die Bestimmungen der Oktoberverfassung, das Amt des Reichskanzlers, außerdem gab er eigenmächtig die Abdankung des Kaisers bekannt. Am gleichen Tag gegen 14 Uhr rief der SPD-Politiker Philipp Scheidemann eine demokratische Deutsche Republik aus. Ungefähr zeitgleich proklamierte der Sprecher des Spartakusbundes Karl Liebknecht im Berliner Tiergarten und etwa zwei Stunden später nochmals vom Berliner Stadtschloss aus die Freie Sozialistische Republik Deutschland. Nachdem die Oktoberverfassung an Bedeutung eingebüßt hatte, trat 1919 die Weimarer Verfassung in Kraft.
Literatur
- Werner Frotscher, Bodo Pieroth: Verfassungsgeschichte. 5. Auflage. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53411-2, Rn 462 ff.
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