Feindesliebe

Feindesliebe

Feindesliebe bezeichnet ein individuelles und soziales Verhalten, das Feindschaft durch bewusste Wohltaten für Feinde zu überwinden sucht und darum auf Rache und meist auch auf Gewalt gegen sie verzichtet. Zielrichtung ist die Versöhnung, das beiderseitige Glück und dauerhafter Frieden miteinander.

Da Jesus von Nazaret Feindesliebe ausdrücklich gebot, wird der Begriff oft dem Christentum zugewiesen. Gutestun für Feinde, Vergebung und Gewaltfreiheit spielen jedoch in verschiedenen Weltreligionen eine bedeutende, manchmal zentrale Rolle. Auch philosophische Ethik kennt auf Überwindung von Feindschaft zielende Konzepte.

Inhaltsverzeichnis

Hinduismus

Die ältesten religiös-philosophischen Schriften Indiens, die Veden (entstanden zwischen 1200 v. Chr. und 500 v. Chr.) und Upanishaden (entstanden zwischen 700 v. Chr. und 200 v. Chr.), enthalten Ahimsa, das Prinzip des Nichtverletzens. Es beinhaltet ein bewusstes, täglich geübtes Vermeiden jeder Form von Gewalt in Taten, Worten und Gedanken. Zudem verlangt hinduistische Ethik, der Dharma, ausdrücklich auch Ksama: Nachsicht und Vergebung. Dies begründen Lehren des Hinduismus großenteils mit dem Gedanken der Einheit aller Lebewesen, etwa Vers 6 aus Isa Upanishad:

Der alle Wesen im Selbst [ Atman ] sieht und das Selbst in allen Wesen, hasst niemanden.

Ähnlich lässt etwa das Devi Bhagavatam die Göttin über ihren Verehrer sagen:[1]

Er betrachtet alle Wesen als mein Selbst und liebt Mich so wie er sich selbst liebt. Er macht keinerlei Unterschied zwischen den Wesen und mir, so wie er denselben Geist überall und in allem manifestiert findet.

Das Mahabharata, ein Buch für die ethischen Grundlagen der Hindus, fordert an mehreren Stellen deutlich dazu auf, erlittenes Unrecht nicht zu vergelten. Der Weise Markandeya sagt:[2]

Man soll niemals Falsches mit Falschem erwidern, sondern ehrenhaft gegen jene handeln, die einen unrecht behandelt haben.

Die Bhagavad Gita, eine der populärsten Schriften des Hinduismus, zählt die „Gaben des Menschen von göttlicher Natur“ auf:[3] Vergebung, Zornlosigkeit, Entsagung, Frieden, Nichtverleumdung, Mitleid mit allen Lebewesen, Begierdelosigkeit, Milde, Bescheidenheit, Beständigkeit, lichtvolle Stärke, Reinheit, Fehlen von Feindseligkeit, Nicht-Hochmut.

Der Jainismus als Lehre Mahaviras hat die Prinzipien des Ahimsa im Alltag der Mönche umzusetzen versucht. Mahatma Gandhi studierte bei einem Jaina und las täglich die Bhagavad Gita. Er leitete aus dem Gebot der Ahimsa absolute Gewaltfreiheit gegenüber Feinden ab. In seinem Konzept der Satyagraha verband er das aktive Festhalten der Wahrheit (Sanskrit: satyam) mit dem bewussten Auf-sich-Nehmen von gewaltsam zugefügtem Leid bis hin zum Selbstopfer (tapasya). Dies bedeutete zugleich ein aktives, geduldiges Vorgehen gegen kulturelle und nationale Fremdbestimmung. Im nationalen Unabhängigkeitskampf Indiens gewann dieses Konzept revolutionäre Kraft und überwand die langjährige britische Kolonialherrschaft.

Das Festhalten der Wahrheit gegen die Gewalt des Feindes sollte aber nicht nur die Situation der Gewaltopfer, sondern auch die der Gewalttäter langfristig verändern. Gandhi hatte dabei nicht nur das Wohl Indiens, sondern auch das der Kolonialherren und der englischen Arbeiter im Auge. Er glaubte, dass die Gewaltfreiheit auch für sie der einzig erfolgversprechende Weg zu wirklicher Gesellschaftsveränderung sein könne. Er wollte ihre Abhängigkeit von ausbeuterischen Beziehungen dauerhaft überwinden und alternative Beziehungen zu ihnen aufbauen. Insofern strebte auch Gandhi danach, den Feind zu entfeinden.

Gandhi fand sein aus hinduistischen Traditionen entstandenes Konzept in Jesu Bergpredigt bestätigt, nachdem er es in Südafrika schon erprobt hatte. Er verstand Jesu Gebot der Feindesliebe als aktive, leidensbereite Überwindung einer Gewaltsituation, die Feindschaft produziert, und grenzte Satyagraha klar gegen westliche und christliche Deutungen einer bloß passiven Leidensannahme ab. Seine Ermordung durch einen religiösen Fanatiker stellte die Kraft der Gewaltfreiheit in Frage: Doch Gandhi nahm das Risiko des gewaltsamen Todes als mögliche Konsequenz des Festhaltens der Wahrheit bewusst auf sich.

Buddhismus

In Buddhas Lehre (entstanden um 500 v. Chr.) ist das Überwinden von Feindschaft und Leid, das Entwickeln von Toleranz und Mitgefühl für alle Lebewesen zentral. So heißt es im Dhammapada aus dem Palikanon (Verspaar 3-5):

Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so denkt, der wird die Feindschaft nicht besiegen.
Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so nicht denkt, der wird Feindschaft besiegen.
Denn Feindschaft kommt durch Feindschaft zustande; durch Freundschaft kommt sie zur Ruhe; dies ist ein ewiges Gesetz.

In Vers 223 heißt es als Summe aus dem Vorangegangenen:

Besiege (erobere) Zorn durch Liebe.
Besiege Böses durch Gutes.
Besiege Anhaftendes (am Eigenen Festhaltendes) durch Geben.
Besiege den Lügner durch die Wahrheit.

Feindschaft lässt sich für den Buddhismus demnach nur durch Liebe gerade zum Feind auflösen. Dazu ist es nötig, ihre wechselseitige Entstehung (paticca samuppada) zu durchschauen: Jeder Mensch verletzt sich selbst mit dem, was er anderen antut, und fördert sein Glück mit dem, was er ihnen Gutes tut (Karma). Für diesen Lernprozess ist der Feind nötig. So verhilft gerade er zu Selbsterkenntnis und Selbstlosigkeit. Wo das erkannt wird, wird der Feind als eigentlicher Freund wahrnehmbar. Es wird möglich, Verantwortung für eigenes und fremdes Leid zu übernehmen und immer weniger ungelöste Konflikte auf andere zu projizieren.

Darum lehrte der „Erwachte“ Achtsamkeit, Barmherzigkeit, Geduld und leitet zum Loslassen von negativen Emotionen an, die Gewalt erzeugen. Seine Lehre ist auf den Geist des Einzelnen bezogen und hat das Erlöschen allen Anhaftens (Nirwana) zum Ziel. Feindesliebe trägt dazu bei und drückt wahre natürliche Empathie aus. Diese erlaubt prinzipiell jedem fühlenden Wesen den Ausstieg aus dem Rad der ewigen Reinkarnation.

Das üben Buddhisten in Meditation und sozialem Engagement. Im heutigen Religionsdialog bieten sie ohne Missionsabsichten das gemeinsame Ein- und Ausüben von Feindesliebe an. Tendzin Gyatsho, der heutige 14. Dalai Lama, einer der höchsten Trülkus der Gelug-Schule des tibetischen Buddhismus, stellt in interreligiösen Kursen, Vorträgen und Buchveröffentlichungen oft heraus, dass Jesu und Buddhas Lehren in wesentlichen Punkten identisch seien: Die Passage der Bergpredigt zur Feindesliebe (Mt 5,38-48) würde in einem buddhistischen Text nicht als christlicher Text auffallen. Er gibt Buddhas Lehren als hilfreiches Angebot an die Christen weiter, ihren eigenen Glauben im Alltag zu leben. Einer seiner Leitsätze dazu lautet: Für die Praxis der Toleranz ist der Feind der beste Lehrer.

Judentum

Hebräische Bibel

Der Tanach, die Bibel des Judentums, gebietet jedem Israeliten Nächstenliebe zur Überwindung von Feindschaft. Dieses Gebot bezieht sich auf eine Situation, in der dem Angeredeten Unrecht geschehen ist, und fordert ihn auf (Lev 19,17f EU):

Hasse Deinen Nächsten nicht in Deinem Herzen!
Sondern weise ihn auf das Recht hin, damit Du nicht seinetwegen Schuld auf Dich lädst.
Räche Dich nicht noch behalte Zorn gegen die Kinder Deines Volkes.
[Sondern] Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst: [Denn] Ich bin JHWH.

Der Streitgegner ist und bleibt der Nächste: Darum wird die naheliegende Vergeltung für erlittenes Unrecht abgewiesen. Der davon Betroffene soll auf das Recht hinweisen, indem er auf Rache verzichtet. Denn damit würde er ebenfalls schuldig an seinem Nächsten. Versöhnende Zuwendung, nicht Vergeltung schafft Recht. Das macht jeden Juden für die Unterbrechung der Spirale von Hass, Rache, Zorn und Wut verantwortlich, die alle Angehörigen seines Volkes bedroht. Diese Spirale widerspricht unmittelbar Gottes Willen. Denn JHWH ist der Gott ganz Israels, der für dessen Leben und Zukunft eintritt, so dass jeder Jude ebenfalls für das Leben aller Juden einzutreten hat. Darum soll er – um seiner selbst willen – gerade den feindlichen Nächsten lieben und sich mit ihm aussöhnen.

Das benachbarte Gebot der Fremdenliebe weist die Begrenzung der Nächstenliebe auf Mitjuden zurück (Lev 19,33-34; vgl. Dtn 10,19):

Den Fremdling, der bei Euch wohnt in Eurem Land, sollt Ihr nicht unterdrücken. Er soll wie ein Einheimischer unter Euch wohnen, und Du sollst ihn lieben wie Dich selbst; denn Ihr wart auch Fremdlinge in Ägypten. Ich bin JHWH, euer Gott.

Das verbietet die Versklavung von Ausländern, fordert ihren Schutz und ihre Gleichberechtigung in Israel und erinnert dazu an das Zentraldatum der israelitischen Heilsgeschichte: den Auszug aus Ägypten, in dem Gott Israel aus der Sklaverei befreite und sich so als sein Gott offenbarte. Dies macht jeden Juden auch für den Schutz der Fremden in Israel verantwortlich.

Beide Gebote sind Teil einer Reihe in der Tora, die den Zehn Geboten ähnelt und wie diese aus dem Gesamtauftrag des Judentums, dem Wesen und Willen Gottes zu entsprechen, begründet wird (Lev 19,2):

Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, JHWH, euer Gott.

Verschiedene biblische Einzelgebote konkretisieren das geforderte Verhalten gegenüber Feinden:

  • Ex 23,4f: Wenn Du dem Rind oder Esel Deines Feindes begegnest, die sich verirrt haben, so sollst Du sie ihm wiederbringen. Wenn Du den Esel Deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht in Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.
  • Spr 24,17: Freue Dich nicht über den Fall Deines Feindes, und Dein Herz sei nicht froh über sein Unglück.
  • Spr 25,21: Hungert Deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser. So wirst Du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln und Gott wird´s Dir vergelten!

Juden sollen also die Notsituation eines Feindes nicht ausnutzen, sondern ihr abhelfen, so den Feind beschämen und zur Umkehr bewegen: Dieses auf sein, nicht das eigene Heil bedachte Handeln werde Gott belohnen. Ijob berief sich in seinem Appell an Gott darauf, dass er die gebotene Feindes- und Fremdenliebe erfüllt habe (Hi 31,29-31):

Habe ich mich etwa gefreut, wenn es meinem Feind übel erging, und mich erhoben, wenn ihn Unglück getroffen hatte? Nein, ich ließ meinen Mund nicht sündigen, indem ich seine Seele mit keinem Fluch verwünschte … Kein Fremder durfte draußen nächtigen, sondern ich öffnete meine Tür dem Wanderer.

Andere biblische Gebote verlangen demgegenüber die strikte Abgrenzung Israels von seinen Nachbarvölkern und die Vollstreckung von Gottes rächender Gerechtigkeit an ihnen (siehe Gewalt in der Bibel).

Die Bibel kennt aber auch die gewaltlose Beendung von Krieg (2Kön 6,8-23): Durch Gottes Geist führt der Prophet Elischa eine feindliche Übermacht in die Gefangenschaft, bereitet ein Festmahl für sie und lässt sie dann ziehen. Dieses aktive Segnen (vgl. Gen 12,3) beendet die Feindschaft zwischen Israel und seinen Nachbarn. Diese Zielrichtung verkündet die Exilsprophetie dann als Zukunftsperspektive Israels und aller Völker: Gott werde der Feindschaft, dem Krieg und der Gewalt unter ihnen ein Ende setzen (z.B. Jes 11,1-9). Darum wird der universale Schalom metaphorisch im Bild des Festmahls aller Völker dargestellt und schließt die Abschaffung des Todes ein (Jes 25,6-8; vgl. Off 7,17).

Rabbinische Theologie

Die Chassidim, Pharisäer und Rabbiner diskutierten den Geltungs- und Anwendungsbereich der Tora, besonders das Verhältnis des Ersten Gebots zu den Sozialgesetzen, seit etwa 200 v. Chr. intensiv und differenziert. Sie entwickelten verschiedene Lehrmeinungen, die in der Mischna gesammelt und im Talmud fixiert wurden. Konsens war früh, dass Gottesfurcht und Nächstenliebe eng zusammengehören und einander bedingen, so dass nur auf das Wohlergehen des Nächsten bedachtes Handeln die Liebe zu Gott manifestiere und erfülle.

Im Jubiläenbuch (um 150 v. Chr.) ist die ganze Tora bereits auf das Doppelgebot der Liebe konzentriert. Jakob leistet dort den größten denkbaren Schwur als ethische Mahnung an alle Juden[4]:

… dass ihr solche seid, die Ihn (Gott) fürchten und verehren, indem jeder seinen Bruder liebt in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.

Diese Zusammenfassung war in vorchristlicher Zeit ein festes Motiv geworden, wie etwa die apokryphen, aber auf ältere Tradition zurückgreifenden Testamente der zwölf Patriarchen zeigen:

  • TestDan 5,3: Liebet den Herrn in eurem ganzen Leben und einander mit wahrhaftigem Herzen.
  • TestIss 5,1f: Bewahrt nun, meine Kínder, Gottes Gesetz, … liebt JHWH und den Nächsten, des Schwachen und Armen erbarmt euch.

TestSeb 5,1 weitete diese Mahnung ausdrücklich auf alle Menschen aus. Daher wurden auch Heiden zu den „Brüdern" gezählt (Seder Elijahu Rabba 49):

Du sollst deinen Nächsten nicht bedrängen (Lev 19,13). Dein Nächster, das ist dein Bruder, dein Bruder, das ist dein Nächster. Daraus lernt man, dass der Diebstahl am Heiden Raub ist. Und man darf nicht verstehen nur deinen Bruder, denn es geht um jeden Menschen.

Hillel (ca. 60 v. – 10 n. Chr.), damals einer der berühmtesten Schriftlehrer, vertrat die Grenzenlosigkeit der Liebe Gottes, die alle Menschen einschließe und der diese entsprechen sollen (Sprüche der Väter 1,12):

Hillel sagte: Sei von den Jüngern Aarons, Frieden liebend und nach Frieden strebend, die Menschen liebend und sie der Tora zuführend.

Er leitete daraus wie Jesus u.a. die Erlaubnis ab, das Sabbatgebot zu brechen, um Leben zu retten. Er übersetzte das Gebot der Nächstenliebe mit der negativ formulierten Goldenen Regel (bSchab 31a):

Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, alles übrige ist nur Erläuterung, geh und lerne sie.

Demnach erfüllte Nächstenliebe für ihn alle übrigen Gebote.

Philo von Alexandria (ca. 10 v. – 40 n. Chr.) sprach in SpecLeg II,63 von

… zwei Grundlehren, denen die zahllosen Einzellehren untergeordnet sind: in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen das der Menschenliebe und Gerechtigkeit.

Rabbi Akiba (ca. 50 – 135 n. Chr.) sah das Gebot der Nächstenliebe als Kern der Tora (Talmud Jeruschalmi, Nedarim 9,4; vgl. auch SLev 19,18), wobei er es wahrscheinlich auf Juden begrenzte. Doch die alte Streitfrage, ob auch Ausländer als Nächste zu lieben sind, wurde in der jüdischen Exegese spätestens seit dem 2. Jahrhundert meist bejaht. Zahlreiche Stellen der rabbinischen Literatur schließen sie nachdrücklich ein:

In keinem Fall, Bruder, darfst du deinem Nächsten für Böses Böses auch vergelten. Der Herr wird eine solche Überhebung rächen. (Joseph und Aseneth 28,14).
Sage nicht: die mich lieben, liebe ich und die mich hassen, hasse ich, sondern liebe alle! … Wer seinen Nächsten hasst, gehört zu denen, die Blut vergießen. (Derech Erez Rabba 11).

Flavius Josephus (37–100), ein hellenistisch gebildeter jüdischer Feldherr im Aufstand der palästinischen Juden gegen die Römer, erklärte römischen Gegnern des Judentums später in Contra Apionem (2,212-214), wie genau und detailliert jüdische Gebote den Umgang mit Feinden auch im Krieg regelten, um so ihr Lebensrecht zu schützen:

Die Pflicht des Teilens mit anderen wurde durch unseren Gesetzgeber auch in anderen Belangen eingeprägt.
Wir müssen Feuer, Wasser und Essen zur Verfügung stellen für alle, die darum bitten.
Wir müssen sogar erklärten Feinden den Weg zeigen, ihre Körper nicht unbegraben lassen und Anteilnahme zeigen.
Gott erlaubt uns nicht, ihre Felder zu verbrennen und ihre Obstbäume zu fällen.
Er verbietet sogar das Behelligen von gefallenen Kriegern.
Er hat Maßnahmen getroffen, um Grobheiten an Kriegsgefangenen und besonders an Frauen zuvorzukommen.
Eine derart gründliche Lektion in Freundlichkeit und Menschenliebe hat er uns gegeben, dass er sogar das einfache Vieh nicht übersieht …
Bei jedem einzelnen Wesen achtete er auf die Barmherzigkeit, indem er darüber ein Gesetz herausgab, um die Prinzipien durchzusetzen und um Übertreten ohne Entschuldigung strafen zu können.

Die gebotene Nächstenliebe hatte sich also gerade gegenüber unterlegenen, gefangenen und Not leidenden Kriegsgegnern, ihren Frauen und ihrem Besitz zu bewähren und durfte ihr Leben und Land nicht zerstören, um das Weiterleben ihres Volkes nach Kriegsende nicht zu gefährden: Andernfalls werde Gottes strafende Gerechtigkeit den, der diese Barmherzigkeit verweigert, selbst ereilen. Damit stellte Josephus den Römern die biblisch-jüdische Rechtstradition des Schutzes für die Schwachen vor Augen, die in scharfem Kontrast zu deren vernichtender, auf totale Unterwerfung ausgerichteten Kriegführung stand.

Im Talmud findet man Anekdoten verschiedener Rabbiner, die die biblischen Gebote konkreter Feindeshilfe praktisch und volkstümlich veranschaulichen. Von Rabbi Wolf von Zbaraz (um 1800) wird erzählt:

Ein Dieb wollte aus Rabbi Wolfs Garten einen Sack Kartoffeln davontragen. Rabbi Wolf stand am Fenster und sah, wie sich der Mann abmühte. Da eilte er hinaus und half ihm, den Sack auf die Schultern zu heben. Seine Hausgenossen warfen ihm dann vor: „Du hast ihm geholfen!“ „Glaubt ihr“, rief Rabbi Wolf, „weil er ein Dieb ist, wäre ich nicht verpflichtet, ihm zu helfen?“[5]

Der jüdische Theologe Pinchas Lapide fasst zusammen:

Dem Auftrag Jesu am nächsten kommt wohl sein Lehrkollege Rabbi Nathan, der die Frage stellt: Wer ist der Mächtigste im ganzen Lande?, nur, um zu antworten: Wer die Liebe seines Feindes gewinnt. Kurzum: Schadenfreude, Feindeshass und Vergeltung des Bösen mit Bösem sind im Judentum ausdrücklich verboten, während Großmut und Liebesdienste für den Feind in der Not geboten werden.[6]

Christentum

Neues Testament

Jesus von Nazaret hat erstmals ein ausdrückliches Gebot der Feindesliebe formuliert (Mt 5,43-45):

Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen: So werdet Ihr Kinder eures Vaters im Himmel sein.

Somit ist Feindesliebe für Jesus angewandte Nächstenliebe gegenüber aktuellen Feinden. Sie soll auch und gerade sie als Nächste ansehen und behandeln. Die Begründung widersprach damaligen Begrenzungen der Nächstenliebe auf Mitjuden etwa bei Zeloten (Mt 5,45-48):

Denn Er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und die Guten und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr also nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr davon? Tun die Zöllner nicht dasselbe? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr damit Besonderes? Handeln die Andersgläubigen nicht genauso? Darum seid vollkommen, ebenso wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Das weist auf Gottes Wesen hin: Der barmherzige Segen des Schöpfers galt von Anfang an allem Leben (Gen 8,22). Demgemäß wollte Jesus Juden und ihre Feinde gemeinsam zu „Kindern Gottes“ machen und so Gottes Vollkommenheit abbilden. Demgemäß stellte er Nächstenliebe mit Gottesfurcht gleich (Mk 12,28-34). Dies bestätigt die Verwurzelung dieses Konzepts im Glaubenszentrum des Judentums, der Erwählung zum Volk Gottes. Diese verpflichtete Juden laut Jesus zur Erfüllung des Bundeswillens Gottes gerade gegenüber Ausländern, Gewalttätern und Verfolgern.

Wer ihre Feinde waren, zeigt der Kontext: Genannt werden Steuereintreiber und Fremdgläubige, damals die Römer. Jesus verbot den durch Schläge Gedemütigten das Zurückschlagen und verlangte stattdessen, die Angreifer zu segnen, ihnen wohl zu tun, für sie zu beten (Mt 5,38-42) oder ihnen Kredit zu geben und auf Gerichtsverfahren, Gegengewalt und Rückforderung zu verzichten (Lk 6,27-38). Die Beispiele lassen Israels damalige Lage erkennen:

Will jemand mit dir rechten und deinen Rock nehmen, dem gib auch noch den Mantel.

Die Tora verbot Gläubigern die Enteignung eines verschuldeten Obdachlosen, der nur noch das Obergewand besaß und darin im Freien übernachten musste (Ex 22,25; Dtn 24,10-13). Jesu paradoxe Forderung soll den Gläubiger an dieses Lebensrecht seines Schuldners erinnern.

Wenn jemand dich nötigt eine Meile, mit dem gehe zwei.

Das Besatzungsrecht gestattete es römischen Soldaten, jeden Juden jederzeit zu Dienstleistungen wie dem Lasttragen zu nötigen (z.B. Simon von Kyrene Mk 15,21). Die doppelte Wegstrecke sollte den Peiniger mit unerwartetem Entgegenkommen verblüffen und ihm Zeit geben, sein Opfer besser kennenzulernen. Die „Feinde“ waren also die Besatzer, Ausbeuter und Verfolger des täglich unterdrückten Volkes der Armen, an das sich die Bergpredigt wendet (Mt 5,1.3-10).

Der Evangelist Matthäus begründete Jesu Gebot mit Israels und der Nachfolger Auftrag, „Licht der Welt“ zu sein (Mt 5,14) und formulierte es als „Antithese" zu einer bestimmten damaligen Gebotsauslegung (Mt 5,43f):

Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben, aber deinen Feind hassen.‘ Ich aber sage Euch: …

Ein Gebot des Feindeshasses kennt weder Tanach noch die rabbinische Literatur. Feindeshass verlangten nur die Gemeinderegeln unter den Schriftrollen vom Toten Meer (1QS, 1QSa) und manche Texte der antiken Umwelt. Heutige Exegese geht daher davon aus, dass der Kontrast nicht von Jesus, sondern Matthäus stammt.

Zeloten und Römer praktizierten gegenseitig Vergeltung im jüdischen Freiheitskampf. Dessen selbstzerstörende Folgen wollte Jesus abwenden (Mt 7,1 und Lk 6,37):

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!

Er lebte dies vor. Seine Tempelreinigung (Mk 11,15-17) war ein Akt der Aggression gegen den Opferkult: Er griff damit die trennende Feindschaft zwischen Israel und den Völkern an, um allen Menschen Zugang zu Gott zu eröffnen. Bei seiner Festnahme aber leistete er keine Gegenwehr und verbot sie seinen Jüngern (Lk 22,51). Im Verhör vor Kaiphas (Joh 18,23) und Pilatus (Mk 15,1-4) nahm er nur geltendes Recht in Anspruch. Er begehrte keine Rache, sondern bat Gott noch am Kreuz um Vergebung für seine Mörder (Lk 23,34) und solidarisierte sich mit allen Unrecht Leidenden (Mk 15,34/Zitat von Ps 22,2 und Jes 53). Darum verkündeten die Urchristen gerade Jesu Tod als Überwindung der Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden (Eph 2,13f) und verstanden Feindesliebe als Zeugnis davon, das bis zum Martyrium gehen konnte.

Paulus von Tarsus, der älteste Zeuge des Neuen Testaments (NT), verstand Jesu Gebot als Verzicht auf Rache und Gegengewalt an römischen Verfolgern (Röm 12,21) im Sinne von Spr 25,21. Er bestätigte also seine Übereinstimmung mit jüdischer Tradition. Er begründete es mit Jesu stellvertretendem Tod, in dem sich für ihn Gottes zuvorkommende Liebe ereignete (Röm 5,6-8):

Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Feinde waren … Denn wenn wir mit Gott versöhnt sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind!

Feindesliebe entsprach für Paulus also dem, was Gott durch Jesus Christus zuerst für seine Feinde, die Gott-losen – alle Menschen – getan hat.

NT-Stellen späterer Autoren relativieren Jesu Gebot. Der Evangelist Lukas stellte es in den Kontext der reziproken „Goldenen Regel“ und bezog diese vor allem auf den Besitzausgleich zwischen Arm und Reich unter christlichen Gemeinden (Lk 6,31.38):

So wie ihr wollt, dass euch die Menschen behandeln, so tut ihnen auch!

Später wurde es auf Bruderliebe reduziert (1Joh 4,21), wobei auch „Brüder“ tendenziell alle Menschen einschloss.

Christliche Theologie

In der Christentumsgeschichte hielt die Christliche Theologie Jesu Gebot der Feindesliebe fest, fasste es aber schon in der Alten Kirche nicht mehr als selbstverständlichen Bestandteil der Nachfolge Jesu auf, sondern als nur für Wenige erreichbares Vollkommenheitsideal. Daraus entstand eine Zwei-Stufen-Ethik: Für von der Großkirche anerkannte christliche Ordensgemeinschaften galten besondere, strengere, oft an der Bergpredigt orientierte Lebensregeln, während die Mehrheit der Getauften nach allgemeineren, unverbindlicheren Regeln leben durfte.

Seit der Konstantinischen Wende wurde Feindesliebe vom gebotenen Gewaltverzicht Jesu getrennt. Die großkirchliche Lehre vom Gerechten Krieg erlaubte Christen das Töten von Feinden unter bestimmten moralischen Bedingungen, zu denen gemäß dem Feindesliebegebot der Verzicht auf vernichtenden Hass gehören sollte.

In den aus der Reformation hervorgegangenen Evangelischen Kirchen wurde die Bergpredigt und damit das Feindesliebegebot wieder für alle Christen verbindlich gemacht, jedoch als Teil einer Gesetzespredigt, die dem Menschen sein Unvermögen zur Gebotserfüllung aufdecken, ihn seiner Sünde überführen und so zu Gottes Gnade in der stellvertretenden Gerichtsübernahme Jesu Christi führen sollte. Im lutherischen Christentum wurde Feindesliebe daher oft auf Sündenvergebung reduziert. Sie wurde zu einer kirchlichen Gnadengabe, ohne das tatsächliche Verhalten der Christen zu verändern und gesellschaftliche Herrschafts- und Gewaltverhältnisse in Frage zu stellen.

Seit der Aufklärung legte das neuzeitliche Christentum Jesu Feindesliebegebot als Bruch mit und Überwindung der jüdischen Tora aus, als deren Kern das Vergeltungsprinzip (eine Fehldeutung von Auge für Auge) galt. Jüdische Feindesliebe-Tradition wurde in diesem Antijudaismus missachtet. Bis heute behaupten christliche Exegeten oft, erst Jesus habe die Nächstenliebe universalisiert und entgrenzt, um Gottes Liebe allen Menschen zukommen zu lassen (Joh 13,34).

Solche Auffassungen veränderten sich erst seit 1945 allmählich durch den jüdisch-christlichen Dialog. Heutige Exegeten wie Luise Schottroff (Gewaltverzicht) oder Gerd Theißen (Der historische Jesus) betonen im Einklang mit jüdischen Auslegern wie Pinchas Lapide (Entfeindung leben?),

  • dass Feindesliebe Jesus nicht von früherer und paralleler rabbinischer Theologie unterschied, sondern auf ihrem Boden gewachsen ist,
  • dass Jesu Gebote das Leben im Reich Gottes vorwegnehmen, aber nirgends Unerfüllbarkeit voraussetzen, sondern Erfüllung von allen Nachfolgern erwarten (Mt 7,21ff),
  • dass das Gebot als praktische Anleitung zu einem gewaltlosen „Entfeinden“ in einer Situation der Unterdrückung verstanden sein will.

Als Wahrung der eigenen Chancen gegenüber militärischer Übermacht war Gewaltverzicht für die verarmte Bevölkerung in Israel seit Daniels Apokalyptik (ca. 170 v. Chr.) plausibel. Flavius Josephus (Bellum Judaicum) etwa beschrieb erfolgreiche gewaltlose Demonstrationen gegen Maßnahmen des Pontius Pilatus, die diesen zum Einlenken zwangen. Theißen folgerte daraus:[7]

Das von Jesus geforderte Verhalten ist kein passives Sich-Ausliefern an das Böse, sondern ein aktives, gewaltfreies Widerstehen von Machtlosen mit dem Ziel, Unrecht [der Mächtigen] zum Bewusstsein zu bringen und zu überwinden. Gegenüber nationalen Feinden liegt eindeutig eine Alternative zu zelotischen Widerstandskonzepten und apokalyptischen Endkampfphantasien vor, die jedoch keineswegs singulär war.

Dietrich Bonhoeffer betonte 1936 jedoch, dass Jesus keine kurzfristige Veränderung der Feinde erwartete, sondern die selbstlose Hingabe (Agape) an ihr Heil lehrte und vorlebte. Er sah das Gebot der Feindesliebe im engsten Zusammenhang mit Jesu freiwilligem Tod:[8]

Die Feindesliebe führt den Jünger auf den Weg des Kreuzes und in die Gemeinschaft des Gekreuzigten. Aber je gewisser der Jünger auf diesen Weg gedrängt wird, desto gewisser bleibt seine Liebe unüberwunden, desto gewisser überwindet sie den Hass des Feindes; denn sie ist ja nicht seine eigene Liebe. Sie ist ganz allein die Liebe Jesu Christi, der für seine Feinde zum Kreuz ging und am Kreuz für sie betete. Vor dem Kreuzesweg Jesu Christi aber erkennen auch die Jünger, dass sie selbst unter den Feinden Jesu waren, die von seiner Liebe überwunden wurden. Diese Liebe macht den Jünger sehend, dass er im Feind den Bruder erkennt, dass er an ihm handelt wie an seinem Bruder.

Philosophische Ethik

Aufklärung

Die Philosophie der Aufklärung hat gegen die mittelalterliche Theologie versucht, die Grundlagen der Ethik im autonomen Subjekt zu verankern. Besonders Immanuel Kant hat dazu jüdisch-christliche in allgemein einsehbare Handlungsmaximen übersetzt. Sein Kategorischer Imperativ (1785) gibt der in allen Weltreligionen bekannten Goldenen Regel – behandle andere so, wie du behandelt werden willst – eine rationale Basis:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Alles hängt hier vom guten Willen des Einzelnen ab. Inwiefern nicht nur Nächstenliebe, sondern auch Feindesliebe eine allgemeine Handlungsmaxime werden kann, ist dabei fraglich: Denn sie zielt nicht primär auf ein wechselseitiges, vernünftiges Verhalten, das auf der Einsicht in das gemeinsame Lebensinteresse beruht, sondern auf ein selbst-loses, einseitiges Zuvorkommen, das das Wohl des Feindes auch auf Kosten der eigenen Selbsterhaltung im Blick hat und erst so die Situation für beide verändert.

Kritik

Friedrich Nietzsche hat sich scharf vom jüdisch-christlich geprägten idealistischen Moralismus abgegrenzt. An die Stelle des Kultes des Gekreuzigten setzte er bewusst den Kult des Übermenschen.

Sigmund Freud kritisierte Jesu Gebot als inhumane Überforderung und übersteigerten Altruismus. Seiner Psychoanalyse folgend, sah die US-amerikanische Theologin und Psychologin Rosemary Radford Ruether darin eine Wurzel des christlichen Antijudaismus: Die Kirche habe, da sie mit Feindesliebe überfordert war, nicht einmal Nächstenliebe geübt, sondern sich an den Juden für ihr eigenes Versagen gerächt. Eine tiefe Schuldprojektion der christianisierten Völker sei für den Holocaust mitverantwortlich. Diese Thematik spielt im heutigen jüdisch-christlichen Dialog seit 1945 eine zentrale Rolle.

Anton Szandor LaVey stellte den von ihm seit 1966 als Glaubensgemeinschaft in den USA organisierten Satanismus gegen Juden- und Christentum. Er betrachtet Nächsten- und Feindesliebe als Negation des natürlichen Selbsterhaltungstriebes und propagiert – ähnlich wie der Sozialdarwinismus – Selbstbehauptung auch gegen Feinde.

Entwürfe nach 1945

Universalistische Ethik-Entwürfe nach 1945 beziehen sich oft gerade auf diejenigen religiösen Wurzeln zurück, die nicht nur eine veränderte innere Einstellung, sondern auch ein neues politisches und soziales Verhalten anregen und lehren. Dahinter steht oft nach wie vor jüdische und christliche Tradition: etwa bei Emmanuel Levinas „Denken und Leben vom Anderen her“ und Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“.

In den USA predigte Martin Luther King im Rahmen seines gewaltlosen Kampfes gegen die Segregation der Afroamerikaner teilweise aus dem Gefängnis über die Feindesliebe. Am 17. November 1957 etwa betonte er, Jesu Gebot sei keineswegs ein utopischer Traum, sondern eine absolute Notwendigkeit für das Überleben der Zivilisation. Sie beginne mit einer Selbstbetrachtung, was die individuelle oder kollektive Feindschaft hervorgerufen haben könne. So ließen sich der Sowjetkommunismus und viele Revolten in Afrika und Asien als Reaktion auf das Versagen der Demokratie gegenüber den eigenen Idealen erklären. Diese Einsichtsfähigkeit habe Jesus mit der Frage gemeint: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“ (Mt 7,3/Lk 6,41) Daraus folge, dass man auch im Feind gute Seiten entdecken könne. Denn egal was dieser tue, bleibe er ein Ebenbild Gottes, weil Gott ihn liebe. Daraus folge, ihn nicht zu schlagen, wenn sich die Gelegenheit dazu biete.[9] Weihnachten 1957 betonte er: Nur die Vergebung der Unterdrückten gegenüber den Unterdrückern könne die Ungerechtigkeit verändern und das Rassenproblem dauerhaft lösen. Feindschaft werde durch Hass nur vervielfacht; sie zerstöre nicht nur den Gehassten, sondern auch den Hassenden. Nur Liebe zum Feind könne diesen in einen Freund verwandeln und so die Feindschaft überwinden.[10]

Das Projekt Weltethos von Hans Küng versucht, ethische Traditionen aller Weltreligionen in wenige gemeinsame, einfache Grundregeln zu integrieren und diese zeitgemäß für eine zukünftige menschengerechte, ökologische und soziale Weltordnung zu entfalten. Dabei ergibt sich aus dem Gebot der Feindesliebe ein Impuls für den Dialog verschiedener Glaubensrichtungen. Fraglich bleibt jedoch auch hier, ob das Besondere dieses Konzepts, nämlich die zuvorkommende Entfeindung des Feindes ohne Rücksicht auf die Selbsterhaltung, eine allgemein akzeptierte und tragfähige ethische Basis aller Weltreligionen werden kann.

Aktualität

Die intensive Auseinandersetzung der Neuzeit mit jüdischen, christlichen, seltener auch mit islamischen und fernöstlichen Traditionen hat das Verständnis der Feindesliebe verändert. Besonders deutschsprachige Theologen greifen Kritik an inhumanen Folgen missverstandener Feindesliebe auf und betonen stärker als früher: Jesu Gebot verlange keine unnatürliche Zuneigung zu Unrechtstätern, kein bloßes Nachgeben des „Klügeren“, keine heroische Selbstaufgabe, sondern eine gezielte Überwindung von Feindschaft. Pinchas Lapide etwa schreibt:[11]

Kann man diejenigen lieben, die uns hassen und uns Böses antun? Ist das nicht eine Illusion? Die Antwort auf diese berechtigten Fragen, die erst bei der Rückübersetzung ins Hebräische hervortritt, lautet klipp und klar: Hier wird weder Sympathie noch Sentimentalismus gefordert, und schon gar nicht eine Selbstverleugnung, denn weder Gefühle noch das Martyrium können befohlen werden. Wohl aber das Tun, eine der häufigsten Vokabeln im jesuanischen Sprachschatz. Und in der Tat steht im Gebot der Nächstenliebe … nicht ‚liebe deinen Nächsten‘ im Akkusativ, sondern im Dativus ethicus … der kaum auf Deutsch übersetzt werden, nur hinkend umschrieben werden kann: etwa wie … „tu ihm Liebe an“.

Jesu Gewaltverzicht habe die Chancen für seine Nachfolger wahren wollen, eine macht- und rechtlose Lage langfristig zu verändern, indem sie strikt auf Gegengewalt verzichteten. Jesus sei dabei nicht passiv geblieben, sondern aktiv vorangegangen (latein aggredi). Feindesliebe sei also gerade kein Dulden von Unrecht und Verleugnen der eigenen Aggressionen, sondern aktiver, risikobereiter Einsatz für den Abbau von Hass, Feindbildern und Gewaltursachen; keine passive Hinnahme von Unrecht, sondern ein bewusster aktiver Gewaltverzicht, der souverän auf Feinde zugehe, um Feindschaft abzubauen. Dieser gebe dem Heil der Feinde Vorrang und wolle so auch die Bedrohten schützen. Damit lasse sich das Gewaltopfer die Wahl der Mittel nicht vom Gegner aufzwingen, weil Vergelten mit Gleichem unter Ungleichen nur zum Untergang führe. Dabei werde das Ziel eines gerechten Zusammenlebens gerade nicht aufgegeben, sondern von den von Gewalt Betroffenen für ihre Feinde mit bewahrt. Das könne in einer Verfolgungssituation aber auch zum Selbstopfer führen. Jesus habe noch in seinem Leiden vorgelebt, die üblichen Reaktionsmuster zu brechen, aus dem Teufelskreis der Gewalt auszusteigen.

Das Beispiel Dietrich Bonhoeffers, der vom Pazifisten zum Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Terrorregime wurde, hat bleibend darauf aufmerksam gemacht, dass sich Feindesliebe nicht restlos in vernünftige Verhaltensregeln integrieren und pragmatisch realisieren lässt. Denn nach menschlicher Erfahrung besiegt Liebe Feindschaft nur sehr selten: Prinzipieller Gewaltverzicht könne daher unter bestimmten Umständen gerade den Sinn des Gebots verfehlen, da Feindesliebe die Solidarität mit den Opfern unmenschlicher Gewaltherrschaft voraussetze. Feindesliebe bleibe daher auf genuin theologische Begründung angewiesen. Jesu Selbsthingabe wolle Gottes Feindesliebe für alle Menschen bezeugen: Für ihn könne allein dieses Gottvertrauen Hass, Gewaltherrschaft und unnötiges selbstverursachtes Leid überwinden.

Die Besonderheit der Feindesliebe, der Angriff auf die Gewaltursachen und die zielstrebige Überwindung von Feindschaft, ist allerdings ein auch häufig in nichtreligiösen Theorien anzutreffendes Element:

  • So hat beispielsweise der norwegische Friedensforscher Johan Galtung ausgehend von der Idee des prinzipiellen Gewaltverzichts neue politische Konfliktlösungsstrategien entworfen.
  • Aus historischen Erfahrungen wie dem Kapp-Lüttwitz-Putsch oder dem Prager Frühling hat der deutsche Historiker Theodor Ebert eine Theorie der sozialen Verteidigung entwickelt.
  • In den USA schlägt der Soziologe Jonathan Schell heute eine Alternative zum Antiterrorkrieg der Gegenwart vor, die sich ausdrücklich auf die Bergpredigt, Gandhi und King beruft.
  • Marshall B. Rosenberg hat die Gewaltfreie Kommunikation entwickelt und gezeigt, wie man die Kommunikation verbessern kann und so den Feind erst gar nicht entstehen lässt.
  • Martin Arnold hat mit seiner Forschung über Gütekraft viele Beispiele von Gewaltlosigkeit im Sinne Gandhis gesammelt.

Feindesliebe wird als ethische Grundhaltung oft gerade von Menschen verstanden und bejaht, die sich dem Pazifismus verbunden fühlen. Sie dient mitunter dazu, ihre Ablehnung jedes, auch eines gerechten Krieges zu begründen. Sie ist aber keineswegs nur für Pazifisten gültig und relevant, sondern für alle Menschen, die Feindschaft erfahren. Das Konzept kann daher je nach Umständen verschieden befolgt werden, auf Dauer aber nur mit dem „Feind“ gemeinsam: Es sucht Konflikte beharrlich mit ihm, nicht ohne und gegen ihn zu lösen. Dieses Konzept ermöglicht Opfern, ihre Ohnmacht zu überwinden, und Tätern, ihre Opfer als Menschen zu sehen. Es kann beider Menschlichkeit wiederherstellen. Es enthält Kampf, Leiden und Rückschläge, hat aber Aussicht, die Feindsituation langfristig zu überwinden. Es bringt Gegner auf einen gemeinsamen Weg, der zur Versöhnung führen kann.

Siehe auch

Literatur

Quellen

Jüdische und christliche Ethik

  • Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. (1937), ISBN 3-579-01874-4, TB: ISBN 3-57900455-7
  • Dietrich Bonhoeffer: Ethik (geschrieben 1940, erschienen 1949), ISBN 3-579-01876-0, TB: ISBN 3-57905161-X
  • Rosemary Radford Ruether: Brudermord und Nächstenliebe. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus. Christian Kaiser Verlag, München 1987, ISBN 3-459-01131-9
  • Heinz Kremers: Gerechtigkeit und Liebe in Judentum und Christentum. In: Liebe und Gerechtigkeit. (Hrsg.: Adam Weyer) Neukirchener Verlag 1990, ISBN 3-7887-1324-0
  • Pinchas Lapide: Entfeindung leben? Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1993, ISBN 3-579-02205-9
  • Gerd Theißen, Anette Merz: Der historische Jesus. Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 1997, ISBN 3-525-52143-X
  • Albrecht Lohrbächer, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt (Hrsg.): Was Christen vom Judentum lernen können. Kohlhammer,
  • Wilhelm Christian Schäfer: Jesus – Lehrer der Feindesliebe. Der galiläische Jesus, Stuttgart, März 2006, ISBN 3-17-018133-5
  • Lisa S. Cahill: Love Your Enemies: Discipleship, Pacifism and Just War Theory. Augsburg Fortress Publications 1997, ISBN 0-80062700-8

Hinduistische, buddhistische und islamische Ethik

  • Mahatma Gandhi: Eine Autobiographie: Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Hinder & Deelmann 2001, ISBN 3-87348-162-6
  • Tenzin Gyatso (14. Dalai Lama): Das Herz aller Religionen ist eins: Die Lehre Jesu aus buddhistischer Sicht. Verlag Hoffmann und Campe, 4. Auflage 1998, ISBN 3-455-11125-4
  • Jean Akhtar Cerrina: Abdul Ghaffar Khan. Xlibris Corporation 2003, ISBN 1-4134-3378-2

Philosophische Ethik und Kritik

  • Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft
  • Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel zu einer Philosophie der Zukunft (1886)
  • Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. (1887)
  • Carl Friedrich von Weizsäcker: Die intelligente Feindesliebe. In: Der bedrohte Friede. (1981)
  • Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen (1983)
  • Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1930. In: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Fischer, 2001, S. 29-108, ISBN 3-596-10453-X

Friedenspolitik

  • Hans Küng (Hrsg.), Dieter Senghaas (Hrsg.): Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen. Verlag Piper, München (2003)
  • Theodor Ebert: Soziale Verteidigung I. Historische Erfahrungen und Grundsätze der Strategie. Waldkircher Verlag, Waldkirchen, Juli 1996, ISBN 3-87885-053-0
  • Johan Galtung: Friede mit friedlichen Mitteln. Opladen, Leske und Budrich (1998)
  • Johan Galtung: Neue Wege zum Frieden – Konflikte aus 45 Jahren: Diagnose, Prognose, Therapie. Minden, Bund für soziale Verteidigung (2003)
  • Jonathan Schell: Die Politik des Friedens. Carl Hanser Verlag (2003)

Weblinks

Allgemein
Hinduismus
Judentum
Christentum
Gewaltfreiheit

Einzelnachweise

  1. Sacred Texts.com: Devi Bhagavatam, Siebtes Buch, 13. Kapitel: Über Bhakti Yoga (Vers 17, in Abschnitt Verse 11-20)
  2. Sacred Texts.com: Mahabharata Buch 3, Sektion CCVI (p. 427)
  3. Sacred Texts: Bhagavad Gita, Kapitel 16, Verse 2-3
  4. alle folgenden Zitate nach Gerd Theißen: Der historische Jesus S. 343
  5. Nach Albrecht Lohrbächer u.a. (Hrsg.): Was Christen vom Judentum lernen können. Anstöße, Materialien, Entwürfe. Kohlhammer, Stuttgart 2006, S. 172
  6. Pinchas Lapide: Wie liebt man seine Feinde?. Sendung des SWF Stuttgart vom 9. Oktober 1983. In: Albrecht Lohrbächer u.a. (Hrsg.): Was Christen vom Judentum lernen können. Anstöße, Materialien, Entwürfe. Kohlhammer, Stuttgart 2006, S. 173
  7. Gerd Theißen: Der Historische Jesus S. 349
  8. Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge S. 92
  9. Martin Luther King (17. November 1957): Loving Your Enemies
  10. Martin Luther King, Jr. (Montgomery, Alabama, 24. Dezember 1957): Loving Your Enemies
  11. Pinchas Lapide: Wie liebt man seine Feinde? Rundfunkvortrag 9. Oktober 1983, zitiert in Albrecht Lohrbächer, a.a.O. S. 173
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