Nederdüütsch

Nederdüütsch
Dieser Artikel behandelt die umgangssprachlich als Plattdeutsch bezeichnete Sprache; zu anderen Bedeutungen des Begriffs niederdeutsche Sprache siehe Niederdeutsch (Begriffsklärung).
Niederdeutsch

Gesprochen in

Deutschland, Niederlande, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Kanada, USA, Mexiko, Belize, Brasilien, Bolivien und Paraguay
Sprecher verstanden von 10 Millionen, 1–3 Millionen Muttersprachler
Linguistische
Klassifikation
Sprachcodes
ISO 639-1:

ISO 639-2:

nds

ISO 639-3:

nds

Heutiges niederdeutsches Sprachgebiet mit den niedersächsischen und ostniederdeutschen Mundarten

Als Niederdeutsch oder Plattdeutsch (Nederdüütsch, Plattdüütsch) werden die im Norden Deutschlands verbreiteten Mundarten bezeichnet, die nicht von der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung erfasst wurden.

Sie gehören – mit den hochdeutschen und niederländischen Mundarten – zum Dialektkontinuum der kontinentalen westgermanischen Mundarten. Weiter weisen die niederdeutschen Dialekte Ähnlichkeiten mit dem Englischen und dem Friesischen auf.

Inhaltsverzeichnis

Name und Status

Sprachbezeichnung

Aus der altniederdeutschen Zeit ist kein einheimischer Name für die altniederdeutsche Sprache belegt. In lateinischen Texten findet man den Ausdruck lingua Saxonica (in etwa „sächsische Sprache“).[1]

In der mittelniederdeutschen Zeit wurde das Niederdeutsche von seinen Sprechern oft düdesch oder to düde genannt, besonders als Abgrenzung gegenüber fremden Sprachen und gegenüber dem Lateinischen. So gab es in manchen norddeutschen Städten im 15. Jahrhundert die düdeschen schrifscholen im Gegensatz zu den gelehrten Lateinschulen.[1]

Wenn man die eigene Sprache gegenüber dem Hochdeutschen oder dem Niederländischen abgrenzen wollte, konnte man Begriffe wie unse düdesch, sassesch düdesch oder moderlike sprake verwenden. Im 15. und 16. Jahrhundert waren Begriffe mit sassesch am gebräuchlichsten: sassesch oder sassesche sprake, später auch mit Vorsilbe: nedder-sassesch. Seit dem 16. Jahrhundert findet man auch die Begriffe nedderdüdesch und nedderlendesch.[1]

Im 17. Jahrhundert kommt der Begriff Plattdeutsch auf, der sassesch usw. verdrängt und zum allgemeinen Namen für das Niederdeutsche wird. Dieser neue Name für das Niederdeutsche kommt aus dem Niederländischen. Der früheste Beleg befindet sich in einem Neuen Testament, das 1524 in Delft gedruckt wurde. In Titel und Vorwort heißt es, das Buch sei in goede platten duytsche verfasst, also in guter klarer Volkssprache (im Gegensatz zur weniger gut verständlichen Gelehrtensprache). Das niederländische Adjektiv plat bedeutet nicht „unberührt von der hochdeutschen Lautverschiebung“ oder „vom flachen Lande“, sondern „klar, deutlich, jedermann verständlich“.[1]

Die Bezeichnung der eigenen lokalen Varietät als Platt ist nicht nur im Niederdeutschen verbreitet, sondern auch im Westmitteldeutschen.[2]

Das Niederländische wurde teils noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Niederdeutsche Sprache“ (Nederduitsche Taal) bezeichnet, die niederländische reformierte Kirche hieß bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch offiziell „Niederdeutsche reformierte Kirche“ (Nederduitsch Hervormde/Gereformeerde Kerk). Eine bedeutende Strömung der protestantischen Kirche in Südafrika heißt bis auf den heutigen Tag offiziell Nederduitsch Hervormde Kerk (siehe auch Niederländisch (Name)).

Ein deutsches Synonym ist der Begriff Plattdeutsch. Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen besteht darin, dass Niederdeutsch eher der Fachausdruck ist, während Plattdeutsch der volkstümlichere Begriff ist.[3]

Stellung des Niederdeutschen

Der Status des Niederdeutschen gilt in der Sprachwissenschaft als umstritten; für eine Kategorisierung als bloße „Dialekte“ spricht die funktionale Beschränktheit, während das formale Inventar wie auch die Selbsteinschätzung der Mehrheit der Sprecher als Argumente für eine Kategorisierung als eigenständige Sprache dienen. Zudem ist das Niederdeutsche selbst heterogen und teilt sich in viele Dialekte auf. Nicht zuletzt deshalb wurde das Idiom nie kodifiziert, obwohl darin Literatur entstanden ist und weiterhin entsteht (z. B. Fritz Reuter, Klaus Groth und andere). Selbst Thomas Mann verwendet in den Buddenbrooks an charakteristischen Stellen das Niederdeutsch seiner Heimatstadt Lübeck, und zwar nicht nur für die sogenannten kleinen Leute. (In diesem Zusammenhang ist interessant, dass das lübische Niederdeutsch im Mittelalter die lingua franca der Hanse war, siehe unten). An diesem Werk (und ebenfalls an Uwe Johnsons Romantetralogie Jahrestage) kann man die historische Abgrenzung dieser Sprachen bis in die unmittelbare Gegenwart besonders gut veranschaulichen.

Das Niederdeutsche ist im Rahmen der Sprachencharta des Europarats in den Niederlanden (Nedersaksisch) und in Deutschland offiziell anerkannt und geschützt. In Deutschland sind die diesbezüglichen Regelungen 1999 in Kraft getreten. In einigen bundesdeutschen Ländern gibt es gesetzliche Regelungen gegen die Diskriminierung des Niederdeutschen. So sind in Schleswig-Holstein die Behörden verpflichtet, Anfragen und Anträge auf Plattdeutsch zu bearbeiten, und berechtigt, auch auf Plattdeutsch zu beantworten. Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass auch Patentanmeldungen beim Bundespatentamt in München auf Plattdeutsch eingereicht werden können, diese werden allerdings als „nicht in deutscher Sprache abgefasst“ angesehen, bedürfen also einer Übersetzung.

In der Wissenschaft hat sich eine niederdeutsche Philologie bereits in den Anfängen von der übrigen deutschen Philologie verselbständigt. Die Mehrzahl der Sprecher des Niederdeutschen war immer von der Eigensprachlichkeit des Niederdeutschen überzeugt. Das Niederdeutsche teilt noch heute beinahe den gesamten Wortschatz mit dem modernen Niederländischen (mit Ausnahme weniger Entlehnungen und Weiterbildungen). Auch die Formenlehre/Grammatik stimmt in beiden Varianten überein. Elementare Unterschiede bestehen in der Aussprache (das gilt nicht für das Niederfränkische am bundesdeutschen Niederrhein, das als Teil des Rheinmaasländischen noch eher dem Niederländischen zugerechnet wird).

Sprachgeschichte

Durch die Völkerwanderung breitete sich der Sachsenstamm – und damit auch seine Sprache – nach Süden, Südwesten und nach England aus. Die auf dem Kontinent verbliebenen Sachsen wurden von Beda Venerabilis als „Altsachsen“ bezeichnet – daher der Name „Altsächsisch“ für die älteste Stufe der niederdeutschen Sprache. Die altsächsische Sprache breitete sich über ein Gebiet aus, das die heutigen Regionen Holstein (ohne Ostholstein), Stormarn, Niedersachsen, Börde, Harz, Westfalen und die östlichen Niederlande umfasste. Im Wendland (Wenden wurden die Slawen von den Sachsen genannt) gab es noch jahrhundertelang ein slawisch-sächsisches Mischgebiet.

Die angelsächsischen Dialekte und das Altenglische weisen starke Übereinstimmungen mit dem Niederdeutschen (Altsächsischen) auf, da die germanische Bevölkerung Großbritanniens ursprünglich im heutigen Norddeutschland beheimatet war. Aufgrund des starken Einflusses der von den dänischen und norwegischen Wikingern eingebrachten altnordischen Sprachelemente sowie der späteren französischen (normannischen) Sprachüberlagerung und der Erosion der englischen Grammatik während des Mittelalters haben sich diese Gemeinsamkeiten stark verringert, auch wenn die Verwandtschaft noch deutlich sichtbar ist. So hat das Englische seinen westgermanischen Grundcharakter nie verloren.

Mit Beginn der Ostsiedlung (Ostkolonisation) breitete sich die altniederdeutsche, seit etwa 1225 mittelniederdeutsche Sprache, weiter nach Osten aus. Neue große Sprachlandschaften entstanden: Mecklenburgisch, Pommersch, Südmärkisch (Brandenburgisch), Niederpreußisch (nicht zu verwechseln mit der baltischen altpreußischen Sprache) und das Niederdeutsche in den Städten und auf den Gutshöfen im Baltikum und in Skandinavien. Außerdem verzeichnete das Mittelniederdeutsche Gebietsgewinne in Schleswig, wo es das Dänische und Nordfriesische nach Norden drängte, und in Ostfriesland, wo es das Ostfriesische verdrängte. All diese neuen Sprachgebiete des Niederdeutschen sind sogenannte Kolonisationsschreibsprachen oder Kolonisationsmundarten, die einige Besonderheiten in der Grammatik und im Wortschatz aufweisen. So lautet der Einheitsplural der Verben noch heute in den Dialekten des Altlandes (bereits in altsächsischer Zeit niederdeutschen Sprachgebiets) lautgesetzmäßig -(e)t, also anstelle des hochdeutschen wir mach-en, ihr mach-t, sie mach-en im Westniederdeutschen: wi maak-t, ji maak-t, se maak-t. Im Ostniederdeutschen, im Schleswiger Platt und im Ostfriesischen Platt lautet er hingegen -en, also wi mak-en, ji mak-en, se mak-en.

Während das Niederfränkische in den Niederlanden und Belgien – bedingt durch die Eigenstaatlichkeit nach dem Westfälischen Frieden – Schrift- und Kultursprache blieb, sind die niederdeutschen Mundarten (in Deutschland und in den Niederlanden) gegenüber der hochdeutschen bzw. standardniederländischen Sprachform auf dem Rückzug. Allein in ländlichen Gegenden werden auch heute noch im täglichen Umgang der Menschen die niederdeutschen Dialekte gesprochen.

Der fortschreitende Niedergang des Niederdeutschen vollzog sich in zwei Phasen. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert musste das Niederdeutsche zunächst den Schriftsprachenstatus an das Hochdeutsche abtreten. Nach den Kanzleien der Fürsten und Städte ging auch das gebildete Bürgertum im schriftlichen Sprachgebrauch zum Hochdeutschen über. Zwar bediente sich der größte Teil der norddeutschen Bevölkerung im mündlichen Umgang weiterhin des Niederdeutschen, doch sein Funktions- und Prestigeverlust wirkte sich so nachhaltig aus, dass im Laufe der Zeit eine gesellschaftliche Schicht nach der anderen das Hochdeutsche annahm. Schließlich war die alte Sprache der Region im Wesentlichen nur noch in der Form der Alltagsmundart „kleiner Leute“, und hier insbesondere der Landbevölkerung, lebendig.

Im Zuge der Entwicklung zur modernen Gesellschaft wurden dann die Entfaltungs- und Überlebenschancen des Niederdeutschen immer stärker beschnitten. Die sozialen Prozesse des 19. und 20. Jahrhunderts bedrohten seine Existenz selbst als randständige Volkssprache. Industrialisierung und Urbanisierung schränkten die Möglichkeit zum Gebrauch des nunmehr mundartlichen Niederdeutschen nicht nur immer weiter ein, sondern führten letzten Endes häufig auch zur Auszehrung und Auflösung der örtlichen Sprachgemeinschaft, in der die regionale Volkssprache ihren eigentlichen Lebensraum besaß. Die Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens sowie die Demokratisierung der Bildung durch das allgemeine Schul- und Bildungswesen förderten und festigten endgültig den Übergang der Bevölkerungsmehrheit zum Hochdeutschen als Gemeinschaftssprache.

In einem langen Prozess wurde das Niederdeutsche aus Kirche, Schule, Politik, Literatur und Wissenschaft verdrängt, ab dem 20. Jahrhundert auch aus den meisten Familien. Aber auch massive Zuwanderungen von Menschen aus anderen Dialekträumen nach dem Zweiten Weltkrieg haben zur Erosion der Sprache in den vergangenen 50 Jahren beigetragen. Regionale Wiederbelebungsversuche können diesen von den Massenmedien zusätzlich beschleunigten Vorgang nicht aufhalten.

Titelblatt von Der Keyserliken Stadt Lübeck Christlike Ordeninge – die Kirchenordnung von Lübeck 1531

Das Niederdeutsche war einst eine bedeutende Schriftsprache. So wurde sie neben Latein auch in Urkunden und Gesetzestexten verwendet. Eine große Bedeutung nehmen auch theologische Schriften ein, so gibt es Ende des 15. Jahrhunderts bereits mehrere Bibelübersetzungen (Kölner Bibel, Lübecker Bibel). Die Bedeutung des Niederdeutschen als Schriftsprache nimmt jedoch im 16. Jahrhundert ab. In der Reformationszeit steigt die Zahl der niederdeutschen Drucke anfangs an: So ist etwa die von Johannes Bugenhagen verfasste Lübecker Kirchenordnung auf Niederdeutsch geschrieben. Von Bugenhagen stammt auch eine niederdeutsche Fassung der Luther-Bibel.[4] Daran wird zweierlei sichtbar: Einerseits die große Bedeutung des Niederdeutschen als Verkehrssprache für den gesamten norddeutschen Raum, so dass eine eigene Bibelübersetzung dafür notwendig erachtet wurde, andererseits zugleich die im Wesentlichen bereits erfolgte Unterordnung des Niederdeutschen unter das Hochdeutsche. Denn das große Vorbild, die luthersche Bibelübersetzung, setzte sich selbst in Norddeutschland gegen die „bugenhagensche Konkurrenz“ durch.

Die von Lübeck dominierte Hanse hatte damals ihre Blütezeit schon überschritten. Das Lübecker Niederdeutsch war ihre Verkehrssprache und lange Zeit die lingua franca des Nord- und Ostseeraumes. Unter Sprachforschern bezeichnet man diese sprachgeschichtliche Entwicklungsperiode als Mittelniederdeutsch (ungefähr 1200–1600). Unter „Mittelniederdeutsch“ versteht man also nicht nur die Schriftsprache, sondern auch die vielfältigen Dialekte der damaligen Zeit (die sich heute jedoch nur schwer rekonstruieren lassen). In der mittelniederdeutschen Schriftsprache hingegen liegen zahllose, bis in die Neuzeit hinein verfasste schriftliche Dokumente, Bücher und Urkunden vor. Sprachzentrum der damaligen Zeit war die Hansemetropole Lübeck; nach dem Zusammenbruch des Städtebundes wurde das Niederdeutsche auf regionaler Ebene lange weiterverwendet, vorwiegend mündlich.

Als Schriftsprache wurde es aber in ganz Norddeutschland immer mehr vom Hochdeutschen verdrängt und sank auf Dialektniveau. In Hamburg und Bremen gab es bis in die letzten Jahrzehnte eine „vornehme“ plattdeutsche Umgangssprache, die sich von den ländlichen Mundarten deutlich abhob. Sie ist das letzte Relikt der gehobenen Schriftsprache früherer Zeiten.

Grenzen des Niederdeutschen

Allgemeine Abgrenzung

Niederdeutsch im heutigen Sinne umfasst die norddeutschen Dialekte Niedersächsisch (Westniederdeutsch) und Ostniederdeutsch. Als Südgrenze zählt entweder die Benrather Linie (maken-machen-Isoglosse) oder die ein wenig nördlicher gelegene Uerdinger Linie (ik-ich-Isoglosse). Besonders im Ostniederdeutschen verschieben sich diese Isoglossen bis heute weiter nach Norden. Die letzte umfassende Erhebung von 1984 zum Sprachstand des Niederdeutschen wies für die damalige Bundesrepublik Deutschland rund 8 Millionen Sprecher der Regionalsprache aus. Für das Jahr 2006 ist von maximal 5 bis 8 Millionen Sprechern auszugehen.

Sprachenkarte von Deutschland 1880
Die nieder- und hochdeutschen Dialekte und ihre verschiedenen Einteilungsmöglichkeiten in die drei Hauptgruppen (Animation; für Einzelausschnitte einfach anklicken und „Esc“ drücken)

Die Varietäten im Nordosten der Niederlande gehören historisch gesehen zum Niederdeutschen. Es gibt jedoch Linguisten, die sie aufgrund des heutigen Dialektstands als niederländische Varietäten betrachten, nicht als deutsche, da das Niederländische als Dachsprache einen erheblichen Einfluss auf die Varietäten in den Niederlanden ausübt, genauso wie umgekehrt das Deutsche auf die niederdeutschen Varietäten in Deutschland.[5]

Zuordnung des Niederfränkischen

Unterschiedlich beurteilt wird, ob das Niederrheinische zum Niederdeutschen (Niedersächsischen) oder zum Niederländischen (Niederfränkischen) gezählt werden soll. Wissenschaftsgeschichtlich wird auch das Niederfränkische mit der Niederländischen Sprache zum Niederdeutschen gezählt, da auch diese westgermanische Sprachvariante die zweite Lautverschiebung nicht durchführte. In der heutigen Sprachwissenschaft wird diese (traditionelle) Auffassung überwiegend nicht mehr vertreten.

Vom Dialektstand her ähneln einige der in Nordwestdeutschland gesprochenen niederfränkischen Varietäten auch den benachbarten mittelfränkischen Mundarten. Daher wäre eine Zuordnung zum Niederdeutschen aufgrund von Sprachmerkmalen nicht gerechtfertigt. Historisch gesehen gilt die Ansicht als überholt, es habe ein (Ur-)Deutsch gegeben, das sich in Niederdeutsch und Hochdeutsch aufgespalten habe. Siehe hierzu Westgermanische Sprachen.

Zuordnung des Niederrheinischen

Die Zuordnung des Niederrheinischen zum Niederdeutschen ist sehr problematisch. Das Niederrheinische gehört zum Niederfränkischen. Sprachtypologisch sind die niederrheinischen Mundarten enger mit den angrenzenden niederländischen Mundarten als mit den benachbarten deutschen verwandt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Dialekte auf beiden Seiten der Grenze den jeweiligen Standardsprachen Niederländisch und Deutsch angenähert, so dass man heute von deutschen Mundarten am Niederrhein spricht. Diese niederrheinischen Mundarten können aber keine hochdeutschen Mundarten sein, weil sie die Hochdeutsche Lautverschiebung nicht mitgemacht haben. Andererseits sind sie immer noch enger mit den fränkisch-rheinischen Mundarten verwandt als mit den niederdeutschen. Eine Möglichkeit besteht für den Sprachforscher darin, das Niederrheinische in der Literatur über niederdeutsche Mundarten nicht zu beschreiben. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Niederrheinische als eigenständige Einheit, d. h. als Teil des Rheinmaasländischen, irgendwie mit dem Niederdeutschen zu verknüpfen. Ein direktes Einordnen ins Westniederdeutsche verbietet sich aus sprachhistorischen und sprachtypologischen Gründen.[6]

Historisches Sprachgebiet

Das historische Sprachgebiet des Niederdeutschen erstreckte sich bis Estland. Aufgrund der Vertreibung der deutschen Bevölkerung im und nach dem Zweiten Weltkrieg ist die niederdeutsche Sprache in den heute zu Polen und Russland gehörigen Gebieten nun weitgehend ausgestorben. Das auf westpreußische Varietäten zurückgehende Plautdietsch der Russlandmennoniten hat sich hingegen von der Ukraine her in verschiedene Gegenden der Welt verbreitet und wird heute beispielsweise in den USA, in Mexiko, in Brasilien oder in Kasachstan gesprochen.

Gliederung des Niederdeutschen

Dialekte in Deutschland

Die historische Einteilung der niederdeutschen Mundarten im deutschen und im niederländischen Sprachraum

Die niederdeutschen Dialekte werden in der Regel so gegliedert:[7]

Diese Einteilung basiert allerdings in erster Linie auf geographischen (westliche und östliche Hälfte) und historischen (primäres und sekundäres Siedlungsgebiet) Kriterien, aber fast gar nicht auf sprachlichen (Ausnahme: Pluralendung des Verbs im Präsens). In linguistischer, also in lautlicher und grammatischer Hinsicht, gehören hingegen das westniederdeutsche Nordniedersächsische und das ostniederdeutsche Mecklenburgisch-Vorpommersche eng zusammen, wogegen das westniederdeutsche Westfälische und das ebenfalls westniederdeutsche Nordniederdeutsche wenig gemeinsam haben. Neben der Ost-West-Gliederung gibt es deshalb auch eine Nord-Süd-Gliederung, die Nordniedersächsisch und Mecklenburgisch-Vorpommersch zu Nordniederdeutsch, Westfälisch, Ostfälisch und Märkisch zu Südniederdeutsch zusammenfasst.

In den größeren Städten in Norddeutschland gibt es neben den älteren niederdeutschen Stadtdialekten auch hochdeutsche Stadtdialekte, wie das hamburgische Hochdeutsch oder das Ruhrdeutsch, die sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert in der städtischen Oberschicht entwickelt und durchgesetzt haben und nicht zum Niederdeutschen zählen. Sie haben allenfalls ein niederdeutsches Substrat aufzuweisen, in der Form einiger Merkmale in Sprachlehre, Wortschatz, Satzbau oder Lautung.

Dialekte in den Niederlanden

Die niederfränkischen und niedersächsischen Mundarten der Niederlande wurden bis in die 1980er Jahre ebenfalls zu den niederdeutschen Dialekten gezählt. Der niederfränkische Sprachzweig gilt heute bei den meisten Forschern als selbständig und wird wegen der eigenständigen niederländischen Sprachtradition in der Regel nicht mehr dem Niederdeutschen zugerechnet. Die niedersächsischen Idiome auf niederländischem Territorium werden angesichts ihrer Nähe zu den norddeutschen Dialekten (Plattdeutsch) gelegentlich zu den niederdeutschen, in der Regel jedoch zu den niederländischen Mundarten gerechnet (siehe Niederländische Dialekte). Die niedersächsischen Dialekte in den Niederlanden gliedern sich folgendermaßen:

  • Westerkwartiers
    • Kollumerpompsters
    • Kollumerlands
    • Middaglands
    • Midden-Westerkwartiers
    • Zuid-Westerkwartiers
  • Gronings und Noord-Drents
    • Hogelandsters
    • Stadsgronings
    • Westerwolds
    • Veenkoloniaals
    • Oldambtsters
  • Stellingwerfs
  • Midden-Drents
  • Zuid-Drents
  • Twents
  • Twents-Graafschaps
  • Gelders-Overijssels
  • Veluws
    • Oost-Veluws
    • West-Veluws

Weitere Länder

Im Ausland gibt es folgende niederdeutsche Dialekte:

Mischsprachen aus Hochdeutsch und Plattdeutsch, teilweise auch Sprachelementen weiterer Sprachen sind:

Grammatik

Rechtschreibung

Das Niederdeutsche hat keine einheitliche oder verbindliche Rechtschreibung. Sprachwissenschaftler benutzen in der Regel eine phonetische Transkription, also eine Schreibung, die die Laute so genau wie möglich wiedergibt. Allerdings sind solche Texte für ein breites Publikum schwer zu lesen.

Die am häufigsten gebrauchte Rechtschreibung für niederdeutsche Texte ist die Rechtschreibregelung von Johannes Saß („Kleines plattdeutsches Wörterbuch. Nebst Regeln für die plattdeutsche Rechtschreibung“, Hamburg 1972). Sie lehnt sich an die hochdeutsche Rechtschreibung an und macht die Abweichungen besonders kenntlich. Allerdings ist diese Rechtschreibung weder verbindlich noch geographisch umfassend. Sie gilt primär für die nordniedersächsischen Dialekte.

Für das Westfälische mit seinen vielen Diphthongen ist sie weniger gut geeignet.[8]

Historische Phonologie

Die Zweite Lautverschiebung

Die niederdeutsche Sprache hat – wie auch die anderen germanischen Sprachen, beispielsweise das Niederländische, das Englische oder das Schwedische – die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung nicht oder nur zu einem sehr geringen Teil mitgemacht. Daher ähneln viele Wörter der niederdeutschen Sprache den entsprechenden englischen, dänischen, schwedischen, norwegischen, isländischen und niederländischen Wörtern, z. B.:

  • nd. Water; engl. water; dän. vand; schwed. vatten; nl. water (Wasser)
  • nd. Vader, Vadder; engl. Father; dän./schwed. far; nl. vader (Vater)
  • nd. Pann, Panne; engl. pan; dän. pande; schwed. panna; nl. pan (Pfanne)
  • nd. Salt; engl. salt; dän./schwed. salt, nl. zout (Salz)
  • nd. Melk; engl. milk; dän. mælk; schwed. mjölk, nl. melk (Milch)
  • nd. Köppen; engl. cup; schwed. kopp; nl. kop (Tasse; verwandtes hochdeutsches Wort: Kopf)

In einigen westniederdeutschen Dialekten wird das g gleich wie im Niederländischen (nicht Flämischen) als stimmloses ch [x] gesprochen (für das stimmhafte ch [ɣ] wird ǧ geschrieben), im Westfälischen als stimmhaftes ch.

Niederdeutsche Konsonanten ↔ hochdeutsche Konsonanten

k → ch :

  • nd. ikich und koken ↔ hdt. kochen
  • nd. maken und engl.: to make ↔ hdt. machen

d → t :

  • nd. dag und engl. day ↔ hdt. Tag

jedoch d → d : (wenn im Engl. th)

  • nd. dat, Doorn und engl. that, thorn ↔ hdt. das, Dorn

t → s :

  • nd. dat, wat, eten und engl. that, what, eat ↔ hdt. das, was, essen

t → z :

  • nd. Tied, Timmermann ↔ hdt. Zeit, Zimmermann

t → tz :

  • nd. sitten und engl. sit ↔ hdt. sitzen

p → f :

  • nd. slapen oder slopen und engl. sleep ↔ hdt. schlafen
  • nd. Schipp und engl. ship ↔ hdt. Schiff

p → pf :

  • nd. Peper und engl. pepper ↔ hdt. Pfeffer

v, w, f → b :

  • nd. wief, wiewer und engl. wife ↔ hdt. Weib, Weiber
  • nd. leev, leewer ↔ hdt. lieb, lieber

Weitere Unterschiede zum Hochdeutschen

Weitere Unterschiede zwischen dem Hoch- und dem Niederdeutschen, die jedoch nicht aus der 2. Lautverschiebung resultieren:

s → sch:

sm → schm:

  • nd. smeeren, Smeer und schwed smörjaschmieren, Schmiere

sl → schl:

  • nd. slapen und engl. sleepschlafen

sw → schw:

  • nd. SwienSchwein

st → scht:

  • nd. steen und engl. stone ↔ schtein („Stein“ geschrieben)

sp → Schp:

  • nd. spitz ↔ schpitz („spitz“ geschrieben)

Morphologie

Niederdeutsch ist keine standardisierte Sprache, sondern eine Regionalsprache mit zum Teil sehr unterschiedlichen Dialekten. Eine umfassende grammatische Beschreibung des Niederdeutschen ist daher schwierig. Die folgende Darstellung basiert teilweise auf einer Kurzgrammatik von Wolfgang Lindow[9] und orientiert sich vermutlich weitgehend an den Verhältnissen im Nordniedersächsischen.

Artikel und Substantiv

Substantive haben (wie im Hochdeutschen) drei Geschlechter: maskulin (m.), feminin (f.) und neutrum (n.):

  • de Mann („der Mann“), Akkusativ: den Mann
  • de Fru („die Frau“), Akkusativ: de Fru
  • dat Kind („das Kind“), Akkusativ: dat Kind

Das Geschlecht der Substantive ist bei manchen Wörtern nicht eindeutig festgelegt, und es stimmt auch nicht unbedingt mit dem Geschlecht des entsprechenden hochdeutschen Wortes überein:

  • de/dat Band (Bindfaden): m. oder n.
  • de Distel (Distel): m. oder f.
  • de/dat Schiet (Dreck, Schmutz): m., f. oder n.

In der Flexion ist im Vergleich zum Hochdeutschen eine Vereinfachung des Formeninventars festzustellen. So hat das Niederdeutsche in der Regel nur einen Subjektfall (den Nominativ) und einen Objektfall (den Akkusativ). Der Dativ wird durch den Akkusativ ersetzt und der Genitiv wird durch eine präpositionale Verbindung umschrieben (Beispiel: min Vadder sin Hus – ‘das Haus meines Vaters’).

Den Plural bilden die Substantive auf unterschiedliche Weise:

  • ohne Veränderung: dat Been – de Been (das Bein – die Beine)
  • Umlautung des Stammvokals: dat Huus – de Hüüs (das Haus – die Häuser)
  • Längung des Stammvokals: de Dag – de Daag(en) (der Tag – die Tage)
  • Endung -(e)n: de Disch – de Dischen (der Tisch – die Tische)
  • Endung -er ohne Umlaut: dat Kleed – de Kleeder (das Kleid – die Kleider)
  • Endung -er mit Umlaut: dat Book – de Bööker (das Buch – die Bücher)
  • Endung -s: de Arm – de Arms (der Arm – die Arme)
  • unregelmäßig: de Mann – de Manns/de Mannslüüd (der Mann – die Männer)

Adjektive, Artikel und Pronomina die sich auf ein Substantiv beziehen, richten sich in ihrer Form nach dem Geschlecht des Substantivs. Dies bezeichnet man auch als Kongruenz.

Pronomen

Auch bei den Pronomen gibt es in der Regel nur einen Subjektfall (den Nominativ) und einen Objektfall (den Akkusativ).

  • Die Personalpronomen („ich, du, er, sie, es“ etc.) ähneln zum Teil dem Hochdeutschen, allerdings hat die dritte Person Singular maskulin eine andere Wurzel (he statt er).
Numerus Person Genus Nominativ Akkusativ Akkusativ (Ostfriesland) Akkusativ (Ostfalen)
Singular 1.   ik mi mi mik
2.   du di di dik
3. Maskulinum he em/sik hum ö(h)ne
Femininum se ehr/sik höhr/höör se(i)
Neutrum dat dat/sik et
Plural 1.   wi u(n)s uns üsch
2.   ji ju(uch) jo jehre
3.   se jem/jüm höhr sik
  • Die Possesivpronomen („mein, dein, sein, ihr“ etc.) unterscheiden Singular und Plural, abhängig davon, ob das Besessene in der Einzahl oder Mehrzahl vorhanden ist. Dies ist auch im Hochdeutschen so („mein, meine“). Bei den Akkusativformen mit einfachem Besitz stehen die Formen mit der Endung -en für das männliche Geschlecht, die Formen ohne -en für das weibliche bzw. das sächliche Geschlecht.
Numerus Person Genus Nominativ (Besitz einfach) Akkusativ (Besitz einfach) Nominativ (Besitz mehrfach) Akkusativ (Besitz mehrfach)
Singular 1.   mien mien(en) mien mien
2.   dien dien(en) dien dien
3. Maskulinum sien sien(en) sien sien
Femininum ehr ehr(en) ehr ehr
Plural 1.   u(n)s u(n)s(en) u(n)s u(n)s
2.   ju(un) ju(un) juun juun
3.   (jem-)ehr (jem-)ehr(en) (jem-)ehr (jem-)ehr
  • Bei den Demonstrativpronomen („dieser, diese, dieses“ etc.) unterscheiden sich maskuline und feminine Formen im Nominativ Singular kaum. Der Plural ist für alle Geschlechter gleich.
Numerus Genus Nominativ Akkusativ
Singular Maskulinum de/disse den/dissen
Femininum de/(düsse) de/(düssen)
Neutrum dat/dit dat/dit
Plural   de/disse (düsse) de/disse (düsse)

Adjektiv

Die Flexion der Adjektive ist im niederdeutschen Sprachgebiet nicht einheitlich. Es treten unterschiedliche Formen auf, die auch nicht eindeutig regional gegliedert werden können. Bei allen drei Geschlechtern kann das Adjektiv ohne Endung gebraucht werden (de lütt Mann, de lütt Fru, dat lütt Kind). Den Gebrauch mit Endungen kann man den folgenden Beispielen entnehmen:

  • männlich (bestimmter Artikel): de starke Mann (Nominativ) – den starken Mann (Akkusativ)
  • männlich (unbest. Art.): een starken Mann (Nom.) – een’n starken Mann (Akk.)
  • weiblich (best. Art.): de smucke Deern (Nom.) – de smucke Deern (Akk.)
  • weiblich (unbest. Art.): een smucke Deern (Nom.) – een smucke Deern (Akk.)
  • sächlich (best. Art.): dat wiede Land (Nom.) – dat wiede Land (Akk.)
  • sächlich (unbest. Art.): een wied(es)/wied(et) Land (Nom.) – een wied(es)/wied(et) Land (Akk.)

Die Steigerung der Adjektive erfolgt durch die Endungen -er und -st(e). Der Superlativ mit „am“ („am besten“) wurde früher ausgedrückt mit up’t („up’t best“), heute vielfach auch mit an’n.

Zahlwort

  • 1: een / ein
  • 2: twee / twei
  • 3: dree / drei
  • 4: veer
  • 5: fief
  • 6: söss / sess / soss
  • 7: söben / söven
  • 8: acht
  • 9: negen
  • 10: teihn
  • 11: ölben / ölven / olben
  • 12: twölf / twolf / twalm
  • 13: dörteihn / darteihn
  • 14: veerteihn
  • 15: föffteihn /foffteihn
  • 16: sössteihn / sossteihn / sessteihn
  • 17: söbenteihn
  • 18: achteihn
  • 19: negenteihn
  • 20: twintig
  • 30: dörtig / dartig
  • 40: veertig
  • 50: föfftig / fieftig
  • 60: sösstig / sosstig / sesstig
  • 70: söbentig / söventig
  • 80: achtig / tachentig
  • 90: negentig
  • 100: hunnert / hünnert
  • 1000: dusend
  • 1.: de eerst(e)
  • 2.: de tweet(e)
  • 3.: de drütt(e), de darde
  • 4.: de veert(e)
  • 5.: de föfft(e), de fiefte

Verb

Das Perfekt und Plusquamperfekt wird – ähnlich wie im Deutschen – mit dem Hilfsverb hebben gebildet.

Das Futur wird zum Teil – anders als im Deutschen und ähnlich wie im Schwedischen – mit dem Hilfsverb sölen/schölen/zullen (verwandt, aber nicht bedeutungsidentisch mit dem Deutschen „sollen“) gebildet.

Ik schall na School gahn kann sowohl „Ich werde zur Schule gehen“ als auch „Ich soll zur Schule gehen“ bedeuten. Tatsächlich bevorzugt das Niederdeutsche aber – wie auch das gesprochene Hochdeutsche, reines Präsens zur Bezeichnung des Futurs („Ik gah mörgen na School to.“)

Zum Teil wird das Futur wie im Hochdeutschen mit dem Verb waarn (= „werden“) gebildet: Ik waar morgen to School gahn („Ich werde morgen zur Schule gehen“). Beide Möglichkeiten sind gleichwertig verwendbar.

Vorsilbe ge-

Das Präfix ge- für die Charakterisierung des Partizips Perfekt und davon abgeleiteter Substantive ist – ähnlich wie in der hochdeutschen Sprachentwicklung – zunächst in die Schriftsprache (mittelniederdeutsch) integriert worden, im nordniedersächsischen und ostniederdeutschen Raum (Nordniedersächsisch und Mecklenburgisch-Vorpommersch) jedoch nicht vollständig. Dort ist dieses Sprachmerkmal in der gesprochenen und später auch der geschriebenen Sprache nicht mehr aufzufinden – vermutlich auch unter Einfluss der schwedischen und dänischen Regentschaft in Teilen Norddeutschlands sowie der Beziehungen zu Skandinavien. Dementsprechend findet man dieses Präfix im Niederländischen und Preußischen sowie (reduziert auf e-) im Ostfälischen, aber nicht im Ostfriesischen, Nordniedersächsischen und Mecklenburgischen.

  • nnds. kööpt, ostf. ekofft (vgl. dän. købt, ndl. gekocht, dt. gekauft)
  • nnds. slapen, ostf. eslapen (vgl. engl. slept, ndl. geslapen, dt. geschlafen)

Die Ursache dieses Unterschiedes ist nicht eindeutig geklärt. Es ist unsicher, wie das Partizip in der altsächsischen Sprache gebildet wurde. So weist der Heliand im Vaterunser die Zeile auf: geuuîhid sî thîn namo uuordo gehuuilico, auf Niederdeutsch heißt es: hilligt warrn schall dien Naam. Vergleiche mit der nahe verwandten angelsächsischen Sprache legen ebenfalls nahe, dass das Partizip möglicherweise mit Präfix gebildet wurde. Alte schriftliche Quellen aus der karolingischen Zeit zeigen beide Formen, da sie jedoch von fränkischen Mönchen geschrieben wurden, sind sie diesbezüglich nicht besonders zuverlässig. Mittelniederdeutsche Quellen aus dem 14. und 15. Jahrhundert zeigen beide Formen.

Die regionale Verbreitung liefert eher Hinweise zur Genese dieses Phänomens: Die grammatische Form des Partizips ohne Präfix ist typisch für das Emsland (Binnenland!) und die Küstenregionen von Ostfriesland über den Raum Hamburg/Bremen bis Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Vorpommern. Dagegen wird im ostfälischen Raum sowie in den im Hoch- und Spätmittelalter kolonisierten Gebieten im östlichen Westpreußen wie in Ostpreußen das Partizip mit dem Präfix e- bzw. ge- gebildet. Dieser Umstand lässt einen Einfluss über die Seefahrt und die intensiven Beziehungen zu England und Skandinavien zur Hansezeit und später vermuten.

Gleichzeitig waren die Gebiete, in denen das Partizip nach skandinavischem Muster gebildet wird, in der Neuzeit teilweise über längere Zeit skandinavisch verwaltet. So führte der Dreißigjährige Krieg zu einer schwedischen Besetzung im Gebiet zwischen Hamburg und Bremen (z. B. Stade) und in Pommern. Schleswig und Holstein hatten den dänischen König als Landesherren und eine teilweise dänisch geprägte Verwaltung. Dies könnte ohnehin in der Sprache vorhandene Tendenzen zum präfixlosen Partizip verstärkt haben.

Generell ist zu beobachten, dass es im nördlichen Sprachraum eine über das Partizip hinaus gehende Abneigung gegen das Präfix ge- gibt. So wird bereits in älteren Quellen ein Geschlechterbuch Slechtbook genannt. Mit dem hochdeutschen Verb „gehören“ korrespondiert das niederdeutsche hören / heurn und – präziser – tohören / toheurn. He heurt de vun de Geest to = „Er gehört zu denen von der Geest“.

Syntax

Der Satzbau des Niederdeutschen erlaubt Konstruktionen, die im Hochdeutschen als ungrammatisch abgelehnt werden.

Zum Beispiel sind Sätze wie: Ick mach dat nich, gahn rut bi Rägen (hochdt. wörtlich: „Ich mag es nicht, gehen hinaus bei Regen“ – vgl. Englisch: I don't like to go out in the rain) normal. Dieser Gebrauch des Infinitivs ist ein weiterer Unterschied zum Hochdeutschen.

Alternativ könnte man allerdings auch Ick mach dat nich, bi Rägen rut tou gahn sagen. Außerdem kann man den erstgenannten niederdeutschen Satz auch im Hochdeutschen so bilden, wenn man ihn als „Ich mag das nicht, Rausgehen bei Regen“ versteht (also als substantivierten Infinitiv). Wer solcherart „kreativen Sprachgebrauch“ als „ungrammatisch“ ablehnt, müsste dies konsequenterweise auch für das analoge Beispiel im Niederdeutschen tun.

Semantik: Einfluss auf das Hochdeutsche

Das Niederdeutsche nimmt gegenüber dem Hochdeutschen die Stellung einer Substratsprache ein. In Norddeutschland sind unzählige niederdeutsche Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch zu finden, manche werden sogar in der hochdeutschen Standardsprache verwendet.

  • aus der Fachsprache der Seefahrt stammen unter anderem:
    • Achterdeck (von achter, niederdeutsch für hinter)
    • Bug
    • Heck
    • Kiel
    • Lotse
    • Planke
    • Rah(e)
    • Reling
    • Steven
    • ein-, ausscheren (ursprünglich von Schiffen gesagt) bzw. einscheren (von einem Tau gesagt)
    • schlingern
    • wriggen (mittels eines Ruders kreisende Bewegungen zum Vorwärtsbewegen des Bootes vollführen)
  • in die deutsche Standardsprache eingegangen sind unter anderem:
    • Bernstein
    • Fliese (Kachel)
    • Laken (Leintuch)
    • Lappen (Lumpen)
    • Mettwurst (niederdeutsch Mett = Fleisch, speziell gehacktes Schweinefleisch)
    • Möwe
    • Spuk (Geistererscheinung)
    • Ufer (Gestade)
    • Ware (ursprünglich nur niederdeutsch, früher hochdeutsch Kaufmannsgut)
    • knabbern
    • kneifen (jüngere verhochdeutschte Form des niederdeutschen kniepen)
    • schmuggeln
    • verrotten (verfaulen)
    • wringen (ringen)
    • binnen (innerhalb; vgl. binnen ... Minuten; Binnenschifffahrt)
    • echt (ursprünglich niederdeutsch für gesetzmäßig)
    • sacht (sanft)
  • beschränkt auf die norddeutsche Umgangssprache sind unter anderem:
    • Dustern (Dunkelheit)
    • Puschen (Hausschuhe)
    • Schmacht (Entzugserscheinungen bei Rauchern, von smacht, niederdeutsch für Hunger)
    • schnacken (reden, bereden)
    • dröge (trocken)
    • Trecker (Traktor)
  • in die allgemeine Umgangssprache eingegangen sind unter anderem:
    • hapern (fehlen, nicht vorangehen)
    • schlabbern (geräuschvoll auflecken; [sich] schlenkernd bewegen)
    • pinkeln, pissen (urinieren)
    • schrubben (fegen, kräftig reibend reinigen)
    • klamm (klamme Finger, nasskalt)

Pragmatik: Aspekte der Verwendung

Einstellungen zum Niederdeutschen

Das Niederdeutsche hat den Ruf, eine gemütlich-heimelige Sprache zu sein. Dieter Stellmacher verweist auf das Beispiel eines Bremer Bundestagsabgeordneten, der zwar nicht fließend Niederdeutsch spricht, aber in Reden und Gesprächen gern niederdeutsche Sätze und Redewendungen einfließen lässt. Damit wolle der Abgeordnete (nach eigener Aussage) eine bessere Stimmung und eine nähere Verbindung zu seinen Zuhörern und Gesprächspartnern herstellen.

Vereinzelt ist auch in den Landtagen der norddeutschen Bundesländer niederdeutsch gesprochen worden, besonders bei Themen, die die niederdeutsche Sprache betreffen. Dies führte dann zu einer heiteren und versöhnlichen Stimmung unter den Parlamentariern. Allerdings zeigt dies auch, dass das Niederdeutsche gerne für weniger wichtige Themen verwendet wird.

Auch in der niederdeutschen Literatur und Theaterkunst[10] erwartet das Publikum eher heitere und leichte Themen, obwohl es auch „ernste“ Literatur und Problemstücke auf Niederdeutsch gibt. Wo die niederdeutsche Literatur und Dramatik nicht nur oberflächlich unterhaltend ist, sondern „seriöser“ sein möchte, wird sie eher unwillig zur Kenntnis genommen. Dies kann damit begründet werden, dass das Niederdeutsche lange Zeit auf private Themen, auf nicht-öffentliche Bereiche und auf die Lebenswelt der „kleinen Leute“ eingeschränkt war.[11]

Verwendung in der EDV

Die Desktop-Oberfläche KDE für Unixsysteme, für das Betriebssystem Linux und Derivate gibt es seit einiger Zeit auch Sprachpakete in niederdeutscher Sprache. Eine niederdeutsche GNOME-Variante befindet sich in Planung.

Bedeutende niederdeutsche Dichter und Schriftsteller

Siehe auch

Literatur

  • Gerhard Cordes, Dieter Möhn (Hrsg.): Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1983, ISBN 3-503-01645-7
  • Willy Sanders: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch. Sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-01213-6
  • Claus Schuppenhauer: Plattdeutsche Klassiker 1850–1950. Wege zur niederdeutschen Literatur. Verlag Schuster, Leer 1982, ISBN 3-7963-0209-2
  • Wolfgang Lindow [u. a.]: Niederdeutsche Grammatik. Verlag Schuster, Leer 1998, ISBN 3-7963-0332-3
  • Johannes Sass: Der neue Sass – Plattdeutsches Wörterbuch – Plattdeutsch – Hochdeutsch, Hochdeutsch – Plattdeutsch. 4. Auflage. Wachholtz-Verlag, Neumünster 2006, ISBN 3-529-03000-7
  • William Foerste: Geschichte der niederdeutschen Mundarten. In: Deutsche Philologie im Aufriss. hrsg. von Wolfgang Stammler. 2. überarb. Aufl. Erich Schmidt Verlag, Berlin 1957. Bd. I; Sp. 1730–1898
  • Dieter Stellmacher: Niederdeutsche Sprache. 2. überarb. Aufl. Weidler, Berlin 2000, ISBN 3-89693-326-4
  • Jan Goossens (Hrsg.): Niederdeutsch, Sprache und Literatur. Eine Einführung. 2. Aufl. Wachholtz Verlag, Neumünster 1983, ISBN 3-529-04510-1

Weblinks

Wikipedia Wikipedia auf Plattdeutsch (Deutschland)
Wikipedia Wikipedia auf Niedersächsisch (Niederlande)

Seiten über das Niederdeutsche

Belege

  1. a b c d Willy Sanders: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch: sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-01213-6, S. 24–27. 
  2. Siehe Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA)
  3. Dieter Stellmacher: Niederdeutsche Sprache. 2. Auflage. Weidler, Berlin 2000, ISBN 3-89693-326-4, S. 11. 
  4. Johannes Bugenhagen: Biblia: dat ys de gantze Hillige Schrifft, Düdesch: Vpt nye thogerichtet, vnde mit vlite corrigert. Hans Lufft, Wittenberg 1541. 
  5. Jan Goossens: Niederdeutsche Sprache : Versuch einer Definition. In: Jan Goossens (Hrsg.): Niederdeutsch : Sprache und Literatur. Karl Wachholtz, Neumünster 1973, S. 9-27, 20f. 
  6. Willy Sanders: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch: sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-01213-6, S. 74–75. 
  7. Dieter Stellmacher: Niederdeutsche Sprache. 2. Auflage. Weidler, Berlin 2000, ISBN 3-89693-326-4, S. 108. 
  8. Willy Sanders: Sachsensprache, Hansesprache, Plattdeutsch: sprachgeschichtliche Grundzüge des Niederdeutschen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-01213-6, S. 185–187. 
  9. Wolfgang Lindow: Plattdeutsches Wörterbuch. Schuster, Leer 1984, ISBN 3-7963-0215-7, S. 253–257. 
  10. Siehe etwa Ohnsorg-Theater, Hamburg, Niederdeutsches Theater Braunschweig
  11. Dieter Stellmacher: Niederdeutsch: Formen und Forschungen. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1981, ISBN 3-484-10415-5, S. 22–25, 132–133. 

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