Neugotik

Neugotik
Palace of Westminster, London, von Charles Barry, ab 1840
Neues Rathaus in München von Georg von Hauberrisser, 1867–1909
Neugotischer Hochaltar in der Pfarrkirche von Boms
Die neugotische Marienkapelle in Adenau
Die neugotische St.-Matthias-Kirche in Sondershausen, 1905
Jagdschloss Frauenberg (heute: Hluboka) bei Budweis, 1840–1871
Britische Neogotik: In den Kolonien wurde der neogotische Stil auch mit einheimischer Architektur verquickt, wie hier beim Chhatrapati Shivaji Terminus in Mumbai (früher Bombay), Indien. Einer der größten Bahnhöfe der Welt, seit 2004 UNESCO-Weltkulturerbe.
Neogotik in Neuseeland: Larnach Castle des Architekten Robert Lawson
Schloss Stolzenfels bei Koblenz, Inbegriff der Rheinromantik
Burg Hohenzollern, Baden-Württemberg, Deutschland

Die Neugotik, auch Neogotik oder Gothic Revival genannt, ist ein Kunst- und Architekturstil des 19. Jahrhunderts. Sie ist eine der frühesten Stilarten des Historismus, der auf verschiedene Stile der vergangenen zwei Jahrtausende zurückgriff.

Im Mittelpunkt der Verbreitung der Neugotik stand ein umfassendes Bau- und Einrichtungsprogramm, das bis in die Literatur und den Lebensstil Einzug hielt. Die Formensprache der Neugotik orientierte sich an einem idealisierten Mittelalterbild. Ihre Blüte hatte sie in der Zeit von 1830 bis 1900.

Um an die Freiheit und Geisteskultur der mittelalterlichen Städte anzuknüpfen, errichtete man in neugotischem Stil vor allem Kirchen, Parlamente, Rathäuser und Universitäten, aber auch andere öffentliche Bauten wie Postämter, Schulen oder Bahnhöfe.

Inhaltsverzeichnis

Neugotik in Großbritannien

Die Neugotik begann in Großbritannien schon ab 1720, als bei der Gestaltung neuer Bauwerke Formen der mittelalterlichen Gotik nachgeahmt wurden. Der auf dem Kontinent herrschende Stil des Rokoko wurde als Rokoko-Gotik interpretiert.

Typisch dafür sind Bauten wie das Landhaus Strawberry Hill (Umbau ab 1749) des Horace Walpole. Aber erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts war, von Großbritannien aus, der maßgebliche Durchbruch zu verzeichnen. Zu dieser Zeit wurde zum Beispiel der Palace of Westminster (1840–1860) von Sir Charles Barry errichtet. Weitere wichtige Vertreter der Neugotik in Großbritannien waren der Engländer Augustus Pugin, der zusammen mit Charles Barry an den Entwürfen für den Palace of Westminster arbeitete, und der Schotte James Gillespie Graham, der vor allem Gebäude im Scottish gothic style, der schottischen Spielart der Neugotik, entwarf.

Neugotik im deutschen Sprachraum

Das Nauener Tor in Potsdam (1755), das Friedrich der Große auf britische Anregung errichten ließ, war das erste neugotische Bauwerk in Deutschland. Mit der Unterstützung von Friedrich dem Großen erhielt die Neugotik eine nationale Ausrichtung, da man sich in einer Verbundenheit mit dem mittelalterlichen Kaiserreich sah. Insbesondere bei den damaligen Parkbauten setzte sich die Stilrichtung durch, wie beispielsweise das Gotische Haus im Wörlitzer Park (1786/87), oder die Löwenburg im Bergpark Wilhelmshöhe. Sie entstand nach Entwürfen von Heinrich Christoph Jussow in der Zeit von 1793 bis 1800 als Nachahmung einer mittelalterlichen englischen Ritterburg.

Für die Gotik-Rezeption in Deutschland ist Johann Wolfgang von Goethes 1773 veröffentlichter Aufsatz „Von Deutscher Baukunst“ von besonderer Bedeutung. Goethe beschrieb den deutschen Baumeister Erwin von Steinbach als angeblich alleinigen Erbauer des Straßburger Münsters sowie als Genie und weckte schwärmerische Begeisterung für die damals noch weitgehend verachtete gotische Architektur, die nun als deutsche Baukunst verstanden und positiv bewertet wurde. Dass die gotische Baukunst historisch aus Frankreich stammte war Goethe nicht bekannt. In der Folgezeit wurde die französische Herkunft von nationalistischen Anhängern einer vermeintlich „deutschen“ Gotik jahrzehntelang bestritten oder auch ignoriert.

Die Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte in Deutschland zu einer Begeisterung für die mittelalterlichen Bauwerke, insbesondere für die großen Dome der Gotik und die Burgen. Im Zuge dieser neuen Mode konnten alte Bauruinen wie der Kölner Dom (Wiederaufnahme des Baus 1846) oder das Ulmer Münster (Fertigstellung des Westturmes 1890) nach den Plänen des Mittelalters vollendet werden. Andere gotische Kirchen wurden purifiziert, das heißt, von nachträglichen Änderungen nachfolgender Stilepochen befreit, vervollständigt und von vermeintlichen Fehlern bereinigt. Die Vollendungen verwendeten die originalen Baupläne, es sind also aus kunsthistorischer Sicht noch (zum überwiegenden Teil) Bauwerke der mittelalterlichen Gotik.

Vorhandene Burgruinen wurden gerne nach englischem Vorbild, dem Castellated Style wiederaufgebaut, dieser Wiederaufbau hatte allerdings nichts mehr mit der historischen Gestalt der Burg zu tun. Typische Beispiele dafür sind die Burg Hohenzollern bei Hechingen und das Schloss Stolzenfels in Koblenz.

Für neue Kirchen- und Profanbauten in den wachsenden Städten griff man gerne auf die gotische Architektur zurück und komponierte mit Formelementen aus dem reichen Erbe vorhandener Bauwerke eine neue idealisierte Architektur, die Neugotik. Allerdings fehlte aufgrund der großen zeitlichen Distanz das tiefe Verständnis für die Formensprache und so finden sich Formen des Kirchenbaus an neugotischen Rathäusern wieder. Herausragende Beispiele für neugotische Profanbauten sind die Rathäuser in Wien, München und dem Berliner Bezirk Köpenick sowie das einzigartige Ensemble der Speicherstadt in Hamburg.

Für die Innenausstattung, insbesondere Altäre und Kanzeln der neuen und purifizierten Kirchen schuf man aufwändig geschnitzte Werke, die sich an die Elemente der Architektur anlehnen, aber ohne Vorbild waren. Diese Werke nannte man später abwertend Schreinergotik. Die Glasmalerei erlebte ebenfalls eine neue Blüte, allerdings sind die neuen Werke realistischer und naturalistischer als die historischen Vorbilder. Viele derartige Ausstattungsgegenstände der Kirchen sind ab 1960 aus Verachtung für die nachgemachten Stile wieder entfernt und zerstört worden.

Neugotische Bauten besonders im deutschen Sprachraum waren im vergangenen Jahrhundert natürlich massiven Zerstörungen und Angriffen im Zweiten Weltkrieg ausgesetzt. Es blieben jedoch fast alle bedeutenden neugotischen Kathedralen vom Zusammensturz verschont, auch wenn vielerorts die Dachstühle ausbrannten. Eine Ausnahme bildet hier die Nikolaikirche in Hamburg, deren Schiffe nach dem verheerenden Bombenangriff im Juli 1943 zwar noch standen, deren Ruine aber 1951 trotz Bürgerprotesten abgebrochen wurde. Nur der Turm ragt heute noch 147 Meter hoch aus dem Häusermeer (das Ulmer Münster ist nur 14 Meter höher). Er lässt die Größe der zerstörten Kirche erahnen, die sicherlich als eine der größten und prächtigsten gelten kann, die allein im Stil der Neugotik (ohne Teilstücke aus dem Mittelalter) erbaut worden sind.

Die Begeisterung für gotische Formen ließ im stark nationalistisch geprägten Deutschland des zweiten Kaiserreiches wieder nach, nachdem immer offensichtlicher wurde dass die Gotik nicht ein typisch deutscher Stil ist, sondern historisch aus Frankreich stammt. Den gesuchten, typisch deutschen Stil glaubte man in der Romanik gefunden zu haben, worauf sich der Schwerpunkt auf romanische Formen verlagerte und die Neuromanik ihre Blüte erlebte.

Zu den letzten Beispielen in Deutschland gehört die 1906 geweihte Paulskirche in München von Georg von Hauberrisser. Auch die Martinus-Kirche in Olpe (geweiht 1909) ist im neugotischen Stil erbaut.

Die ersten Wolkenkratzer in Nordamerika

Für viele der weltweit ersten richtigen Geschäftshochhäuser, die um 1910 bis 1920 in Städten wie New York oder Chicago entstanden, bediente man sich gotischer architektonischer Formen, was zunächst verwunderlich scheint. Man kann aber nachvollziehen, dass man an die Pracht und Herrlichkeit der gigantischen Kathedralen Europas anknüpfen wollte. Waren diese noch dazu gedacht, mit ihrer Größe Gott (bzw. das Himmlische Jerusalem) zu ehren, benutzte man im Grunde nun die gleiche Formensprache, um der allgegenwärtigen Macht der Wirtschaft eine ausdrucksstarke, einschüchternde Form zu verleihen.

Nicht zufällig erinnert der Tribune Tower in Chicago stark an den Hauptturm der Kathedrale von Rouen. Beim Woolworth Building (vollendet 1913, in New York City) von Cass Gilbert ist sogar im Grunde eine Kathedrale inklusive ihrer Seitenschiffe als modernes Bürohochhaus verwirklicht worden. Auch bei der Cathedral of Learning in Pittsburgh hört man den Bezug zu einer Kathedrale schon dem Namen nach. Das Woolworth Building und die Cathedral of Learning gelten als die höchsten Bauwerke im neugotischen Stil.

Diesen Bauwerken ist eine üppige Maßwerkverzierung bis hin zur Turmspitze gemein, lange, schlanke Fenster beherrschen die plastisch gegliederte Fassade. Hat man die mittelalterliche Spätgotik sowie auch die europäische Neugotik im Blick, wirkt der Wolkenkratzerstil von seiner üppigen Ornamentik eher verkitscht und überladen.

Neugotik in Neuseeland und Australien

Inspiriert von den neugotischen Bauten in Großbritannien entstand auch in den britischen Kolonien Australien und Neuseeland eine Reihe von neugotischen Bauten. Zu den bekanntesten Architekten, die Bauwerke in diesem Stil realisierten, gehören Benjamin Mountford und Robert Lawson. Insbesondere Kirchen wie die First Church in Dunedin wurden im neugotischen Stil errichtet. Auch bei einer Reihe von Wohnhäusern wurden zumindest Elemente der Neugotik eingearbeitet. So erinnert bei der Villa Larnach Castle, die Robert Lawson für einen neuseeländischen Politiker und Geschäftsmann errichtete, der Mittelteil an eine Burg. Umgeben ist dieser Teil jedoch von einer zweistöckigen verglasten Veranda, bei der die Träger aus Gusseisen sind.

Die erst 2008 nach 108 Jahren Bauzeit fertiggestellte St John’s Cathedral in Brisbane ist der letzte gebaute neugotische Dom der Welt.

Architekten – Auswahl

Bauwerke – Auswahl

Literatur

  • Christian Baur: Neugotik. München 1982.
  • Georg Germann: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie. Stuttgart 1974.
  • Dierk Lawrenz: Die Hamburger Speicherstadt. EK-Verlag, Freiburg 2008 ISBN 978-3-88255-893-7.
  • Richard Reid: Baustilkunde. Seemann-Verlag, Leipzig 2009, ISBN 978-3-86502-042-0

Weblinks

 Commons: Neogotische Kunst und Architektur – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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