- Fridtjof Nansen
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Fridtjof Wedel-Jarlsberg Nansen G.C.V.O., D.Sc., D.C.L., Ph.D.[1] (* 10. Oktober 1861 in Store Frøen bei Christiania (Oslo); † 13. Mai 1930 in Lysaker bei Oslo) war ein norwegischer Zoologe, Polarforscher, Philanthrop und internationaler Staatsmann.
Nansen studierte Zoologie an der Universität von Christiania und war später als Kurator des Bergen Museum tätig, wo er eine Doktorarbeit über das Zentralnervensystem urtümlicher mariner Lebewesen verfasste, die bedeutende Beiträge zu den Grundlagen der modernen Neurologie lieferte. Ab 1897 widmete er sich der damals noch jungen Forschungsdisziplin der Ozeanographie, unternahm hierzu mehrere Forschungsreisen hauptsächlich in den Nordatlantik und war an der Entwicklung von Gerätschaften für die Meeresforschung beteiligt.
Als Polarforscher durchquerte er 1888 als erster Grönland über das Inlandeis und stellte während seiner Nordpolarexpedition (1893–1896) gemeinsam mit Fredrik Hjalmar Johansen am 8. April 1895 bei 86°13,6'N einen neuen Rekord in der bis dahin größten erreichten Annäherung an den geographischen Nordpol auf. Nansen revolutionierte die Techniken des polaren Reisens und beeinflusste damit alle nachfolgenden Expeditionen in Arktis und Antarktis.
Als einer der angesehensten Bürger seines Landes wurde Nansen zu einer Schlüsselfigur der politischen Unabhängigkeit Norwegens. Im Jahr 1905 war er einer der vehementesten Fürsprecher für die Aufkündigung der seit 1814 bestehende Personalunion mit Schweden und half bei der Inthronisation des damaligen Prinzen von Dänemark zum norwegischen König Haakon VII.. Zwischen 1906 und 1908 arbeitete Nansen im diplomatischen Dienst in London, wo er an den Verhandlungen zum Staatsvertrag zur Bestandsgarantie der norwegischen Souveränität beteiligt war.
Im letzten Jahrzehnt seines Lebens diente Nansen in seiner Funktion als Hochkommissar für Flüchtlingsfragen den Aufgaben des nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Völkerbundes. Für seine Verdienste um die internationale Flüchtlingshilfe erhielt er 1922 den Friedensnobelpreis.
Inhaltsverzeichnis
Familie und Kindheit
Nansens Vorfahren stammten aus Dänemark. Zu ihnen zählt der Geschäftsmann und spätere Bürgermeister von Kopenhagen Hans Nansen (1598–1667), der zur Erschließung neuer Handelsrouten nach Russland an frühen Erkundungsfahrten in die Region des Weißen Meeres teilgenommen hatte.[2] Das erste in Norwegen ansässige Familienmitglied war Nansens Urgroßvater Ancher Antoni Nansen (1729–1765), der Kopenhagen in den 1750er Jahren verließ. Dessen Sohn, Hans Leierdahl Nansen (1764–1821), war zunächst Amtsrichter im Bezirk Trondheim und später in Jæren. Nachdem Norwegen im Jahr 1814 im Frieden von Kiel seine Unabhängigkeit von Dänemark erlangte, wurde er Abgeordneter des Storting und dort einer der Verfechter der Personalunion mit Schweden,[3] zu deren Auflösung sein Enkel 91 Jahre später beitragen sollte.
Fridtjof Nansen wurde 1861 als zweites Kind des wohlhabenden Rechtsanwalts Baldur Nansen (1817–1885)[4] und dessen zweiter Ehefrau Adelaide Johanna Isidora Wedel-Jarlsberg (1821–1877)[5] auf dem Anwesen Store Frøen[6] (frei übersetzt: Die große fruchtbare Wiese) nördlich von Christiania geboren. Ihr erster Sohn, den sie ebenfalls Fridtjof tauften, wurde 1859 geboren, starb jedoch bereits im Säuglingsalter. Das dritte Kind war Fridtjofs jüngerer Bruder Alexander (1862–1945).[7] Nansens Mutter war die Nichte von Hermann Wedel-Jarlsberg, der zu den Vätern der norwegischen Verfassung gehört.[8] Die verwitwete Adelaide, deren erster Mann 1853 an der Cholera verstorben war, brachte fünf Kinder (drei Söhne und zwei Töchter) in die 1858 mit Baldur Nansen geschlossene Ehe ein.[9] Aus Baldur Nansens vorheriger Ehe stammte ein Sohn namens Moltke (1854–1867). Baldurs erste Frau war kurz nach der Geburt an Kindbettfieber gestorben.[10][11]
Nansens Kindheit war geprägt von der ländlichen Umgebung seines Elternhauses. Zu seinen Freizeitbeschäftigungen gehörte das Jagen und Fischen. Zeitweilig unternahm er auf sich allein gestellt ausgedehnte Expeditionswanderungen durch die benachbarten Wälder der Nordmarka, wo er nach eigenen Worten „wie Robinson Crusoe“ lebte.[12] Er besuchte die Schule in Christiania und galt als fleißiger Schüler, ohne jedoch besondere Vorlieben für ein Fach zu entwickeln.[11] Die Erziehung durch seinen tief religiösen Vater vermittelte ihm Pflichtbewusstsein und moralische Grundsätze.[13] Angeleitet durch seine sportlich ambitionierte Mutter war er von frühester Jugend an ein begeisterter Schwimmer, Eisschnellläufer und Skifahrer.[11] Im Alter von zehn Jahren begann er auf den Hügeln von Ullern mit dem Skispringen, was ihn beinahe das Leben kostete. Wie durch ein Wunder überlebte Nansen einen schweren Sturz nahezu unverletzt.[10] Trotz dieses Zwischenfalls blieb die Leidenschaft für den Wintersport ungebrochen. Im Alter von 18 Jahren hielt er den Weltrekord im Eisschnelllauf über die Distanz von einer Meile. Ein Jahr später gewann er erstmals die nationalen Meisterschaften im Skilanglauf und wiederholte diesen Erfolg in jedem der nächsten elf Jahre.[14]
Nansens Leben erfuhr im Sommer 1877 eine Zäsur, als seine Mutter völlig unerwartet starb. Sein Vater verkaufte tief bekümmert den Familiensitz Store Frøen und zog mit beiden Söhnen nach Christiania.[15]
Studienzeit
Im Jahr 1880 bestand Nansen die Aufnahmeprüfung der Kgl. Frederiks Universitet in Christiania. Er entschied sich für das Studium der Zoologie, weil er nach eigener Aussage hoffte, hierdurch ein Leben in der freien Natur führen zu können. Seine Studienzeit begann im Frühjahr 1881.[16] Im Folgejahr entschied sich Nansen „[…] zu einem folgenschweren Schritt, der mich vom rechten Weg eines geruhsamen wissenschaftlichen Lebens abbrachte.“[17] Sein Dozent Robert Collett (1842–1913) schlug ihm vor, eine Expedition in arktische Gewässer zu unternehmen, um zoologische Studien aus erster Hand vornehmen zu können. Nansen griff diesen Vorschlag begeistert auf und traf Vorbereitungen zu einer Fahrt an Bord des Robbenfängers Viking unter Kapitän Axel Krefting (1850−1886), den er kurz zuvor kennengelernt hatte.[17] Die Reise begann am 11. März 1882 und dauerte fünf Monate lang. In den Wochen vor Beginn der Robbenjagd führte Nansen ozeanographische Studien durch. In experimentellen Ansätzen konnte er nachweisen, dass die Eisbildung im Meerwasser an der Oberfläche und nicht, wie bisher vermutet, in tieferen Schichten stattfindet.[18] Zudem fand er heraus, dass der warme Golfstrom unterhalb einer Schicht kalten Salzwassers verläuft.[19] Die Viking kreuzte auf der Suche nach Robbenherden zu Beginn der Fahrt in den Gewässern zwischen Grönland, Jan Mayen und Spitzbergen. Bei der Jagd erwies er sich als guter Schütze. Nansen erinnerte sich, dass seine Jagdgruppe an einem Tag 200 Robben erlegte. Im Juli wurde die Viking in Sichtweite einer bisher nicht kartierten Region der grönländischen Küste vom Packeis eingeschlossen. Ein Anlandungsversuch Nansens scheiterte.[18] Dennoch wuchs in dieser Zeit in ihm der Gedanke, das Innere Grönlands zu untersuchen oder gar die Insel über den Eisschild hinweg zu durchqueren.[14] Am 17. Juli 1882 kam die Viking aus dem Packeis frei und kehrte im August nach Norwegen zurück.[18]
Nansen nahm nach seiner Rückkehr von der Reise auf der Viking sein formelles Studium an der Universität nicht wieder auf. Anstelle dessen wurde er auf Empfehlung Colletts Kurator der zoologischen Abteilung des Bergen Museum. Insgesamt bekleidete Nansen diese Position für sechs Jahre. Während eines einjährigen Sabbaticals kam er mit so namhaften Forschern wie Gerhard Armauer Hansen, dem Entdecker des Lepraerregers,[20] und dessen Mitarbeiter Daniel Cornelius Danielssen (1815–1894) zusammen, der als Direktor des Bergen Museum dieses von einer rückständigen naturhistorischen Sammlung in eine bedeutende Forschungs- und Ausbildungseinrichtung umgewandelt hatte.[21] Nansen spezialisierte sich in dieser Zeit auf dem Gebiet der bis dahin noch nahezu unbearbeiteten Neuroanatomie. Sein besonderes Interesse galt dem Zentralnervensystem niederer mariner Chordaten (Seescheiden und Schleimaale der Art Myxine glutinosa). In einer ersten Veröffentlichung seiner Forschungsarbeiten stellte er die These auf, dass es keine gesicherten Erkenntnisse über die bis zum damaligen Zeitpunkt angenommene „Anastomose oder Vereinigungen der verschiedenen Ganglionzellen“[22] gebe. Nansens Arbeiten bildeten eine der Grundlagen für die sogenannte „Neuronentheorie“ zum Aufbau des Nervensystems, nach der die Nervenbahnen aus einzelnen Zellen bestehen, die miteinander kommunizieren. Seine Ergebnisse wurden durch die zeitgleich durchgeführten Arbeiten des Embryologen Wilhelm His und des Hirnforschers Auguste Forel bestätigt. Im Jahr 1887 veröffentlichte er die Schrift Struktur und Verbindung der histologischen Elemente des zentralen Nervensystems,[23] die er 1888 als seine Dissertation verteidigte.[24]
Durchquerung Grönlands (1888–1889)
Planung und Vorbereitung
Die Idee zur Durchquerung Grönlands entstand während Nansens Reise auf der Viking. Gebunden durch seine Tätigkeit am Bergen Museum und einen vorübergehenden Aufenthalt an der Zoologischen Station Neapel konnte er seine Pläne erst nach den abgeschlossenen Forschungen zu seiner Doktorarbeit wieder aufnehmen. Vor ihm hatten bereits Adolf Erik Nordenskiöld (1883) und Robert Peary (1886) von der an der Westküste gelegenen Diskobucht Vorstöße über eine Strecke von etwa 160 km in das Inselinnere unternommen, bevor sie umkehren mussten.[25] Im Gegensatz zu ihnen beabsichtigte Nansen, Grönland von Ost nach West zu queren. Er hielt es für ein geringeres Risiko, eine Mannschaft an der unbewohnten und aufgrund der Eisverhältnisse gefährlichen Ostküste mit dem Schiff abzusetzen, statt sie dort nach einer Durchquerung wieder aufnehmen zu müssen.[26] Zudem, so Nansens Überlegung, wäre die Mannschaft aufgrund der fehlenden Rückzugsmöglichkeiten in jedem Fall gezwungen, ihren Weg nach Westen fortzusetzen.[27] „Würden sie von Westen aus starten, […] wäre es so gut wie sicher, dass sie niemals hinüber kommen. Die Fleischtöpfe Ägyptens lägen hinter ihnen und vor ihnen die unerforschte Eiswüste […].“[28]
Nansen lehnte die übliche Praxis vorangegangener Expeditionen ab, mit einer großen Teilnehmerzahl und hohem Materialaufwand vorzugehen. Stattdessen sollte seine Mannschaft nur aus sechs Männern bestehen. Er beabsichtigte, Ausrüstung und Versorgungsgüter auf eigens dafür präparierten Schlitten zu transportieren. Ein Großteil der Ausrüstung, darunter Kleidung, Schlafsäcke und Kochutensilien, sollte nach Nansens eigenen Entwürfen angefertigt werden.[29] In der Presse wurden seine Pläne, die er im Januar 1888 in der norwegischen Zeitschrift Naturen bekanntgegeben hatte,[30] skeptisch bis ablehnend kommentiert. In einem Artikel der dänischen Zeitschrift Ny Jord hatte der Autor keinen Zweifel, „sollte Nansens Plan in der gegenwärtigen Form in die Tat umgesetzt werden, […] stehen die Chancen zehn zu eins, dass er […] sein Leben und das anderer völlig sinnlos wegwirft.“[31][32] Das norwegische Parlament verweigerte jegliche finanzielle Unterstützung in der Meinung, ein solch risikantes Vorhaben nicht noch aufwerten zu dürfen. Die notwendigen Mittel wurden durch eine Spende des dänischen Geschäftsmanns Augustin Gamél (1839–1904) sowie über eine Sammlung zusammengetragen, welche norwegische Studenten für Nansen durchgeführt hatten.[33]
Trotz der negativen öffentlichen Resonanz erhielt Nansen zahlreiche Bewerbungen für die Teilnahme an seiner Expedition.[34] Seine Hoffnung, erfahrene Skiläufer aus der Telemark rekrutieren zu können, erfüllte sich dagegen nicht.[35] Nordenskiöld riet ihm, auf die Erfahrungen der Samen aus der nordnorwegischen Finmark zurückzugreifen und so nahm Nansen zwei von ihnen, Samuel Johannesen Balto (1861–1921)[36] und Ole Nilsen Ravna (1841–1906),[37] in seine Mannschaft auf.[38] Zu den übrigen Teilnehmern gehörte der vormalige Kapitän zur See Otto Sverdrup, der zuletzt als Förster tätig war, dessen Freund, der Bauer Kristian Kristiansen Trana (1865–1943),[39] und der Armeeoffizier Oluf Christian Dietrichson (1856–1942).[40][41] Alle Expeditionsmitglieder waren abgehärtete Naturburschen, denen extreme Kälte nichts ausmachte und die überdies das Skifahren beherrschten. Unmittelbar vor Expeditionsbeginn unterzog sich Nansen der für die Anerkennung seiner Doktorarbeit erforderlichen Disputation. Er verließ Norwegen noch vor Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses.[42]
Expeditionsreise
Am 3. Juni 1888 ging Nansens Mannschaft im isländischen Ísafjörður an Bord des Robbenfängers Jason unter Kapitän Mauritz Jacobson. Am 11. Juni kam erstmals die Ostküste Grönlands in Sichtweite, doch das Vorwärtskommen wurde durch dichtes Packeis behindert. Als man sich der Küste am 17. Juli bis auf 20 km genähert hatte, bestiegen Nansen und seine Männer zwei Beiboote in der Hoffnung, über eisfreie Kanäle den Sermilikfjord bei Tasiilaq zu erreichen, der als mögliche Aufstiegsroute auf den grönländischen Eisschild in Frage kam.[43]
Laut Kapitän Jacobson verließ die Mannschaft die Jason „bei guter Laune und mit größter Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang“,[43] doch die ersten Tage waren von Fehlschlägen und Enttäuschungen geprägt. Schlechtes Wetter und eine starke Strömung trieben die Männer weit nach Süden ab. Die meiste Zeit verbrachten sie auf dem Eis, da sie in den Booten Gefahr liefen, durch Eisdruck zu kentern. Am 29. Juli befanden sich die sechs Männer rund 380 km südlich der Position, von der sie die Jason verlassen hatten. Am selben Tag erreichten sie endlich die Küste, jedoch zu weit südlich, um mit der geplanten Durchquerung beginnen zu können. Nach einer kurzen Rast beorderte Nansen die Männer, in den Booten gen Norden zu rudern.[44]
In den folgenden zwölf Tagen bahnten sie sich ihren Weg nordwärts entlang der Küstenlinie durch treibendes Eis. Bereits am ersten Tag trafen sie auf eine größere Inuit-Siedlung in der Nähe von Kap Bille (62°0'N, 42°7'W) und auch an den weiteren Tagen kam es zu gelegentlichen Begegnungen mit den Einheimischen.[45] Am 11. August hatten sie 200 km nach Norden zurückgelegt und den Umiivikfjord (64°19'N, 40°36'W) erreicht. Obwohl sie sich noch weit von ihrem geplanten Startpunkt befanden, entschied Nansen angesichts der fortgeschrittenen Jahreszeit, von hier aus mit dem Marsch zu beginnen.[46] In den folgenden Tagen wurden alle dazu notwendigen Vorbereitungen getroffen, bevor sie sich schließlich am Abend des 15. August auf den Weg machten. Ihr Ziel, die Siedlung Christianshåb in der Diskobucht, lag 600 km in nordwestlicher Richtung von ihnen entfernt.[47]
In den ersten Tagen ihres Marsches kämpften sich die Männer mit ihren Schlitten im Schlepptau in kontinuierlichem Anstieg auf tückischem Eis mit verborgenen Gletscherspalten ins Landesinnere vor. Das Wetter war überwiegend schlecht; zwischenzeitlich wurde die Mannschaft durch einen heftigen Sturm und Dauerregen gestoppt.[49] Am 26. August kam Nansen zu der Erkenntnis, dass ihre Chancen verschwindend gering waren, bis Mitte September nach Christianshåb zu gelangen, um dort das letzte Schiff für ihre Rückkreise rechtzeitig erreichen zu können. Er entschied, in nunmehr direkter westlicher Richtung Godthåb anzusteuern, das noch 150 km von ihnen entfernt lag. Nach Nansens eigener Darstellung „begrüßte [die Mannschaft] die Änderung des Plans mit Beifall.“[50] Der Aufstieg auf den Eisschild setzte sich fort, bis sie am 11. September bei nächtlichen Temperaturen von bis zu -46 °C eine maximale Höhe von 2.719 m über Meeresspiegel erreichten. Von da an wurde ihr Weg durch ein gemächliches Gefälle leichter, wenngleich das Gelände tückisch und das Wetter unangenehm blieb.[51] Ihr Vorwärtskommen wurde durch Neuschnee erschwert, der so stumpf war, als zöge man die Schlitten über Sand. Am 26. September erreichten die Männer den Ameralikfjord (64°7'N, 51°0'W). Aus Weidenruten, Teilen ihrer Zelte und eines der Transportschlitten wurde notdürftig ein Boot konstruiert, in dem Nansen allein mit Sverdrup am 29. September zur letzten Etappe ihrer Reise aufbrach.[52] Nach weiteren 100 km gelangten beide Männer schließlich am 3. Oktober nach Godthåb, wo sie vom dänischen Statthalter begrüßt wurden. Von diesem erfuhr Nansen, dass er mit dem Doktortitel ausgezeichnet worden war; eine Angelegenheit, „die in diesem Moment nicht weiter entfernt von meinen Gedanken hätte liegen können.“[53] Für den Marsch durch Grönland hatten sie 49 Tage benötigt; insgesamt waren 78 Tage vergangen, seit die Mannschaft die Jason verlassen hatte. Es wurden zwei Boote ausgesendet, um die übrigen Expeditionsteilnehmer zu holen. Am 12. Oktober waren die Männer wieder vereint. Der Herbst war inzwischen so weit fortgeschritten, dass kein Schiff mehr nach Europa fuhr. Für Nansens und Sverdrups spätere Unternehmungen stellte sich dieser Umstand als günstig heraus. Während der sieben Monate dauernden Überwinterung in Godthåb studierten sie die Lebensweise der Inuit und erlernten Techniken zum Überleben in der Arktis und zum Gebrauch von Hundeschlitten als Transportmittel.[54] Seine Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit den Inuit hielt er später im Buch Eskimoliv (deutsche Fassung: Eskimoleben)[55] fest. Am 15. April 1889 lief die Hvidbjørnen in den Hafen von Godthåb ein und Nansen und seine Männer machten sich für die Abreise bereit. „Wir verließen nicht ohne Bedauern diesen Ort und diese Menschen, unter denen wir uns so wohlfühlten.“[56] Am 30. Mai traf die Mannschaft an Bord der Hvidbjørnen, die bei der Fahrt durch den Christianiafjord von Hunderten Booten begleitet wurde, in Norwegen ein.[57]
Mit seiner Expedition konnte Nansen nachweisen, dass das gesamte Innere Grönlands von Schnee und Eis bedeckt ist. Hinzu kamen neue Erkenntnisse und Beobachtungen zur Geographie und vor allem zur Ausdehnung und Bewegung der Gletscher Grönlands; damit begründete er die moderne Gletscherforschung. Seine Messungen trugen auch zum besseren Verständnis der meteorologischen Verhältnisse und der Wetterentstehung in Europa und im nördlichen Atlantik bei.[14]
Zeit nach der Grönland-Expedition und Heirat
Nansen und seine Männer wurden in Christiania von rund 40.000 begeisterten Schaulustigen, etwa einem Drittel der Einwohner der Stadt, als Helden empfangen. Bereits im vergangenen Oktober hatte Nansen Nachrichten zum erfolgreichen Verlauf der Grönland-Expedition vom grönländischen Ivigtût nach Dänemark und Norwegen versendet. Die Begeisterung und das Interesse an den Erfolgen der Expedition führten noch im gleichen Jahr zur Gründung der Norwegischen Geographischen Gesellschaft.[58]
In der Folge nahm Nansen eine Stelle als Kurator der zoologischen Sammlung der Universität von Christiania an, die ihn zu nichts verpflichtete, aber für ein geregeltes Einkommen sorgte. Die Universität begnügte sich damit, sich mit Nansens gutem Namen schmücken zu können.[58] Seine Hauptaufgabe bestand nunmehr darin, die Ergebnisse seiner Grönlandexpedition zu veröffentlichen. Im Juni 1889 besuchte er London, wo es zu einem Treffen mit dem Prince of Wales kam und er an einer Tagung der Royal Geographical Society teilnahm. Deren Präsident, Sir Mountstuart Grant Duff (1829–1906), erklärte, Nansen habe „die führende Position unter allen Nordlandreisenden“ eingenommen, und verlieh ihm in Anerkennung seiner Verdienste die begehrte Patronatsmedaille der Gesellschaft. Dies war nur eine von vielen Auszeichnungen, die Nansen in ganz Europa erhielt.[59] Aus Australien wurde ihm das Angebot zur Teilnahme an einer Antarktisexpedition unterbreitet. Er schlug es jedoch in der Überzeugung aus, Norwegens Interessen besser zu vertreten, wenn er das Ziel verfolgt, den Nordpol zu erreichen.[60]
Am 11. August 1889 gab Nansen die Verlobung mit Eva Sars (1858–1907), der Tochter des norwegischen Zoologen Michael Sars, bekannt.[61] Sie und Nansen hatten sich einige Jahre zuvor beim Skifahren in Frognerseteren unweit des Holmenkollen kennengelernt.[59] Eva war neben ihrer Leidenschaft für das Skifahren nach ihrer Ausbildung bei Désirée Artôt eine gefeierte Mezzosopranistin. Die Verlobung kam für viele Zeitgenossen überraschend, da Nansen sich zuvor noch als Gegner der Institution Ehe gezeigt hatte. Otto Sverdrup glaubte, als er die Nachricht erhielt, sie falsch verstanden zu haben. Die Hochzeit fand bereits kurz nach der Verlobung am 6. September 1889 statt.[61] Aus der gemeinsamen Ehe gingen fünf Kinder hervor: Liv (1893–1959), Kåre (1897–1964), Irmelin (1900–1977), Odd (1901–1973) und Asmund (1903–1913).[62]
Fram-Expedition (1893–1896)
Hintergrund und Vorbereitungen
Bereits vor seiner Grönland-Expedition entstand bei Nansen die Idee zu einer Forschungsreise, während deren der Nordpol mit Hilfe der natürlichen Eisdrift im Arktischen Ozean erreicht werden sollte. Den Hintergrund lieferten im Jahr 1883 Funde von Wrackteilen des zwei Jahre zuvor vor der Nordküste Sibiriens gesunkenen US-amerikanischen Kriegsschiffs USS Jeannette an der Südwestküste Grönlands. Auf deren Grundlage entwickelte der norwegische Meteorologe Henrik Mohn (1835–1916) die Theorie einer „Transpolaren Eisdrift“, nach der die Wrackfunde der Jeannette einen Hinweis für eine westliche Meeresströmung durch den gesamten Arktischen Ozean lieferten. Nansen seinerseits glaubte, dass die durch die Meeresströmung verursachte Eisdrift es einem speziell dafür entworfenen Schiff ermögliche, im Packeis eingeschlossen in die Nähe des Nordpols zu gelangen.[63] Seine Pläne, die er im Februar 1890 vor der Norwegischen Geographischen Gesellschaft offenlegte und die in der Fachwelt überwiegend auf Skepsis und Ablehnung stießen,[64][65] sahen vor, mit dem Expeditionsschiff und einer kleinen, gut ausgebildeten Mannschaft bis zu den Neusibirischen Inseln vorzudringen, dort das Schiff einfrieren zu lassen und es nachfolgend für den weiteren Reiseweg nach Norden der Eisdrift auszusetzen.[66]
Nachdem ihm die norwegische Regierung, öffentliche Institutionen und private Sponsoren ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stellten,[67] ließ Nansen nach Plänen des norwegischen Konstrukteurs Colin Archer zwischen Juni 1891 und Oktober 1892 das Expeditionsschiff Fram erbauen. Durch die spezielle Rumpfkonstruktion mit ovalem Querschnitt sowie weitere technische Besonderheiten sollte sichergestellt werden, dass das Schiff im Packeis nicht beschädigt wird, sondern „wie ein Aal aus der Umklammerung des Eises entschlüpfen kann.“[68]
Zur dreizehnköpfigen Mannschaft gehörten neben Nansen der Veteran der Grönland-Expedition Otto Sverdrup als Kapitän der Fram, der Steuermann Theodor Jacobsen (1855–1933), der Meteorologe Sigurd Scott-Hansen (1868–1937), der Schiffsarzt Henrik Blessing (1866–1918),[69] der Schiffskoch Adolf Juell (1860–1909),[70] der Leitende Ingenieur Anton Amundsen (1853–1909)[71] und dessen Stellvertreter Lars Pettersen (1860–1898), der Mechaniker Ivar Mogstad (1856–1928), der Harpunier Peter Henriksen (1859–1932), der Elektriker Bernhard Nordahl (1862–1922)[72] sowie der Heizer Fredrik Hjalmar Johansen und der mit keiner spezifischen Aufgabe betraute Bernt Bentzen (1860–1899).[73]
Fahrt zu den Neusibirischen Inseln und Eisdrift
Nachdem Schiff und Mannschaft am 24. Juni 1893 unter Hochrufen Tausender Schaulustiger und mit Salutschüssen der Kanonen der Festung Akershus in Christiania verabschiedet wurden, verließ die Fram am 21. Juli 1893 Vardø, den letzten norwegischen Zwischenhafen, dem Kurs von Nordenskiölds Nordostpassage folgend in die östliche Barentsee. Nach Zwischenstationen auf Nowaja Semlja und an der nordwestrussischen Küste, wo eine erste Gruppe Schlittenhunde aufgenommen wurde, drang das Schiff am 4. August in die Karasee vor. In dem bis dahin kaum erschlossenen Gebiet wurde am 18. August im Bereich der Mündung des Jenissei eine bisher unbekannte Insel entdeckt und Sverdrup-Insel (russisch: Остров Свердрупа; transkr.: Ostrow Swerdrupa; 74°33'N, 79°27'O) nach dem Kapitän der Fram benannt.[74][75] Der nordsibirischen Küstenlinie folgend erreichte die Fram bei schwierigen Eisverhältnissen und schlechter Sicht Ende August das nördliche Ende der Taimyrhalbinsel.[76] Nachdem das Schiff zwischenzeitlich im Packeis gefangen war, öffnete sich am 9. September 1893 eine breite, eisfreie Rinne. Die Fram umrundete als erstes Schiff nach Nordenskiölds Vega im Jahr 1878 Kap Tscheljuskin, den nördlichsten Festlandpunkt des eurasischen Kontinents, und fuhr in die Laptewsee ein.[75]
Dichtes Packeis verhinderte eine Fahrt zur Mündung des Olenjok, wo Nansen eine zweite Gruppe von Schlittenhunden an Bord nehmen wollte. Folglich wurde nunmehr ein nordöstlicher Kurs in Richtung der Neusibirischen Inseln eingeschlagen. Nansens Hoffnung, auf freies Wasser bis zu einer nördlichen Breite von 80° zu treffen, zerschlug sich am 20. September, nachdem noch südlich des 78. Breitengrades Eis gesichtet wurde. Am 5. Oktober schließlich wurde das Schiff, nachdem es vollständig vom Packeis eingeschlossen war, bei 78°49'N, 132°53'O „gründlich und gewissenhaft für den Winter festgemacht.“[77][78]
Die Eisdrift erwies sich zunächst als ein ernüchterndes Unterfangen, da weder die Driftrichtung noch die -geschwindigkeit den Berechnungen Nansens entsprachen. Am 19. November befand sich das Schiff nach sechswöchiger Eisdrift sogar auf einer südlicheren Breite als zu Beginn.[79] Dies schlug sich auch auf die Moral der Besatzung nieder. Die Männer waren gereizt und von Zeit zu Zeit kam es sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.[80] Erst zum Jahreswechsel 1893/1894 bewegte die Eisdrift das Schiff in eine konstantere nördliche Richtung. Am 2. Februar wurden schließlich 80° nördliche Breite überquert.[81] Aufgrund der unvorhersehbaren Driftrichtung und der geringen Driftgeschwindigkeit errechnete Nansen, dass es bis zu fünf Jahre dauern könnte, bis das Schiff auf diese Weise den Nordpol erreicht.[82] Am 19. Mai 1894, zwei Tage nach der Feier zum norwegischen Verfassungstag, erreichte die Fram 81° nördliche Breite. Zwar hatte sich die Driftgeschwindigkeit offenkundig geringfügig erhöht, betrug aber nach wie vor deutlich weniger als 2 km pro Tag. Mit der zunehmenden Überzeugung, dass der Nordpol nur per Hundeschlitten erreicht werden könne, ließ Nansen im September die Männer täglich zwei Stunden mit den Skiern trainieren. Am 16. November 1894 gab er seine Absichten der Mannschaft bekannt: Er selbst und ein Begleiter würden das Schiff verlassen, sobald eine nördliche Breite von 83° erreicht war. Nachdem sie den Nordpol erobert hätten, würden sich die beiden Männer auf den Rückweg nach Franz-Josef-Land und schließlich nach Spitzbergen begeben, um dort von der Fram für die Heimreise aufgenommen zu werden. Drei Tage nach dieser Bekanntgabe bat Nansen den erfahrensten Hundeführer seiner Mannschaft, Fredrik Hjalmar Johansen, ihn auf dieser Reise zu begleiten.[83] In den folgenden Monaten wurden die für den Marsch notwendigen Vorbereitungen getroffen, die Ausrüstung getestet und verbessert und der Umgang mit den Schlittenhunden trainiert.[84] Am 8. Januar erreichte die Fram eine Breite von 83°34'N, womit der alte Nordrekord von Adolphus Greely (83°23,8′N) vom 13. Mai 1882 gebrochen wurde.[85]
Nachdem Nansen und Johansen im März 1895 zu ihrem Marsch aufgebrochen waren, setzte die restliche Mannschaft unter der Leitung von Otto Sverdrup die Drift mit der Fram fort. Diese dauerte bis zum 13. August 1896, als das Schiff mit einer Salve der Bordkanone nordwestlich von Spitzbergen ins offene Wasser gelangte.[86] Nansens ursprüngliche Annahme über die Richtung der Eisdrift hatte sich damit bestätigt.[87] Das Schiff lief zunächst Spitzbergen an, wo der schwedische Polarforscher Salomon August Andrée gerade seine Fahrt zum Nordpol im Wasserstoffballon vorbereitete. Über den Verbleib von Nansen und Johansen war zu diesem Zeitpunkt nichts bekannt. Nach einem kurzen Landaufenthalt kehrte die Mannschaft daher mit der Fram nach Norwegen zurück.[86]
Marsch Richtung Nordpol und Rückzug nach Franz-Josef-Land
Am 14. März 1895, als die Fram eine Breite von 84°4'N erreicht hatte, brachen Nansen und Johansen im dritten Anlauf mit zwei Kajaks, drei Transportschlitten und 28 Schlittenhunden zu Fuß zum Nordpol auf.[88][89] Nansen hatte festgelegt, die fehlenden 660 km bis zum Nordpol innerhalb von 50 Tagen zu bewältigen, was einem Tagespensum von 13 km entsprach. Nachdem beide Männer die ersten 120 km mit einem Tagespensum von 17 km zurückgelegt hatten, wurde das Gelände zunehmend uneben, was das Vorwärtskommen auf Skiern erschwerte und ihre Reisegeschwindigkeit herabsetzte. Zudem ergaben Positionsbestimmungen mittels Theodolit und Sextant, dass sie gegen eine südliche Eisdrift anmarschierten und dass die täglich zurückgelegten Strecken sie nicht zwangsläufig ihrem Ziel näher brachten.[90] Auch die Kälte mit Temperaturen von -40 °C setzte ihnen zu. Aus Johansens Tagebuch geht die steigende Mutlosigkeit beider Männer zu diesem Zeitpunkt hervor: „Alle meine Finger sind zerstört. Die Handschuhe sind steifgefroren … Es wird schlimmer und schlimmer … Gott weiß, was aus uns wird.“[91] Nachdem sie ihr Lager am 7. April aufgeschlagen hatten, unternahm Nansen einen Erkundungsgang für ihren weiteren Weg nach Norden, doch das Einzige was er sah, war „ein wahres Durcheinander von Eisblöcken, das sich bis zum Horizont erstreckt.“[92] Die letzte Positionsbestimmung am 8. April ergab eine nördliche Breite von 86°13,6', womit Greelys alter Nordrekord um fast drei Breitengrade übertroffen wurde.[93] Nansen entschied, nicht weiterzugehen und stattdessen Kap Fligely auf Franz-Josef-Land anzusteuern.
Auf den ersten Etappen kamen Nansen und Johansen zügig voran, wahrscheinlich weil sie nun parallel zu den Verwerfungen im Eis unterwegs waren statt direkt auf sie zuzulaufen.[94] Nansen notierte am 13. April 1895: „Wenn es so weitergeht, wird der Rückweg schneller beendet sein, als ich gedacht habe.“[95] Diese Hoffnung sollte sich jedoch nicht erfüllen. Auf ihrem weiteren Weg bekam die Eisdrift eine nordwestliche Richtung, wodurch sie am 18. April, elf Tage nach ihrem Aufbruch vom nördlichsten Punkt ihres Marsches, gerade einmal 74 km nach Süden zurückgelegt hatten.[96] Zudem wurde das Gelände zunehmend brüchig mit ausgedehnten Bereichen offenen Wassers. Die am 9. Mai ermittelte Breite von 84°3'N war enttäuschend, da Nansen gehofft hatte, dass sie sich inzwischen sehr viel weiter südlich aufhielten.[97] Seit dem 24. April hatten sie damit begonnen, in regelmäßigen Abständen einen Teil ihre Schlittenhunde zu töten, damit diese den anderen als Nahrung dienten. Anfang Juni waren von den ursprünglich 28 Tieren nur noch sieben übrig. Nachdem sie sich nach einer zwischenzeitlichen Rast auf einer Eisscholle am 23. Juli wieder auf den Weg machten, erhaschte Nansen am folgenden Tag einen flüchtigen Blick auf Land. Er schrieb: „Endlich ist das Wunder eingetreten – Land, Land, nachdem wir schon fast den Glauben daran verloren hatten!“[98] Am 6. August erreichten sie die Eiskante; eine offene Wasserfläche trennte sie vom direkten Zugang zum Land. Sie töteten ihre letzten Hunde, bauten ihre Kajaks mittels der Schlitten und Skier zu einem Katamaran um und setzen Segel für die Überfahrt.[99]
Nansen nannte die erste Insel, die sie ansteuerten, Hvidtenland (norwegisch für Weißes Land),[100] das in heutigen Karten als Eva-Liv-Insel (russisch: Остров Ева-Лив; transkr.: Ostrov Yeva-Liv) geführt wird. Er war sich jedoch nicht sicher, ob sie sich wirklich auf einer vorgelagerten Insel von Franz-Josef-Land befanden. Am 16. August identifizierte Nansen mit einigem Zögern eine Landspitze als Kap Felder, welches auf der Karte Julius von Payers an der Westküste von Franz-Josef-Land zu finden war.[101] Das Ziel lautete nun, den sogenannten Eira Harbour am südwestlichen Ende des Archipels und dort eine Hütte mit Versorgungsgütern zu erreichen, die von der britischen Arktisexpedition (1880–1882) unter Benjamin Leigh Smith errichtet worden war. Wechselnde Winde und treibendes Eis gefährdeten jedoch die Weiterfahrt in den Kajaks, so dass Nansen am 28. August entschied, aufgrund des nahenden Polarwinters an der Südwestküste der später als Jackson-Insel (russisch: Остров Джексона; transkr.: Ostrow Dscheksona) bekannten Insel ein Winterlager aufzuschlagen, um dort bis zum kommenden Frühjahr zu warten.[102] Ihr Aufenthalt in einem notdürftig errichteten Quartier, das sie kurz „Das Loch“ nannten, dauerte acht Monate.
Rettung und Heimkehr
Am 19. Mai 1896 setzten Nansen und Johansen ihren Weg fort.[103] Für mehr als zwei Wochen folgten sie der Küstenlinie südwärts. Erneut schien keine Landmarke mit ihrer Karte von Franz-Josef-Land übereinzustimmen und Nansen begann sich zu fragen, ob sie sich möglicherweise auf bisher unkartiertem Gebiet zwischen Franz-Josef-Land und Spitzbergen befanden. Durch eine Wetteränderung am 4. Juni konnten sie ihren Weg erstmals seit dem Aufbruch vom Winterlager in den Kajaks fortsetzen.
Am 17. Juni glaubte Nansen, das Gebell von Hunden zu hören. Nur wenig später vernahm er Stimmen und erblickte schließlich eine menschliche Gestalt.[104] Es handelte sich dabei um Frederick George Jackson, der sich auf einer eigenen Expedition nach Franz-Josef-Land befand und sein Hauptquartier am Kap Flora auf der Northbrook-Insel, der südlichsten Landmasse der Inselgruppe, aufgeschlagen hatte.[104] Dort warteten Nansen und Johansen in den nächsten sechs Wochen auf das Eintreffen von Jacksons Versorgungsschiff Windward. Am 26. Juli traf die Windward schließlich am Kap Flora ein. Am 7. August segelte das Schiff mit Nansen und Johansen an Bord Richtung Norwegen. Vardø wurde am 13. August 1896 erreicht und Nansen verschickte zahlreiche Telegramme über seine sichere Rückkehr.[105] Am 18. August trafen Nansen und Johansen an Bord eines Postschiffes in Hammerfest ein, wo ihnen ein begeisterter Empfang bereitet wurde. Zwei Tage später erhielt Nansen die Nachricht, dass Sverdrup mit der Fram wohlbehalten in Skjervøy eingetroffen war und die Fahrt nach Tromsø fortsetzte.[106] Dort kam es am 21. August 1896 zu einem überschwänglichen Wiedersehen zwischen Nansen, Johansen und den übrigen Expeditionsteilnehmern.[107] Nach einigen Tagen der Erholung verließ die Mannschaft an Bord der Fram Tromsø am 26. August. Auf ihrer Rückfahrt wurden sie in jedem Zwischenhafen begeistert empfangen. Bei der Ankunft in Christiania am 9. September wurde die Fram durch ein Geschwader von Kriegsschiffen in den Hafen geleitet und von der größten Menschenmenge, die die Stadt bis dahin gesehen hatte, frenetisch umjubelt.[108] Aus aller Welt trafen Glückwünsche ein. So schrieb beispielsweise der britische Bergsteiger Edward Whymper, Nansen habe mit seiner Expedition „[…] beinahe den gleichen Fortschritt erreicht, wie alle übrigen Forschungsreisen des 19. Jahrhunderts zusammen.“[109] Ein Jahrhundert nach dieser Expedition bezeichnete der britische Polarforscher Wally Herbert die Reise der Fram als „eines der begeisterndsten Beispiele für wagemutige Klugheit in der Geschichte der Forschungsreisen.“[110]
Obwohl das Hauptziel der Expedition, den geographischen Nordpol erstmals zu erreichen, verfehlt wurde, lieferte sie dennoch bedeutende geographische Entdeckungen und allgemeinwissenschaftliche Erkenntnisse. Dazu trugen insbesondere auch die während der Eisdrift der Fram durchgeführten meteorologischen und ozeanographischen Beobachtungen bei. Durch Nansens Beobachtungen wurde erstmals deutlich, dass es in den Eiswüsten sehr viel mehr Tierarten gibt, als man ursprünglich annahm. Die von Henrik Mohn aufgestellte Theorie der „Transpolaren Eisdrift“ wurde bestätigt. Zudem wurde erstmals erkannt, dass der Nordpol weder auf Land noch auf einem dauerhaften Eisschild, sondern inmitten einer Zone beweglichen Packeises liegt.[111] Der Arktische Ozean stellte sich nachweislich als ein Tiefseebecken ohne nennenswerte Landmassen nördlich des eurasischen Kontinents dar, da diese die beobachtete Eisdrift ansonsten behindert hätten.
Nansens erste Aufgabe nach Rückkehr der Expedition war die Veröffentlichung eines Reiseberichts. Dies geschah in enormem Tempo. Bereits im November 1896 war die norwegische Fassung seines Buches fertig, das 1897 unter dem Titel In Nacht und Eis als deutschsprachige Ausgabe[112] und in englischer Sprache unter dem Titel Farthest North erschien. Er scheute sich nicht, darin auch Kritiker zu Wort kommen zu lassen. Das Buch enthielt eine durch Nansen unkommentierte und vorab im Magazin Harper’s Weekly veröffentlichte Anmerkung Adolphus Greelys, der in scharfer Form Nansens vermeintliche Pflichtverletzung kritisierte, beim Verlassen der Fram die anderen Expeditionsteilnehmer Hunderte von Kilometern von sicherem Land entfernt auf sich allein gestellt ihrem Schicksal überlassen zu haben: „Es ist nicht nachvollziehbar, warum Nansen so sehr von der heiligsten Pflicht abweichen konnte, die einem Kommandanten einer Expedition zur See übertragen wird.“[113] Das Buch wurde ein großer Erfolg und machte Nansen finanziell unabhängig.[114]
Akademische Karriere
Professur und weitere Forschungsreisen
Während der nun folgenden 20 Jahre verschrieb sich Nansen vorwiegend seiner Tätigkeit als Wissenschaftler. Im Jahr 1897 wurde er als Professor für Zoologie an die Universität von Christiania berufen.[115] Hierdurch bestand für ihn ausreichend Möglichkeit, sich an die Auswertung und Veröffentlichung der wissenschaftlichen Daten der Fram-Expedition zu begeben. Dies wurde für ihn eine weitaus beschwerlichere Aufgabe als die Erstellung seines Buches. Die Ergebnisse umfassten sechs Bände und bedeuteten nach der späteren Darstellung des Polarforschers Robert Neal Rudmose-Brown (1879–1957) „[…] für die Ozeanographie der Arktis das, was die Ergebnisse der Challenger-Expedition für die Ozeanographie der anderen Weltmeere [darstellen].“[116] Im Jahr 1900 wurde Nansen Direktor eines in Christiania ansässigen internationalen Gremiums für die Erforschung der Nordsee und war bei der Gründung des Internationalen Rates für Meeresforschung behilflich. In letzterer Funktion nahm er an einer Forschungsreise nach Island und Jan Mayen an Bord des Schiffes Michael Sars teil, das nach seinem Schwiegervater benannt worden war. Kurz nach seiner Rückkehr von dieser Reise erfuhr Nansen, dass sein Nordrekord bei 86°13,6'N vom 8. April 1895 von einer dreiköpfigen Gruppe um den italienischen Polarforscher Umberto Cagni am 24. April 1900 im Versuch, den Nordpol von Franz-Josef-Land aus zu erreichen, mit 86°34'N gebrochen worden war. Seine Reaktion fiel nüchtern aus: „Was nützen einem erreichte Ziele nur um ihrer selbst wegen? Sie alle verschwinden…es ist nur eine Frage der Zeit.“[117]
Nansens Familie war nach der Geburt der Töchter Liv und Irmelin sowie der beiden Söhne Kåre und Odd zwischen 1893 und 1901 bedeutend angewachsen. Das Haus, das Nansen 1891 aus den Erlösen seines Buches zur Grönland-Expedition erbaut hatte,[118] wurde zu klein. Er erwarb ein Grundstück im Westen von Christiania und ließ dort nach eigenen Entwürfen ein imposantes Herrenhaus mit Stilelementen der Renaissance errichten. Im April 1902 war das Anwesen Polhøgda (zu deutsch: Die polaren Höhen) bezugsfertig und es blieb Nansens Zuhause bis zu seinem Tod. Auf Polhøgda wurde 1903 Nansens jüngster Sohn Asmund geboren.[119]
Nansens Forschungsschwerpunkt hatte sich inzwischen vollständig auf das Gebiet der Ozeanographie verlagert.[120] 1905 stellte er dem schwedischen Physiker Vagn Walfrid Ekman die während der Fram-Expedition erhobenen ozeanographischen Daten zur Verfügung. Ekman erkannte anhand der Driftrichtung der Fram, dass die Meeresströmung von der vorherrschenden Windrichtung in einer charakteristischen Weise abwich, die er als „Korkenzieherströmung“ bezeichnete und die als erster Nachweis für die durch die Erdrotation verursachte Corioliskraft gilt.[121] Am 1. Mai 1908 gab Nansen seine Lehrtätigkeit in der Zoologie auf und wurde Professor für Ozeanographie. Im Jahr 1909 veröffentliche er gemeinsam mit Bjørn Helland-Hansen eine Schrift, in der er unter anderem die Ergebnisse der Forschungsreise mit der Michael Sars neun Jahre zuvor auswertete.[122] Zwischen 1910 und 1914 nahm er an einigen ozeanographischen Expeditionsfahrten teil. 1910 führte ihn eine Reise mit dem Schiff Fridtjof in den Nordatlantik.[123] Im Jahr 1912 fuhr er an Bord seiner eigenen Yacht Veslemøy zur Bäreninsel und nach Spitzbergen, um dort Untersuchungen zum Salzgehalt des Meerwassers durchzuführen.[124] Hierzu entwickelte Nansen bereits um 1910 einen speziellen Probenahmebehälter, der später als Nansenflasche bekannt wurde. Unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs begleitete er Helland-Hansen auf einer Reise in den nordöstlichen Atlantik.[125]
Das Jahr 1913 war von zwei Schicksalsschlägen geprägt: Im Januar nahm sich sein alter Gefährte Fredrik Hjalmar Johansen das Leben und im März starb sein jüngster Sohn Asmund nach langer Krankheit.[124] Im Sommer nahm Nansen als Teil einer Delegation zur Erkundung neuer Handelswege von Westeuropa nach Sibirien an einer Reise in die Karasee teil. Diese führte ihn entlang des Jenissei nach Krasnojarsk, um dann mit der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Wladiwostok vorzustoßen. Fast nebenbei lieferte er dabei den Nachweis der ehemaligen Vergletscherung des Westsibirischen Tieflandes. Während dieser Reise entwickelte Nansen auch eine tiefe Sympathie zum russischen Volk, was sein späteres Leben nachhaltig beeinflussen sollte.[126]
Leitfigur der Polarforschung
Nansen wurde zu einer lebenden Legende stilisiert. Alle angehenden Forschungsreisenden in die Arktis und Antarktis suchten in den Jahren nach der Fram-Expedition seinen Rat. Zu ihnen gehörten der Herzog der Abruzzen, dessen Mitstreiter Umberto Cagni schließlich Nansens Nordrekord brach, und Adrien de Gerlache de Gomery, der während seiner Belgica-Expedition (1896–1899) die erste Überwinterung in der Antarktis durchstand.[127] Seinem Landsmann Carsten Egeberg Borchgrevink verweigerte Nansen dagegen jegliche Unterstützung, da er ihn für einen Betrüger hielt.[128] Auch Ernest Shackleton und Robert Falcon Scott stand Nansen beratend zur Seite. Nansens nachdrückliche Bemühungen, beide Expeditionsleiter zum Einsatz von Schlittenhunden zu bewegen, wurden von diesen diskret überhört. Nach Meinung einiger Historiker verhinderte diese Ignoranz Shackletons Triumph der Südpoleroberung während der Nimrod-Expedition (1907–1909)[129] und kostete Scott bei der Terra-Nova-Expedition (1910–1913) das Leben.[130] Nansen hatte auch selbst Überlegungen zu einer Südpolexpedition angestellt und bereits Colin Archer mit der Erstellung von Plänen für zwei neue Expeditionsschiffe beauftragt, doch letztlich wurde aus unterschiedlichen Gründen nichts davon in die Tat umgesetzt.[131] So überließ er Roald Amundsen die Fram für dessen ursprünglich als Nordpolexpedition geplante Forschungsreise. Amundsen änderte jedoch insgeheim seine Pläne, nachdem Frederick Cook seinen Anspruch auf die Eroberung des Nordpols geltend machte, und unternahm mit seiner Antarktisexpedition (1910–1913) im Wettstreit gegen Robert Falcon Scott den „Angriff“ auf den Südpol. Auch wenn Nansen in diese hochumstrittene Entscheidung nicht eingeweiht war, verteidigte er sie dennoch vehement gegen Angriffe von dritter Seite.[132] Im Auftrag der Royal Geographical Society verfasste er ein zweibändiges Werk zur Geschichte der Nordlandexpeditionen, das 1911 unter dem Titel In Northern Mists[133] erschien.[123] In dieser Zeit wurde dem inzwischen verwitweten und als Frauenheld im Verdacht stehenden Nansen eine kurze Affäre mit Kathleen Scott nachgesagt.[134] Seine letzte Verbindung zur Polarforschung war die Gründung der Internationalen Studiengesellschaft zur Erforschung der Arktis mit Luftfahrzeugen (Aeroarctic) im Jahr 1924; bis zu seinem Tod war er ihr Präsident.
Politische Karriere
Verfechter der Unabhängigkeit Norwegens
Die seit 1814 existierende Personalunion mit Schweden war in Norwegen spätestens seit den 1890er Jahren trotz friedlicher Koexistenz beider Länder im Zuge aufkeimender nationalistischer Strömungen und im Wunsch nach politischer Eigenständigkeit heftig umstritten.[135] Obwohl Nansen zu diesem Zeitpunkt keine Karriere in der Politik anstrebte, so vertrat er dennoch offensiv norwegische Interessen bei jeder sich bietenden Gelegenheit.[136] Nachdem sich zunächst eine Einigung zwischen beiden Ländern abzeichnete, wurden alle Verhandlungen über den zukünftigen Status Norwegens im Februar 1905 abgebrochen. Die amtierende norwegische Regierung unter Ministerpräsident Francis Hagerup trat daraufhin zurück. Die Politik seines Nachfolgers Christian Michelsen war auf die vollständige Separation Norwegens von Schweden ausgelegt.[135] Nansen hatte sich in einigen Zeitungsartikeln offen zur Separationsbewegung der neuen Regierung bekannt, lehnte aber Michelsens Angebot ab, ein Ministeramt in dessen Kabinett zu übernehmen.[137] Auf Bitte Michelsens fuhr Nansen nach London, wo er in einem Artikel in der Times das Anliegen seines Landes bekräftigte, zukünftig durch eigene Konsulate international vertreten zu werden. Zudem sollte die Veröffentlichung seines Buches Norwegen und die Union mit Schweden[138] (im Original: Norge og foreningen med Sverige)[139] die Diskussion über Norwegens politische Unabhängigkeit insbesondere im Ausland fördern.[140] Am 17. Mai 1905, dem norwegischen Nationalfeiertag, sagte Nansen während einer leidenschaftlich vorgetragenen Rede vor einer großen Menschenmenge in Christiania: „Nun sind alle Wege des Rückzugs versperrt. Nun gibt es nur noch einen Weg, den Weg nach vorn, möglicherweise verbunden mit Schwierigkeiten und Nöten, aber vorwärts für unser Land, für ein freies Norwegen.“[141]
Die politische Situation spitzte sich im Frühsommer 1905 zu. Oscar II. verweigerte seine Zustimmung zum Inkrafttreten eines vom Storting beschlossenen Gesetzes über die eigenständige diplomatische Vertretung Norwegens im Ausland. Auch der anschließende Rücktritt der norwegischen Regierung wurde von ihm nicht akzeptiert. Daraufhin beschloss das norwegische Parlament am 7. Juni die einseitige Aufkündigung der Personalunion.[135] Die schwedische Seite erklärte sich bereit, die Norwegische Frage in Form eines Referendums beantworten zu lassen. In der am 13. August durchgeführten Abstimmung befürwortete 99,5 % der Norweger die Trennung von Schweden.[142] Oscar II. dankte daraufhin als norwegischer König ab.[135] In einem zweiten Referendum stimmten die Norweger im November 1905 für die Beibehaltung der Monarchie. Kurz darauf reiste Nansen in geheimer Mission nach Kopenhagen und konnte dort Carl von Glücksburg, Prinz von Dänemark, zur Annahme der norwegischen Krone bewegen.[143] Nach der gemeinsamen Krönung mit seiner Gattin Maud am 22. Juni 1906 im Nidarosdom von Trondheim wurde er als Haakon VII. erster König des unabhängigen Norwegen.[135]
Im April 1906 wurde Nansen der Botschafter Norwegens in London.[144] Seine Hauptaufgabe war, mit den anderen europäischen Vertretern ein Vertragswerk für die Bestandsgarantie der Souveränität Norwegens auszuhandeln.[145] Nansen genoss große Popularität in England und pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu König Edward VII. Andererseits waren ihm die Gepflogenheiten am englischen Hof und seine Amtspflichten zuwider. Er selbst nannte sie „schamlos und langweilig“.[144] Seine Stellung erlaubte es ihm jedoch auch, seinen wissenschaftlichen Interessen durch Kontakte mit der Royal Geographical Society und anderen Gelehrten nachzugehen. Nachdem der Vertrag am 2. November 1907 unterzeichnet wurde, trat Nansen am 15. November entgegen den Bitten König Edwards und anderer Honoratioren vom Amt des Botschafters zurück.[146] Kurze Zeit später ereilte Nansen als Gast des Königs auf Schloss Sandringham die Nachricht, dass seine Frau Eva an einer schweren Lungenentzündung erkrankt war. Am 8. Dezember kehrte Nansen nach Norwegen zurück, doch noch vor der Ankunft auf Polhøgda erfuhr er von ihrem Tod.[147]
Staatsmann und humanitäre Leistungen
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärte Norwegen gemeinsam mit Schweden und Dänemark seine Neutralität. Nansen wurde zum Präsidenten der weithin bedeutungslosen Nordischen Verteidigungsunion ernannt, was nur wenige Verpflichtungen mit sich brachte, so dass er sich vorwiegend seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten widmen konnte.[125] Im weiteren Verlauf des Krieges wurde die Situation in Norwegen durch die Blockade wichtiger internationaler Handelswege bedrohlich. Die Lage verschärfte sich nach dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1917. Als Sonderbotschafter erwirkte Nansen nach monatelangen Verhandlungen in Washington, dass die USA Getreide und weitere Versorgungsgüter an Norwegen lieferten, wodurch eine drohende Hungersnot abgewendet wurde. Dabei setzte er sich über seine Regierung hinweg, die angesichts der geforderten Gegenleistungen in Form von Rationierungsmaßnahmen bei der Vertragsunterzeichnung zögerte.[148]
Wenige Monate nach Kriegsende wurde während der Pariser Friedenskonferenz 1919 auf Grundlage des 14-Punkte-Programms des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson ein vorläufiges Abkommen zur Gründung des Völkerbundes getroffen, um zukünftige internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln schlichten zu können.[149] Durch Nansens Initiative wurde Norwegen 1920 Vollmitglied und eines von dreizehn ständigen Mitgliedern des Exekutivkomitees. Er selbst leitete die norwegische Delegation.[150][151] Im selben Jahr kümmerte er sich im Auftrag des Völkerbundes weltweit um die Heimkehr von Kriegsflüchtlingen und -gefangenen. Als Nansen dem Völkerbund im November 1920 die erfolgreiche Rückverbringung von 200.000 Kriegsheimkehrern vermelden konnte, schrieb er: „Niemals in meinem Leben zuvor bin ich auf ein so gewaltiges Leid gestoßen.“[152] Bis zum Jahr 1922 sorgte Nansen insbesondere durch die Einführung des Nansen-Passes für die Heimkehr von insgesamt 427.886 Menschen aus rund 30 Ländern. Zu den bekanntesten Trägern dieses Passes gehörten Marc Chagall, Igor Strawinski und Anna Pawlowa.[153] In Anerkennung seiner Arbeit schrieb das verantwortliche Komitee des Völkerbundes, Nansens Leistungen „enthalten Geschichten heldenhaften Strebens, die denen seiner Durchquerung Grönlands oder der großen Arktisreise würdig sind.“[154]
Noch vor Ende seines Engagements wurde er durch Vermittlung Philip Noel-Bakers zum Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes ernannt.[155] In dieser Funktion bemühte sich Nansen um die Wiederansiedlung von etwa zwei Mio. Flüchtlingen der Russischen Revolution (1917) und des nachfolgenden Bürgerkriegs (1917–1920). Erschwert wurde seine Arbeit durch die Hungersnot, die das Land 1921 nach einer Reihe von Fehlernten erfasste. Da der Völkerbund trotz Nansens Plädoyer für eine Hungerhilfe der Regierung der Sowjetunion misstraute, war er in erster Linie auf Spenden privater Organisationen angewiesen.[156] Auf Ersuchen des Internationalen Roten Kreuzes eröffnete er in Moskau ein Büro für Hilfsaktionen, welche die Hungersnot jedoch nur beschränkt eindämmen konnten. In Verbitterung darüber notierte er:
„In vielen Ländern diesseits und jenseits des Atlantiks gab es einen solchen Überfluss an Mais, dass die Bauern gezwungen waren, ihn in den Kesseln der Eisenbahnen zu verbrennen. Zur selben Zeit lagen Schiffe in Europa untätig vor Anker, weil es keine Fracht gab, [und] Tausende, nein Millionen waren arbeitslos. All dies, während man 30 Millionen Menschen in der Wolga-Region, nicht weit entfernt und durch unsere Schiffe leicht erreichbar, hungern und sterben ließ.“[157]
Nach dem Ende des Griechisch-Türkischen Krieges (1919–1922) reiste Nansen nach Konstantinopel, um über die Rückkehr der in der Mehrzahl griechischen Flüchtlinge zu verhandeln. Diese Verhandlungen führten zu einer bis heute kontrovers diskutierten, doch letztlich erfolgreich durchgeführten Zwangsumsiedlung Hunderttausender Türken und Griechen in ihre jeweiligen Stammländer, die sich über mehrere Jahre erstreckte.[158] Im November 1922 erfuhr Nansen während einer Konferenz in Lausanne, dass ihm der Friedensnobelpreis verliehen wurde, den er am 10. Dezember 1922 „[…] für seine Arbeit zur Rückführung von Kriegsgefangenen, seine Arbeit für die russischen Flüchtlinge, seine Bemühungen zur Hilfe Millionen vom Hunger bedrohter Russen und schließlich seine gegenwärtige Arbeit für die Flüchtlinge in Kleinasien und Thrakien“ entgegennahm.[159] Das gesamte Preisgeld spendete er der Flüchtlingshilfe.[14]
Ab 1925 engagierte sich Nansen für das vom Genozid durch das Osmanische Reich während des Ersten Weltkriegs betroffene armenische Volk, das durch Inkorporation seines Territoriums in die Sowjetunion praktisch staatenlos war. Nansen, unterstützt vom späteren Nazi-Kollaborateur Vidkun Quisling, bemühte sich um die Eigenstaatlichkeit der Armenier auf dem Gebiet der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik.[160] Hier sollten 15.000 Armenier auf 360 km2 angesiedelt werden.[161] Der Plan, der konzeptionell als Wegbereiter des Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg gilt, scheiterte, da nicht genügend finanzielle Mittel aufgebracht wurden. Ungeachtet dessen genießt Nansen bei den Armeniern auch heute noch großes Ansehen.[14]
Auch abseits der Flüchtlingsfragen bezog Nansen im Völkerbund zu unterschiedlichen Themen Stellung. Er glaubte, dass die internationale Organisation auch für die kleineren Staaten wie Norwegen, „eine einzigartige Gelegenheit [ist], in den Ratsversammlungen dieser Welt vorzusprechen.“[162] und dass sich die Glaubwürdigkeit des Völkerbundes am Umfang der Abrüstung bemaß.[163] Nansen gehörte zu den Unterzeichnern des Sklavereiabkommens vom 25. September 1926. Darüber hinaus setzte er sich für die Aussetzung der deutschen Reparationszahlungen und für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund ein.[160]
Späte Lebensjahre und Tod
Am 17. Januar 1919 heiratete Nansen Sigrun Munthe (1869–1957), mit der er schon 1905 eine Liebesaffäre gehabt haben soll, als er mit seiner ersten Frau Eva verheiratet war. Diese Ehe wurde ihm von seinen Kindern verübelt und war obendrein unglücklich.[164] Seine Verpflichtungen für den Völkerbund ließen es kaum zu, dass er sich in Norwegen aufhielt. Obwohl seine wissenschaftlichen Tätigkeiten darunter litten, konnte er gelegentlich die Ergebnisse seiner Arbeiten der interessierten Öffentlichkeit präsentieren. Er spielte mit dem Gedanken an eine Flugreise zum Nordpol, konnte jedoch nicht genügend Gelder hierfür auftreiben.[165] Schließlich kam ihm Roald Amundsen zuvor, der gemeinsam mit Umberto Nobile am 12. Mai 1926 den Nordpol im Luftschiff Norge erreichte.[166] Zwei Jahre später hielt Nansen im Radio eine Gedenkansprache für seinen Landsmann, der bei einem Rettungsflug für den in Not geratenen Nobile ums Leben gekommen war, in der er sagte: „Er hat ein unbekanntes Grab unter dem klaren Himmel der eisigen Welt gefunden, mit dem Flügelschlag der Ewigkeit […].“[167]
1925 wurde Nansen als Nachfolger von Rudyard Kipling und erstem Ausländer die Ehre zuteil, für drei Jahre zum Lord Rector der University of St Andrews gewählt zu werden.[168] Seine Inaugurationsrede nutzte er für einen philosophischen Rückblick auf sein Leben und einen pathetischen Aufruf an kommende Generationen: „Wir alle suchen in unserem Leben nach dem Land der Verheißung – […] Es ist an uns, den Weg dorthin zu finden. Ein langer, möglicherweise harter Weg. […] Tief in unserem Wesen verwurzelt ist der Geist des Abenteuers, der Lockruf der Wildnis, der in all unseren Taten mitschwingt und unser Leben tiefgründiger, reicher und edler macht.“[169]
Er vermied es weitestgehend, sich in die norwegische Innenpolitik einzumischen. 1924 jedoch konnte ihn der vormalige Ministerpräsident Christian Michelsen dafür gewinnen, seinen guten Namen in den Dienst der Gründung der antikommunistischen Organisation Fedrelandslaget zu stellen, um dem zunehmenden Einfluss der damals marxistisch orientierten Arbeiderpartiet entgegenzuwirken. Bei einer Veranstaltung des Fedrelandslaget in der norwegischen Hauptstadt erklärte Nansen: „Über das Recht zur Revolution in einer Gesellschaft bürgerlicher Freiheit, uneingeschränkten Wahlrechts und Gleichbehandlung für Jedermann zu sprechen, [ist] idiotischer Unsinn.“[170]
Sofern es seine zahlreichen Verpflichtungen zuließen, fuhr Nansen im Winter in den Skiurlaub. Im Februar 1930 bemerkten zwei seiner Freunde während eines gemeinsamen Aufenthaltes in den Bergen, dass der inzwischen 68-jährige an frühzeitigen Ermüdungserscheinungen litt. Bei der Rückkehr nach Lysaker diagnostizierten die Ärzte eine Grippe, die später mit einer Venenentzündung einherging und ihn in den letzten Wochen seines Lebens ans Bett fesselte.[171][172] Schließlich starb Nansen in einem Liegestuhl auf dem Balkon oberhalb der Südterrasse seines Hauses Polhøgda sitzend mit Blick auf den Oslofjord am 13. Mai 1930 an einem Herzinfarkt.[173][174]
Nachwirkungen
Nansens Sarg wurde vor der Einäscherung im Rahmen eines Staatsaktes am 17. Mai 1930 im Säulenportal der Universität Oslo aufgebahrt. Erst im Frühjahr 1937 wurde der Familie vom Ministerium für Kirche und Bildung gestattet, dem testamentarisch verfügten Wunsch Fridtjof Nansens nachzukommen und die Urne im Garten seines Anwesens Polhøgda zu bestatten.[174] Seine Tochter Liv erinnerte sich, dass es bei der Zeremonie keine Grabreden gab, sondern nur Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen gespielt wurde, das zum Repertoire von Nansens Frau Eva gehörte.[175] Unter den zahlreichen Ehrbekundungen war auch die des britischen Völkerbundpräsidenten Lord Robert Cecil, der insbesondere an die unermüdliche Arbeit Nansens für die internationale Organisation erinnerte: „Jede gute Sache fand seine Unterstützung. Er war ein furchtloser Friedensstifter, ein Freund der Gerechtigkeit, ein ständiger Anwalt für die Schwachen und Leidenden.“[176]
Nansens Leistungen waren wegbereitend in den unterschiedlichsten Disziplinen. In jungen Jahren war er unmittelbar an der Modernisierung des Skifahrens hin zu einer weit verbreiteten Sportart beteiligt.[177] Seine hierbei erlangten Kenntnisse setzte er für seine Expeditionen ein, wodurch er die Techniken des polaren Reisens nachhaltig revolutionierte.[178] Auf ihn geht die Entwicklung des nach ihm benannten Nansenschlittens[179][180] und des später von der Firma Primus weiterentwickelten Kochers[181] zurück. Zudem gilt Nansen als Erfinder der mehrlagigen Funktionsbekleidung nach dem Zwiebelschalenprinzip, welche die bis dahin bei Polarreisen traditionell verwendete schwerfällige Wollbekleidung ablöste. In den Naturwissenschaften wird er als einer der Väter der modernen Neurologie[1] und als Vorreiter der damals noch jungen Ozeanographie angesehen.[182]
In seiner Zeit als Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen schuf er die Grundlagen für eine international anerkannte Rechtsstellung von Flüchtlingen.[183] Unmittelbar nach seinem Tod wurde das nach ihm benannte Internationale Amt für Flüchtlinge gegründet, um sein Werk fortzusetzen. Bedeutende Leistungen dieser Organisation waren die Ratifizierung eines von 14 Staaten anerkannten Flüchtlingsabkommens im Jahr 1933, die Wiederansiedlung von 10.000 Armeniern in der Stadt Eriwan und die Aufnahme weiterer 40.000 Menschen dieser Volksgruppe durch Syrien und den Libanon. Obwohl das Amt bei der Unterbringung von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland und des Spanischen Bürgerkriegs an Fragen der Zuständigkeit und am Widerstand potentieller Aufnahmestaaten kläglich scheiterte, wurde ihm im Jahr 1938, 16 Jahre nach Nansen, ebenfalls der Friedensnobelpreis zuerkannt,[184] was jedoch nicht die Auflösung der Organisation kurze Zeit später verhinderte. Die als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes 1945 gegründeten Vereinten Nationen verleihen jährlich seit 1954 den zunächst als Nansen-Medaille bezeichneten Nansen-Flüchtlingspreis. Die dotierte Auszeichnung wird durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen an Einzelpersonen oder Gruppen vergeben, „um deren außergewöhnliche Hingabe an den Flüchtlingsschutz zu würdigen“.[185]
Zu Lebzeiten und auch danach wurde Nansen mit Auszeichnungen und Ehrbekundungen überhäuft.[186] Straßen, Plätze, Schulen, Sportvereine und andere Organisationen im In- und Ausland tragen Nansens Namen. Auf dem Anwesen Polhøgda residiert seit 1958 das Fridtjof-Nansen-Institut, das sich mit globalen Umweltfragen und solchen zum Energie- und Ressourcenverbrauch auseinandersetzt.[187] Zudem wurden eine Reihe geographischer Objekte nach ihm benannt.[188] Zu ihnen zählen Mount Nansen im kanadischen Yukon-Territorium,[189] Mount Nansen und das Nansen-Eisfeld im antarktischen Viktorialand,[190] Mount Fridtjof Nansen im antarktischen Königin-Maud-Gebirge,[191] die Nansen-Insel an der Westküste der Antarktischen Halbinsel[190], sowie die der Taimyrhalbinsel vorgelagerte Nansen-Insel (russisch: Остров Нансена, transk.: Ostrow Nansena; 76°12'N, 94°45'O), die zu Franz-Josef-Land gehörige Nansen-Insel (80°18'N, 54°6'O), das Kap Nansen (72°09'N, 104°57'W) an der Ostküste der nordkanadischen Victoria-Insel[192] und ein entsprechendes (68°13'N, 29°25'O) an der Ostküste Grönlands,[193] das Nansen-Becken in der Grönlandsee und der Nansen-Gakkel-Rücken im Arktischen Ozean. Auch der Name des Asteroiden (853) Nansenia leitet sich von Fridtjof Nansen ab. Stralsund ist Heimathafen des 1991 zu einem Großtoppsegelschoner umgebauten Segelschiffs Fridtjof Nansen. Im Jahr 2004 wurde in der norwegischen Marine die erste von fünf Fregatten der Fridtjof-Nansen-Klasse in Dienst gestellt. Das Flaggschiff trägt den Namen Fridtjof Nansen, zwei weitere Schiffe wurden nach Roald Amundsen und Otto Sverdrup benannt.
Zitierte Literatur
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Weblinks
Commons: Fridtjof Nansen – Album mit Bildern und/oder Videos und AudiodateienWikiquote: Fridtjof Nansen – ZitateWikisource: Fridtjof Nansen – Quellen und Volltexte- Literatur von und über Fridtjof Nansen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Literaturliste des Fridtjof-Nansen-Instituts
- Fridtjof Nansen, Fotosammlung der Norwegischen Nationalbibliothek auf flickr.com
Einzelnachweise
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Fridtjof Nansen 1922 bis 1927 (Im Kommissariat des Völkerbundes) | Gerrit Jan van Heuven Goedhart, 1951 bis 1956 | August R. Lindt, 1956 bis 1960 | Felix Schnyder, 1960 bis 1965 | Sadruddin Aga Khan, 1965 bis 1977 | Poul Hartling, 1978 bis 1985 | Jean-Pierre Hocké, 1986 bis 1989 | Thorvald Stoltenberg, Januar bis November 1990 | Sadako Ogata, 1990 bis 2000 | Ruud Lubbers, 1. Januar 2001 bis 20. Februar 2005 (Rücktritt wegen interner Untersuchung) | Wendy Chamberlin, Februar bis Juni 2005 (interim) | António Guterres, seit Juni 2005
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